14. Juni 2022 Redaktion Sozialismus.de: Die 12. WTO-Ministerkonferenz in Genf

Reorganisation der Weltwirtschaft durch die WTO?

Foto: WTO/Xinhua

Die Ministerkonferenz ist das oberste Gremium der Welthandelsorganisation (WTO). Sie hat seit vier Jahren nicht mehr getagt. Normalerweise wird sie alle zwei Jahre abgehalten. Bei dem aktuellen Treffen in Genf sollen dringliche Probleme (Überfischung und Corona-Impfstoffe) gelöst und insgesamt die WTO wiederbelebt werden.

Denn die Welthandelsorganisation ist seit einiger Zeit in einem schlechten Zustand: Die Handelskriege des früheren amerikanischen Präsidenten Donald Trump, die offen zutage getretene Rivalität zwischen den USA und China, die Pandemie und nun die russische Invasion in der Ukraine haben der Globalisierung und der Genfer Institution zugesetzt. Substanzielle Abkommen sind in der auf Konsens beruhenden Organisation mit 164 Mitgliedern seit längerer Zeit schwierig zu erreichen. Konsens bedeutet, dass ein einziges Mitglied den Entscheidungsprozess blockieren kann. Zudem haben die Vereinigten Staaten den Streitschlichtungsmechanismus der WTO weitgehend außer Kraft gesetzt.

Die Generaldirektorin der Organisation, Ngozi Okonjo-Iweala, ist »vorsichtig optimistisch«, dass die Ministerkonferenz insgesamt in ein oder zwei Bereichen Ergebnisse erzielt. Es stehe aber ein holpriger und steiniger Weg bevor. Die Minister und ihre Delegationen sollen bis Mittwoch über die vorübergehende Aussetzung von geistigen Eigentumsrechten auf Impfstoffe gegen Covid-19 beraten. Arme Länder versprechen sich davon eine Ankurbelung der Vakzin-Produktion für ihre Bevölkerung. Weiter auf der Agenda stehen ein Verbot schädlicher Subventionen für die Fischerei, die globale Ernährungskrise, die Liberalisierung von Agrarmärkten, Hilfen für die ärmsten Länder sowie eine Reform der WTO.

Die Verhandlungen über die Abschaffung von Fischereisubventionen laufen seit mehr als 20 Jahren. Ein entsprechendes Abkommen wäre die erste multilaterale Vereinbarung seit längerem. Mehr als 30% der Fischbestände auf der ganzen Welt sind überfischt. Mitverantwortlich an diesem Zustand sind staatliche Fischereibeihilfen, die sich im Jahr 2018 auf rund 35 Mrd. US-Dollar beliefen. Davon gehen zwei Drittel an kommerzielle Fischer*innen. Ohne diese Subventionen wären einige Fischfangflotten wirtschaftlich nicht rentabel. Die größten Nutznießer dieser Subventionen sind China mit gut sechs Mrd. US-Dollar sowie Japan und die EU mit jeweils zwei Mrd. US-Dollar.

Der Streit um die Fischereisubventionen steht für einen klassischen Vorwurf an die WTO: Ihre Regeln und Schiedsgerichte würden sich nur an Produktionskosten orientieren. Umweltmaßahmen könnten als unzulässige Subvention interpretiert werden, die Auswirkungen auf Mensch, Natur und Klimaerwärmung würden ausgeblendet. Tatsächlich haben die WTO-Schiedsgerichte jedoch in einzelnen Fällen angefangen, Umweltaspekte zu berücksichtigen. Ein Fischereiabkommen wäre der erste Ansatz, diese systematischer in die Handelspolitik einzubeziehen.

Der russische Angriffskrieg hat Auswirkungen auf die Versorgung der Welt mit Nahrungsmitteln, weil Russland und die Ukraine gewichtige Exporteure von Weizen, Sonnenblumenöl oder auch Düngern sind. Über 40 Staaten haben auf den Preisanstieg bei Agrargütern als Folge bereits mit nationalen Exportverboten reagiert.

Bei der Ministerkonferenz werden Vorlagen über die Landwirtschaft allgemein, über Handel und Versorgungssicherheit und das Welternährungsprogramm diskutiert. Laut einem Vorschlag sollen Exportrestriktionen für humanitäre Nahrungsmittellieferungen abgeschafft werden. Was einleuchtend klingt, kann sich gleichwohl keiner Mehrheit sicher sein. Manche Länder sorgen sich um die Auswirkungen auf die eigene Versorgungssicherheit.

Ebenfalls in Genf wird die von Indien und Südafrika geforderte Patentfreigabe verhandelt. Sie soll die Produktion von Covid-19-Impfstoffen in Entwicklungsländern zu günstigen Preisen für den Export in andere Entwicklungsländer ermöglichen. Die Chefinnen des Internationalen Währungsfonds (IWF), Kristalina Georgieva, und des Gemeinsamen Programms der Vereinten Nation für HIV/Aids UNAIDS, Winnie Byanyima, haben wiederholt darauf hingewiesen, dass es in den Entwicklungsländern mindestens 100 renommierte Institute und Unternehmen gibt, die bei entsprechenden Technologietransfer schnell eine Produktion von mRNA-Impfstoffen auf die Beine stellen könnten.

Insbesondere Deutschland, Großbritannien und die Schweiz sträubten sich lange dagegen. Die USA würden eine befristete Freigabe für Impfstoffe mittragen. »Ärzte ohne Grenzen« und andere entwicklungspolitische Organisationen sehen die EU-Vorlage zum Thema jedoch extrem kritisch: Der Vorschlag beziehe sich lediglich auf Impfstoffe, lasse Tests und Medikamente außen vor und würde nur für eine stark eingeschränkte Anzahl von Ländern gelten. Außerdem umfasse er nicht alle geistigen Eigentumsrechte oder einen Technologietransfer, sondern beschränke sich auf Patente im engsten Sinn.

Schließlich muss die WTO dringlich reformiert werden. Denn die Besetzung der Richterposten bei der WTO wird schon seit einigen Jahren durch die USA blockiert. Viele Expert*innen und Handelsdiplomat*innen setzen derzeit auf sogenannte plurilaterale Abkommen. Diese gelten innerhalb des WTO-Systems als – umstrittener – Königsweg, um multilaterale Blockaden zu überwinden.

Der Welthandel leidet zwar unter gestörten und veränderten Lieferketten, aber die Internationalisierung geht weiter, wenn auch etwas anders als in den letzten 30 Jahren. Zentral für die Zukunft der WTO ist, mit welchem Ergebnis die Verhandlungen über eine Reform der Schiedsgerichte enden. Die USA haben ein paar Mal vor den WTO-Schiedsgerichten nicht nur gegen die EU, sondern auch gegen kleine Entwicklungsländer verloren, und blockieren schon seit der Präsidentschaft Barack Obamas die Wiederbesetzung der Richterposten.

Allerdings hat sich ein Drittel der WTO-Staaten (darunter die EU und China) zusammengetan und Ersatzgerichte geschaffen, deren Urteile sie auch anerkennen wollen. Solche plurilateralen Abkommen sind eigentlich nicht WTO-konform, aber es gibt sie für immer mehr Bereiche. Ein erfolgreicher Abschluss (durch konkrete Abkommen, Beschlüsse oder gemeinsame Erklärungen) der aktuellen 12. WTO-Konferenz wäre wichtig, einmal für die Existenzberechtigung der WTO als solches, aber auch als Indiz für die Handlungsfähigkeit multilateraler Organisationen insgesamt.

Zu Recht fordert Bundeswirtschaftsminister Robert Habeck (Grüne), mehr Handelsabkommen multilateral umzusetzen – unter stärkerer Berücksichtigung von Klima-, Arten- und Arbeitsschutzzielen. Nach seiner Einschätzung muss die bislang vor allem von Wachstums- und Profitinteressen getriebene Globalisierung fairer und nachhaltiger werden – eine Abschottung ist nach seinen Worten hingegen keine Lösung. Die Welt stehe an einem Scheitelpunkt der Globalisierung, es müssten neue Ansätze gefunden werden, um die Weltwirtschaft zu reorganisieren.

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