17. März 2021 Otto König/Richard Detje: Proteste in Haiti werden zum landesweiten Aufstand

Revolte im karibischen Armenhaus

»Haiti ist das einzige Land auf der Welt, in dem sich die Sklaven gemeinsam erhoben haben und eine Nation gründeten. Die Bevölkerung hat im Kampf gegen die Ideen der Moderne gesiegt, gegen den Kolonialismus und die Sklaverei«, so Henry Boisrolin, Koordinator des Demokratischen Komitees in Haiti (NPLA 23.11.2019).[1]

Im »Armenhaus der Karibik« kämpfen Haitianer heute ein weiteres Mal für die Befreiung von einer politischen Klasse, die die Bevölkerung auf dreiste Weise beraubt. Von den internationalen Medien weitgehend ignoriert haben die im vergangenen Herbst begonnenen Proteste gegen die Regierung von Präsident Jovenel Moïse sich zu einem landesweiten Aufstand ausgeweitet. Es sind vor allem junge Leute, die fast täglich demonstrieren, Hauptstraßen mit Barrikaden blockieren. Mehr als die Hälfte der elf Millionen Haitianer:innen sind unter 24 Jahre alt. Sie und die politische Opposition verlangen den Rücktritt des Präsidenten wegen massiver Korruption und fordern die Einberufung einer verfassungsgebenden Versammlung.

Vordergründig hat der Streit zwischen dem rechtsliberalen Moïse und der Opposition über dessen Mandatsdauer als Präsident zur jüngsten Krise im Land geführt. Die Wahlen 2015, bei denen Moïse als Kandidat der »Parti Haitien Tèt Kale« (»Partei der Glatzköpfe«) die meisten Stimmen erhielt, mussten nach Betrugsvorwürfen im November 2016 erneut abgehalten werden. Den Bananen-Unternehmer, der den Segen der heimischen Elite und der US-Botschaft hatte, wählten nur knapp 18% der Haitianer:innen, die Wahlbeteiligung lag bei 25%. Der Präsident trat am 7. Februar 2017 sein Amt an und rechnet seine fünfjährige Amtszeit ab diesem Zeitpunkt.

Die Opposition – Gewerkschaften, Menschenrechtsorganisationen, die Anwaltskammer, die katholische Kirche, Jesuiten und Evangelikale – hingegen sieht die Amtszeit seit Februar dieses Jahres als beendet an. Am 6. Februar urteilte der Oberste Gerichtshof Haitis ebenfalls, dass Moïses Mandat am darauffolgenden Tag endet. Die Richter rechneten in die fünfjährige Amtszeit das Jahr 2016 mit ein, in dem wegen der Wiederholung der Wahl ein Interims-präsident die Amtsgeschäfte tätigte. Statt dieser höchstrichterlichen Entscheidung zu folgen, ließ der »De-facto«-Präsident einen der Obersten Richter verhaften.

Der Wahlkommission (Conseil Électoral Provisoire, CEP) zufolge sollen die Präsidentschafts- und Parlamentswahlen in einer ersten Runde am 19. September und in einer zweiten Runde am 21. November 2021 stattfinden. Am 22. Januar 2022 würden dann der neue Präsident und das neugewählte Parlament feststehen. Während die internationale Gemeinschaft, die »Core Gruppe«,[2] in der u.a. die UN, die USA, Kanada, Frankreich und Deutschland vertreten sind, diesem Vorschlag folgt, geht die Opposition davon aus, dass der Präsidenten sich nicht daran halten werde. Grund dafür hat sie. So hat Moïse auch die 2019 fällige Parlamentswahlen nie anberaumt. Seit einem Jahr regiert er ohne parlamentarische Kontrolle per Dekret. Für Misstrauen sorgt zudem, dass er vor den Wahlen noch die Verfassung verändern will, mit dem Ziel, die Stellung des Präsidenten zu stärken und die Wehrpflicht wieder einzuführen – ein heikles Thema in einem Land, in dem die Gräuel der Militärdiktaturen tief im Gedächtnis der Menschen verankert sind.

Die Plattform »Secteur démocratique et populaire« (Demokratie- und Volkssektor), auf der sich Oppositionsparteien und Gruppen der Zivilgesellschaft zusammengeschlossen haben, fordert seit letztem Jahr den bedingungslosen Rücktritt von Moïse, einen Antikorruptionsprozess und einen tiefgreifenden Wandel des politischen und ökonomischen Systems. Mehrere Oppositionsparteien und -organisationen haben mittlerweile den Richter des Obersten Gerichtshofes, Joseph Mécène Jean Louis, als Übergangspräsidenten eingesetzt, dessen Mandat für eine Übergangszeit von 24 Monate gelten soll, in der eine neue Verfassung beraten und verabschiedet sowie Neuwahlen für das Parlament und das Präsidentenamt abgehalten werden sollen.

Die Ernennung Mécènes wurde bisher von keiner internationalen Organisation oder nationalen Regierung anerkannt. Die Organisation Amerikanischer Staaten (OAS), die sich in Lateinamerika vor allem durch ihre feindliche Haltung gegen linke Regierungen hervortut, stützt Moïses Standpunkt, dass sein Mandat noch ein weiteres Jahr andauert. Und in Washington erklärte der neue Sprecher des US-Außenministeriums, Ned Price, dass »ein neu gewählter Präsident die Nachfolge von Präsident Moïse antreten sollte, wenn seine Amtszeit am 7. Februar 2022 endet«. Die Wut der Haitianer:innen richtet sich daher nicht nur gegen Moise, sondern auch gegen die Core Gruppe. »Die internationale Gemeinschaft spielt in Haiti ein heuchlerisches Spiel. Sie predigt Demokratie und Entwicklung, stützt und finanziert mit ihrem Geld aber eine korrupte Elite, die diese Ziele hintergeht«, sagt Ronald Joseph, Politologe an der Universität Quisqueya in Port-au-Prince (Deutsche Welle, 14.2.2021).

Ein Beispiel für Joseph ist die Handelsliberalisierung zwischen Haiti und den USA in den 1980/90er Jahren. Diese hat die haitianischen Landwirte in den Ruin und die Bevölkerung in die Abhängigkeit von US-Lebensmittelimporten getrieben. »Haiti produziert nicht, Haiti ist ein Markt«, auf diese kurze Formel bringen es haitianische Ökonomen, wenn sie die Ergebnisse dieser Entwicklungsstrategie zusammenfassen. Die Produktivität ging immer weiter zurück, Ansätze industrieller Entwicklung sind verschwunden, Landwirtschaft wird nicht mehr für lokale Märkte, sondern allenfalls noch zur Subsistenz betrieben, die Wirtschaft ist weitgehend informalisiert. »Einkommen sind nur noch im überwiegend informellen Vertrieb der importierten Waren zu erzielen – oder eben per Überweisung durch Familienangehörige aus dem Ausland. Durch Importabhängigkeit und Inflation kommen die Bevölkerungsgruppen massiv unter Druck, die kein Geld aus dem Ausland erhalten. Und das sind vor allem diejenigen mit ohnehin besonders niedrigen Einkommen«.[3]

Die Ursachen für die aktuellen Massenproteste sind also tiefgreifender. Erstens war Haiti schon im Juli 2018 Schauplatz von Protesten gegen Preiserhöhungen bei Kraftstoffen aufgrund einer zwischen der Regierung und dem Internationalen Währungsfonds (IWF) ausgehandelten Vereinbarung, die unter dem Vorwand, das Haushaltsdefizit zu verringern und die »Wirtschaft zu stabilisieren«, darauf abzielte, die Subventionen für Mineralölerzeugnisse abzuschaffen. Die vom IWF verordnete »Anpassungsmaßnahme« bedeutete eine Preiserhöhung bei Benzin von 38%, bei Diesel von 47 und von 51% bei Kerosin – mit Auswirkungen auf Transportkosten und die ohnehin hohen Lebenshaltungskosten. So wird Kerosin von der Mehrheit der Bevölkerung zur Beleuchtung ihrer Häuser benutzt, da sie keinen Anschluss ans Stromnetz haben. Die Reaktion: Zwischen dem 6. und 8. Juli 2018 gingen rund 1,5 Millionen Menschen auf die Straße und erzwangen die Rücknahme der Maßnahme sowie den Rücktritt des damaligen Premierministers Jack Guy Lafontant.

Zweitens brachte die Aufdeckung eines der schwersten Korruptionsskandale in der Geschichte des Landes die Wut der Menschen auf den Siedepunkt. In einem vom Obersten Rechnungshof 2019 veröffentlichten Bericht sollen sich Moïse und eine kleine Gruppe privater Unternehmer und Regierungsmitglieder an verschwundenen Petrocaribe-Geldern in Milliardenhöhe bereichert haben (Portal Amerika 21, 31.10.2019). Das »Petrocaribe-Abkommen« ist ein von der venezolanischen Regierung unter Hugo Chávez 2005 geschaffenes Strukturförderungsprogramm, mit dem den Ländern der Karibik Erdöl zu Vorzugspreisen für einen nicht allzu teuren Kredit zum Weiterverkauf zur Verfügung gestellt wurde. Über vier Milliarden US-Dollar Hilfsgelder zahlte Venezuela dem karibischen Verbündeten seit 2009. Sie sollten in Bauvorhaben in der Infrastruktur sowie in Wirtschafts- und Sozialprojekte investiert werden. Jedoch haben mehrere bisher durchgeführte Wirtschaftsprüfungen es nicht geschafft, den Verbleib von 3,8 Milliarden US-Dollar aus diesem Fonds aufzuklären

Drittens brachte die Energiekrise, die im September 2019 einsetzte, das Fass zum Überlaufen. Petrocaribe konnte aufgrund der US-Sanktionen gegen Venezuela Haiti kaum noch mit Erdöl beliefern. Hinzu kam, dass auf Druck der Internationalen Staatengemeinschaft Haitis Regierung einen außenpolitischen Schwenk vollzog und der sozialistischen Regierung der Bolivarischen Republik die Anerkennung entzog. Der dadurch entstandene Treibstoffmangel befeuerte die Inflation zusätzlich und führte zur vorübergehenden Schließung von Schulen, Störungen im Gesundheitswesen sowie zur Einstellung der Produktion in Fabriken und Kleinbetrieben. Der Mix aus Energiekrise, Währungsabwertung mit der Folge steigender Importpreise sowie ein Lohnstopp verschlechterte für 80% der Bevölkerung die ohnehin miserablen Lebensbedingungen.

Zwei Drittel der Haitianer leben von weniger als zwei US-Dollar am Tag. Das jährliche Pro-Kopf-Einkommen liegt bei 350 US-Dollar und die Inflation bei 19%. Aus einer neuen Studie der Vereinten Nationen geht hervor, dass sich die Ernährungslage extrem verschlechtert hat. 35% der Bevölkerung sind demnach auf Nahrungsmittelhilfe angewiesen. Ein Fünftel der Kinder sind chronisch unterernährt. Die wirtschaftliche und soziale Situation verschärfte sich zusätzlich, da infolge der Corona-Pandemie viele haitianische Migrant:innen im Ausland ihre Arbeitsplätze verloren haben und die Geldtransfers an Angehörige um 20% eingebrochen sind. Diese Überweisungen machten etwa 30% des Bruttoinlandsproduktes aus.[4] Die Vermögenswerte des Landes befinden sich in den Händen weniger superreicher Familien. Im UN-Entwicklungsindex belegt der karibische Staat Platz 168 von 189 Ländern, noch hinter dem Sudan und Afghanistan.

Verschärft wird die schwere soziale Krise durch gewalttätige Angriffe, Massaker, Entführungen, Morde an Oppositionellen durch kriminelle Banden, gedeckt durch staatliche Macht und ein Justizsystem, das die Verantwortlichen nicht strafrechtlich verfolgt, wie Ermittlungen internationaler Menschenrechtsorganisationen belegen. »Wir haben Todesgeschwader, eine Form des Staatsterrorismus«, so Marie Yolene Gilles, Vorsitzende der haitianischen NGO Fondasyon Je Klere. Die »Makoutisierung« des Staates ist in vollem Gange, wie der Schriftsteller Lyonel Trouillot seit längerem postuliert. Er bezieht sich damit auf die sogenannten tontons-macoutes (»Onkel Umhängesack«), jene Paramilitärs unter Diktator François Duvalier (1957 bis 1971), auch Papa »Doc« genannt, die den Terror im Land organisierten.

Zu hoffen ist, dass die Proteste erfolgreich sind und das Land aus einem Martyrium befreien können.

Anmerkungen

[1] Haiti umfasst den westlichen Teil der Insel Hispaniola in der Karibik. Der Ostteil wird von der Dominikanischen Republik eingenommen. Die etwa elf Millionen Einwohner sind zum großen Teil subsahara-afrikanischer Abstammung. Die Karibik­insel war als Saint-Domingue der Ausgangspunkt der Eroberung und Kolonisierung Lateinamerikas. Mit Haiti, der reichsten Kolonie Frankreichs, begann zudem der Sklavenhandel, der sich nahtlos in die koloniale Vorstellung von der Überlegenheit der Weißen einfügte. In der letzten großen Schlacht des Unabhängigkeitskrieges und der Revolution von Vertieres wurden am 18. November 1803 die französischen Truppen von den haitianischen Rebellen endgültig geschlagen, die Unabhängigkeit der Nation gesichert.
[2] Nach dem gewaltsamen Sturz von Präsident Jean-Bertrand Aristide durch eine US-Intervention wurde im Jahr 2004 vom Sicherheitsrat der Vereinten Nationen die »Stabilisierungsmission der Vereinten Nationen für Haiti (Minustah)« mit den Zielen gebildet, »das Land zu stabilisieren, zu befrieden und Gruppen von Guerilleros und Kriminellen zu entwaffnen, freie und informierte Wahlen zu fördern sowie die institutionelle und wirtschaftliche Entwicklung Haitis zu unterstützen«. Die Liste der Verfehlungen und Skandale der UN-Truppe, deren Einsatz nach den 13 Jahren im Oktober 2017 beendet wurde, ist lang: Gewalt in Armenvierteln, sexueller Missbrauch und eine eingeschleppte tödliche Cholera-Epidemie durch nepalesische Soldaten. Es wurde eine kleinere UN-Nachfolgemission zur Unterstützung der Justiz in Haiti (MINUJUSTH) mit einem Mandat zur »Stärkung von Rechtsstaatlichkeit, Polizeientwicklung und Menschenrechten sowie von guter Amtsführung und Förderfunktionen« etabliert. Diese Mission sollte zunächst für einen Zeitraum von sechs Monaten vom 16. Oktober 2017 bis zum 15. April 2018 eingerichtet werden, wurde aber bis 2019 verlängert.
[3] Alexander King: Entwicklung durch Auswanderung? Der Fall Haiti, Nachdenkseiten 4.5.2019.
[4] Die Zahl der im Ausland lebenden Haitianer wird auf 2 Millionen geschätzt. Lebten 1960 gerade mal 5000 Haitianer:innen in den USA, waren es 2015 bereits 676.000.

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