23. Mai 2014 Redaktion Sozialismus: Hintergründe des Ukraine-Konflikts
Rentenökonomie und Oligarchen
Innerhalb kurzer Zeit ist aus einer langjährigen innenpolitischen Auseinandersetzung in der Ukraine eine internationale Konfrontation in Europa entstanden.[1] Nach letztlich gewaltsamen Protesten ist in Kiew ein Übergang des bisherigen autokratisch-autoritären Regimes Janukowitsch[2] auf eine »Regierung der vereinigten Opposition«, die vorgezogene Neuwahlen von Präsident und Parlament organisieren sollte, gescheitert.
Russland hat den Umsturz und Regimewechsel nicht anerkannt und zugleich Vorbehalte gegen die neue Regierung unter Einschluss des »rechten Sekors«, der mit mehreren Ministerien an der Übergangsregierung beteiligt ist, geltend gemacht. Parlament und Regierung der Ukraine haben nach Amtsübernahme die institutionelle Neuordnung der Republik durch Neuwahlen auf die Tagesordnung gesetzt.
Zugleich ist durch den gesellschaftlichen Umbruch der ökonomische Niedergang beschleunigt worden. Durch die immer schärfere Auseinandersetzung um die gesellschaftlichen Ressourcen droht die Ukraine als ökonomische und politische Einheit zu zerbrechen.
Die Europäische Bank für Wiederaufbau und Entwicklung (EBRD) warnte im Mai 2014 auf ihrer Jahrestagung vor den Folgen für die Weltwirtschaft, falls Russland wegen der Ukraine-Krise in eine Rezession stürzen sollte. Zudem wachse die Sorge, ob der ukrainische Staat die Krise zu überleben vermöge. Der EBRD zufolge wird die Ukraine in diesem Jahr in eine tiefe Rezession abgleiten. Den Prognosen nach soll die Wirtschaftsleistung im laufenden Jahr 2014 um 7% schrumpfen. Die europäische Förderbank hatte dem Land noch im Januar ein Wachstum um 1,5% zugetraut. Selbst wenn die Ukraine sofort befriedet würde, aus eigener Kraft dürfte sie aus der Rezession kaum herauskommen. Die Wirtschaft stagniert seit zwei Jahren, sie hat sich nie mehr richtig von dem Crash 2009 erholt, als sie um fast 15% einbrach. Mit einer Pro-Kopf-Wirtschaftsleistung von unter 4.000 Dollar pro Jahr zählt das Land zu den Armenhäusern Europas. Für das kommende Jahr geht die EBRD bestenfalls von einer Stagnation aus. (Siehe Abbildung)
Der Internationale Währungsfonds (IWF) hat dem Mitgliedsland Ukraine einen weiteren Kredit von 17 Mrd. Dollar bewilligt; das Finanzpaket soll durch andere Gebernationen auf ca. 30 Mrd. Dollar ausgeweitet werden. Die EU hat hier bereits eine Zahlungsverpflichtung von einer Mrd. Euro übernommen. Der IWF sieht einen möglichen Zerfall der Ukraine kritisch. Sollte die Übergangsregierung in Kiew die Kontrolle über die Ost-Ukraine verlieren, müsse das Programm im Umfang von rund zwölf Milliarden Euro überarbeitet werden, heißt es in einem IWF-Bericht zu den Hilfskrediten. Angesichts des wachsenden Einflusses prorussischer Milizen im Osten des Landes gebe es beispiellose Risiken. Die industriellen Zentren im Osten der Ukraine sind für die Wirtschaft der früheren Sowjetrepublik von großer Bedeutung. Der Verlust der Ostukraine würde die Staatseinnahmen einbrechen lassen und die Investitionsperspektiven stark verschlechtern, warnte der Währungsfonds. Demnach stehen die östlichen Provinzen Donezk, Lugansk und Charkiw für mehr als 21% des ukrainischen Bruttoinlandsproduktes und 30% der Industrieproduktion.
Wirtschaftlicher Niedergang
Nach dem Zerfall der Sowjetunion ist das Bruttoinlandsprodukt (BIP) der Ukraine um ca. 60% gefallen. Erst 1999 erreichte das Land den Status von 1989. Die ukrainische Wirtschaft konnte sich nach der russischen Finanzkrise 1998 relativ schnell erholen und erreichte in den Jahren 2000 bis 2007 jährliche Wachstumsraten von ca. 7%. Entscheidender Grund des Wachstums war, dass Russland und ein Teil der Nachfolgestaaten von hohen Rohstoffpreisen profitierten. Durch die globale Finanzkrise von 2008 ist das Wachstum der Ukraine jedoch stark eingebrochen. Die Inflation zog von 12,8% (2007) auf 25,2% (2008) an und die Industrieproduktion ging um 32% zurück. Daher musste die Ukraine 2008 beim Internationalen Währungsfonds den bereits angesprochenen Kredit aufnehmen.
Einigkeit über den desaströsen Zustand der Ökonomie ist in allen politischen Lagern festzustellen. Die Ukraine ist dabei, in den Abgrund zu rutschen, sie befindet sich am Rande der Zahlungsunfähigkeit. Der Finanzminister des Landes, Juri Kolobow, unterstreicht die Einschätzung, dass die Ukraine Unterstützung in Höhe von 35 Mrd. US-Dollar (25,5 Mrd. Euro) braucht. Dies sei der Bedarf für das laufende und das kommende Jahr. Allerdings basiert diese Schätzung auf einer Fortführung der bisherigen Vereinbarungen über die Preise und Lieferungen von Gas aus Russland. Die Ukraine hat zurzeit Schulden in Höhe von 3,5 Mrd. Dollar beim russischen Gaslieferanten Gazprom. Das Unternehmen fordert von Kiew die Bezahlung von aufgelaufenen Rechnungen bis zum 2. Juni 2014. Die Ukraine erhielt jahrelang verbilligtes Gas aus dem Nachbarland; nach dem Sturz des prorussischen Präsidenten Wiktor Janukowitsch im Februar verlangt Moskau nun den vollen Preis. Unter der Voraussetzung der Wiederaufnahme der Zahlungen hat Russland Verhandlungen über einen Kompromiss aus Aussicht gestellt.
Die beiden drängendsten Probleme der ukrainischen Wirtschaft sind das Leistungsbilanzdefizit und das Haushaltsloch. Durch die Auseinandersetzungen der letzten Monate ist die gesellschaftliche Reproduktion ohne Zweifel weiter geschwächt worden. Die Strukturprobleme der Ökonomie existieren jedoch seit Längerem und bilden den Hintergrund für die politischen Konflikte. Ohne die schwärende Wirtschaftskrise hätte es die harten und gewaltsamen Auseinandersetzungen über den weiteren Entwicklungsweg des Landes nicht gegeben.
Logischerweise drückt der Niedergang der Ökonomie auch den Lebensstandard eines Großteils der Bevölkerung nach unten, wobei die Ukraine im europäischen Vergleich das Schlusslicht bei der Gewährleistung des Existenzminimums darstellt. Die außergewöhnliche Wachstumskonstellation bis 2008 spiegelt sich auch in der Lohnentwicklung, nicht aber in der Entwicklung der Mindesteinkommen.
Russland: drohende Rezession
Die ökonomischen Auswirkungen des Konfliktes greifen inzwischen auch auf Russland über. Dessen Wirtschaft steht kurz davor, in eine rezessive Abwärtsbewegung überzugehen. Die Kapitalflucht aus dem Land schwoll im ersten Quartal 2014 an, Unternehmen und Privatleute brachten in diesem Zeitraum so viel Geld aus dem Land wie im gesamten Jahr 2013 zuvor (64 Mrd. Dollar/47 Mrd. Euro). Dieser Trend dürfte anhalten. Die russische Wirtschaft wird laut EBRD 2014 nicht wachsen, im Januar ging die Bank noch von einem Plus von 2,5% aus. Die Stagnation soll auch im Jahr 2015 anhalten.
In diesem Jahr könnten bis zu 100 Mrd. Dollar Kapital aus Russland abgezogen werden. Auch das russische Finanzministerium warnte im Mai 2014 davor, dass das Land im zweiten Quartal in eine Rezession abgleiten könne. Das Wirtschaftswachstum hatte sich bereits in den vergangenen Jahren verlangsamt: 2013 legte das BIP um 1,3% zu – der niedrigste Wert seit der Rezession von 2008 und 2009. Und Präsident Putin hatte 5% angestrebt.
Ende April hat der IWF seine Prognose für das laufende Jahr von 1,3 auf 0,2% gesenkt. Russlands Wirtschaft ist im ersten Quartal 2014 auf Jahressicht lediglich um 0,9% gewachsen, wie die Daten der nationalen Statistik-Behörde zeigen. Die Wirtschaft steht unter Druck, weil die Investitionen stark nachgelassen haben und auch die Nachfrage der Verbraucher allmählich nachgibt. Auch die Sanktionen des Westens gegen Russland drücken das Wachstum. Allerdings ist die Wirtschaftsleistung im ersten Quartal 2014 immer noch besser als erwartet. Das Wirtschaftsministerium hatte mit einem Wachstum von nur 0,8% im ersten Quartal 2014 gegenüber dem Vorjahr gerechnet. Im vierten Quartal 2013 lag das Wachstum zum Vorjahreszeitraum noch bei 2%. Die Regierung erwartet, dass das Bruttoinlandsprodukt in diesem Jahr um 0,5% zunimmt. Falls die Kapitalflucht hoch bleibt, könnte die Wirtschaft in diesem Jahr gar um mehr als 1% nachgeben.
Die Weltbank bestätigt die negative Bewertung im Fall einer Eskalation des Ukraine-Konflikts. Bei einer weiteren Zuspitzung könne das russische BIP dieses Jahr sogar um 1,8% schrumpfen – wenn etwa die politischen Spannungen zunähmen, Investoren und Unternehmer von großer Unsicherheit erfasst würden sowie russische Banken und Firmen nur schwer an den globalen Kapitalmarkt gelangten. Internationale Handelssanktionen sind in diesem negativen Szenario noch gar nicht berücksichtigt. Im Fall einer positiveren politischen Entwicklung erwarten die Ökonomen der Weltbank ein BIP-Wachstum von 1,1%.
»Modernisierung« des Kapitalismus in Osteuropa?
Sowohl in der Ukraine als auch in Russland sind wir mit einem einer spezifischen Ausprägung der kapitalistischen Gesellschaft konfrontiert, die sich deutlich von den kapitalistischen Marktwirtschaften westlichen Typs unterscheidet. Im Chaos des Zerfallsprozesses der UdSSR setzte sich unter Jelzin im sowjetischen Nachfolgestaat Russland die Auffassung einer Transformation der so genannten Radikalreformer (etwa Jegor Gaidar und Anatoli Tschubais) durch. Sie sahen in der Massenprivatisierung des Staatseigentums und der »Schocktherapie« das Herzstück der Umwandlung von der zentralen Plan- zur Marktwirtschaft. Diese Transformation hat zur Herausbildung einer kapitalistischen Ökonomie geführt, die stark durch die Umverteilung so genannter Renten und die Überlagerung von Marktverhältnissen durch Machtverhältnisse und Korruption geprägt ist.
Die Ukraine und andere Nachfolgestaaten sind faktisch solche Rentenstaaten. Der weit überwiegende Teil des Staatseinkommens stammt aus der Ausbeutung und dem Verkauf von Rohstoffen für den Export. Typisch hierfür sind die Förderung und der Export von Öl und Erdgas. Die Marktbeziehungen und Ware-Geld-Verhältnisse werden durch Machtstrukturen überlagert, die Zusatz- oder Renteneinkommen ermöglichen. Die Kontrolle der Renteneinkünfte und der mangels eigener wirtschaftlicher Entwicklung notwendigen Importe von Lebensmitteln und Konsumgütern stellt für die Oligarchen die zentrale Quelle ihrer Bereicherung dar und sichert durch die Umverteilung eines Teils dieser Einkünfte in klientelistischen Netzwerken die Macht der Herrschenden. Die Zementierung eines gewissen Maßes an Unterentwicklung ist geradezu die Bedingung von Rentenökonomien.
Russland, die Ukraine und andere Nachfolgestaaten werden beherrscht von Dutzenden Finanz- und Industrieoligarchen, die auf politisch-gesellschaftlichen Machtstrukturen basieren. Neben der Aneignung gleichsam frei verfügbaren Kapitaleigentums im Transformationsprozess spielt vor allem die extraktive Industrie – Öl, Erze, Kohle – in der Herausbildung von politischen Machtzentren und der »Abzweigung von Renten« im gesellschaftlichen Umverteilungsprozess eine große Rolle.
In der Transformation zu kapitalistischen Marktwirtschaften übernahm ein Teil der Nomenklatura aus der Wirtschaft, dem Jugendverband Komsomol und der wissenschaftlich-technischen Intelligenz eine führende Rolle. Sie »erwarben« für ein paar Millionen (die ihnen seit Ende der 1980er Jahre aus der Staatsbank, dem Finanz- und Außenministerium oder Partei- und Komsomolkassen illegal zugewiesen worden waren) auf selbst inszenierten Insider-Auktionen das in mehreren Generationen akkumulierte Volksvermögen der Sowjetunion und schafften so teilweise den Sprung zum mehrfachen Milliardär. Die neuen Oligarchen erfüllten außerdem eine weltpolitische Funktion, die sehr im Interesse der westlichen Staatengemeinschaft lag. Sie demolierten, angeleitet von westlichen Beratern und in Kooperation mit zu Miteigentümern mutierten Parteifunktionären, die ökonomische Basis der ehemaligen Staatswirtschaft und machten damit die marktwirtschaftlich-kapitalistische Entwicklung Russlands unumkehrbar.
Wladimir Putin wurde im August 1999 zum Premierminister ernannt. Als Boris Jelzin Ende 1999 überraschend als Staatspräsident zurücktrat, nutzte Putin seine Machtmöglichkeiten, um den gesellschaftlichen Aktionsradius der Oligarchen einzuschränken, seine politischen Gegner auszuschalten und die Stellung des Staates in der Wirtschaft zu stärken. Er führte tiefgreifende Änderungen im politischen System durch und stärkte die autoritären Züge des Staatspräsidenten. Zielstrebig begann er nach den Wahlen im März 2000 konkurrierende Machtzentren zu schwächen und auszuschalten: Neben den mächtigen Gouverneuren waren dies in erster Linie die in der letzten Jelzin-Phase übermächtigen Oligarchen. Putin erhöhte den Druck auf die Oligarchen, in dem er öffentlichkeitswirksam Steuerbehörden und Ermittler auf die Konzerne ansetzte. Unmissverständlich machte er den Oligarchen deutlich, dass sie Probleme mit dem Staat bekommen würden, wenn sie weiterhin ihr Geld ins Ausland transferieren würden, ohne in Russland zu investieren. Sie sollten in den Industrieaufbau investieren und sich nicht politisch gegen Putin engagieren. Dann dürften sie auch ihre Industriebeteiligungen behalten, und Ermittlungen wegen dubioser Privatisierungen würden eingestellt.
Gezielt ging Putin gegen einige missliebige und mächtige Oligarchen vor und trieb sie durch Ermittlungen aller Art und Verhaftungen ins Exil oder in die Bedeutungslosigkeit. Andere Oligarchen passten sich – eingeschüchtert durch die praktizierten Exempel – an die neuen Bedingungen an. Die Modernisierung der oligarchischen Strukturen hat jedoch insgesamt nicht zur Etablierung einer kapitalistischen Ökonomie geführt, in der die auf den Grundstrukturen der Warenzirkulation basierenden Rechtsverhältnisse dominant sind.
Als Katalysatoren zur Heranbildung von politisch-ökonomischen Machtzentren fungieren zum einen die Deformationen im Transformationsprozess; zum anderen eröffnet auch der Abbau von Rohstoffen (Kohle, Gas, Öl etc.) eine Basis, um in den Nachfolgestaaten Machtzentren zur Aneignung und Verteilung ökonomischer »Renten« durchzusetzen. Studien der Osteuropabank zeigen, dass in Ländern mit einem gewichtigen Staatssektor nicht nur die Regierenden und die wohlhabende Oberschicht oft wenig Akzeptanz für Strukturen demokratischer Willensbildung zeigen. Zu beobachten ist auch, dass Arbeiter, die ihren Lohn vom Staat beziehen, gegenüber der Demokratie skeptischer eingestellt sind als Angestellte des Privatsektors oder Selbständige. Wer im Sold des Staates steht, hat von einer Beschneidung desselben mehr zu befürchten und toleriert daher auch eher undemokratische Machtverhältnisse. Wenig demokratische Regime leisten sich in der Regel denn auch einen besonders hohen Anteil von Beschäftigten im Staatssektor: In Aserbaidschan, Weißrussland und Usbekistan machen Staatsangestellte beispielsweise über 70% aller Beschäftigten aus; in Tadschikistan liegt die Quote bei über 60%.
Die Rolle der Oligarchen
In der westeuropäischen Öffentlichkeit wird die Aufladung dieser Entwicklung zu einer neuen Art der Systemkonfrontation überwiegend einem Rückfall der russischen wirtschaftlich-politischen Führung in altes Großmachtdenken zugeschrieben. Der Hinweis von »Putin- oder Russland-Verstehern«, auch die NATO und die EU hätten sich bei der Entwicklung einer gemeinsamen Sicherheitspartnerschaft und einer Kooperation mit Russland und den anderen GUS-Staaten nicht sonderlich ausgezeichnet, erfreut sich keiner großen Überzeugungskraft. Bundeskanzlerin Angela Merkel antwortet in der FAZ vom 16.5.2014 auf die Frage, ob der Westen im Umgang mit Putin und der Ukraine nicht auch Fehler gemacht habe: »Es sollte nicht vergessen werden, dass es der frühere ukrainische Präsident Janukowitsch war, der lange Zeit ein Assoziierungsabkommen mit der EU angestrebt hat. Erst in der letzten Minute ist er von der Unterzeichnung abgerückt, hat dies aber damals zu einem späteren Zeitpunkt weiter in Aussicht gestellt. Während der gesamten Zeit der Verhandlungen hat die EU immer wieder auch Kooperationsangebote an Russland gemacht. Es ist immer richtig, das eigene Handeln auch selbstkritisch zu überprüfen. Das ändert aber nichts daran, dass Russland keinerlei Rechtfertigung dafür hat, gegen die territoriale Integrität der Ukraine vorzugehen.«
Keine Frage: Die territoriale Integrität ist in der europäischen Nachkriegsordnung ein hohes, völkerrechtlich abgesichertes Gut. In den letzten Jahrzehnten wurde das wirtschaftliche und politische System der Ukraine – ähnlich wie in Russland und anderen Nachfolgestaaten – durch die Macht einer Reihe von Oligarchen geprägt, von denen ein Teil – nicht zuletzt wegen der wirtschaftlichen Strukturen ihrer Unternehmensreiche – eher nach Russland ausgerichtet war, während andere die weitere Zukunft in einem Anschluss an die EU suchten. Die letzten Jahre dominierte in der Ukraine die »Partei der Regionen« mit dem »System Janukowitsch«. Durchgesetzt wurde die spezifische Herrschaftsform gegen den Clan um Frau Timoschenko, die durch undurchsichtige Gas-Geschäfte in den 1990er Jahren viel Geld verdient hatte. Die von ihr geführte rechtsnationalistische Vaterlandspartei wurde in Wahlen durch Janukowitsch geschlagen und Timoschenko in einem wenig rechtsstaatlich geprägten Verfahren wegen Korruption verurteilt. In der Übergangsregierung hat die Vaterlandspartei erheblichen Einfluss auf einige Regionen, Übergangspräsident Oleg Turtschinow gilt als ihr loyaler Vertreter, ähnlich wie der Übergangschef der Regierung, Arsenij Jazenjuk.
Im Osten der Ukraine ist der eigentlich starke Mann Rinat Achmetow, der reichste Oligarch des Landes und Herr über ein riesiges Geschäftsimperium in der Region. Achmetow ist Eigentümer der Holding System Capital Management (SCM), zu der Stahlwerke und Kohleminen gehören wie Investmentfirmen, landwirtschaftliche Fabriken und Medienbetriebe. Es ist ein undurchsichtiges Geflecht aus mehr als 30 Unternehmen. Sein Vermögen schätzte das US-Wirtschaftsmagazin »Forbes« 2013 auf umgerechnet 13,7 Milliarden Euro.
Allein sein Kohle- und Stromerzeuger DTEK beschäftigt 140.000 Leute (insgesamt arbeiten in seinen Betrieben 300.000 Menschen), kontrolliert knapp die Hälfte des gesamtukrainischen Kohlemarktes, deckt ein Drittel der ukrainischen Stromproduktion und 40% der Verteilerkapazitäten. 23,47 Milliarden Dollar setzte SCM im Jahr 2012 um. Seit 2006 sitzt Achmetwo für Janukowitschs »Partei der Regionen« im Landesparlament. Faktisch hat er den Rückzug bzw. die Flucht von Janukowitsch durchgesetzt, der wegen seiner maßlosen Bereicherung an öffentlichen Finanzmitteln in Höhe von rund 200 Mio. Euro politisch die Legitimation weitgehend verloren hatte. Wie andere ukrainische Oligarchen besitzt Achmetow einen Fernsehsender sowie Zeitungen. Achmetow sieht durch den prorussischen Aufstand in der Ostukraine seinen Status als Quasi-Feudalherr im Donbass gefährdet. In den vergangenen Wochen veröffentlichte er mehrfach Erklärungen, in denen er die Einheit der Ukraine anmahnte, inzwischen hat er offen zum Widerstand gegen die prorussischen Rebellen im Osten aufgerufen. Zuvor war der Oligarch, den die FAZ (vom 21.5.2014) als »Paten« titulierte, »der seit dem Ende der Gangsterkriege in den 90er Jahren das Donbass dominiert hat und der in der Hauptstadt Kiew Präsidenten auf- und wieder abbaute wie Legofiguren«, der OECD-Einladung zu einem runden Tisch gefolgt.
Die faktische Konsolidierung der ukrainischen Oligarchen in Kooperation mit dem Westen ist bemerkenswert – nicht nur, weil die EU und die Führung der Berliner Republik einen Kompromiss mit antidemokratischen und rechtstaatliche Prinzipien missachtenden Kräften eingeht. Mit dieser Kooperation von politischen Führungskräften des Westens und ukrainischen Oligarchen wird zugleich das Ziel der ursprünglichen Massenproteste auf dem Majdan delegitimiert, mit denen die Ukraine von den dunklen Machenschaften der Oligarchen befreit werden sollte.
[1] Exemplarisch Ex-Kanzler Helmut Schmidt in der BILD-Zeitung vom 16.5.2014: »Ich halte nichts davon, einen dritten Weltkrieg herbeizureden, erst recht nicht von Forderungen nach mehr Geld für Rüstung der Nato. Aber die Gefahr, dass sich die Situation verschärft wie im August 1914, wächst von Tag zu Tag.«
[2] Der gestürzte Präsident Wiktor Janukowitsch konnte sich durch seine korrupten Machenschaften ein Vermögen von geschätzten 200 Mio. Euro aufbauen. Dieses Vermögen ist weitgehend auf ukrainisches Staatseigentum zurückzuführen. Viele Immobilien gingen in das Privateigentum über und wurden auf Staatskosten luxuriös renoviert und verkauft.