16. Juli 2021 Otto König/Richard Detje: NATO verständigt sich auf neue Feindbilder

Rhetorische und reale Aufrüstung

Die Staats- und Regierungschefs der NATO, jenem »hirntoten« Militärbündnis (Emmanuel Macron), das beim Versuch, »die Freiheit des Westens am Hindukusch« zu verteidigen, gescheitert ist, verständigten sich bei ihrem Gipfeltreffen am 14. Juni 2021 in Brüssel auf neue Gegner.

Geradezu euphorisch huldigten sie in der »America is back«-Strategie des US-Präsidenten Joe Biden und seinen Bekenntnissen zur »westlichen Wertegemeinschaft«. Einmal mehr untermauerte der NATO-Gipfel, dass sich fast alle zukünftigen Planungen auf die immer rabiater ausgetragene Großmachtkonkurrenz mit Russland und nun auch auf China konzentrieren.

Auch im Weltraum und im Cyberspace sollen die »Werte des Westens« verteidigt werden. Die nordatlantische Allianz werde im Indopazifik Flagge zeigen, in enger Zusammenarbeit mit den asiatisch-pazifischen Verbündeten wie Australien, Japan und Süd-Korea. Und in der euro-atlantischen Region stellten Moskaus »aggressive Handlungen« eine Bedrohung für die Sicherheit dar, so NATO-Generalsekretär Jens Stoltenberg kurz vor dem 80. Jahrestag des Überfalls der deutschen Wehrmacht auf die Sowjetunion. Mit dem »Unternehmen Barbarossa« begann die zentrale Phase des mörderischsten Krieges der Menschheitsgeschichte, dem allein auf dem Gebiet der Sowjetunion mehr als 27 Millionen Menschen zum Opfer fielen, darunter mindestens 14 Millionen Zivilisten.

»Zu einem bewussten Umgang mit dieser Vergangenheit gehört auch (…) eine weitere Vertiefung der europäischen Integration«, erläuterte der deutsche Außenminister Heiko Maas. Konkret bedeutet das: Ausdehnung von EU und NATO bis an die russische Westgrenze, Militärmanöver wie »Defender Europe 2020«,[1] bei denen deutsche Soldaten wieder von den Kommandoständen deutscher Panzer auf Russland blicken oder am 20. April dieses Jahres »ein Geburtstagsständchen« für Adolf Hitler anstimmten, wie beim deutschen Kontingent in der litauischen Battlegroup in der Kaserne in Rukla geschehen.

In einem Aufruf zum 22. Juni heißt es zu Recht: »Es ist Teil der Verantwortung unserer Generation, dass niemand diese Gräueltaten je vergessen oder relativieren darf. Denn zur Geschichte Europas gehört auch, dass die Sowjetunion unter großen Opfern den Faschismus besiegt und Deutschland von dieser Ideologie befreit hat. Zur Geschichte des deutsch-russischen Verhältnisses gehört ebenso, dass die Sowjetunion und ihr Rechtsnachfolger Russland maßgeblich die Wiedervereinigung Deutschlands und ein Ende des Kalten Krieges ermöglicht haben. (…) Verlasst die mentalen Gefängnisse der Feindbilder, Ressentiments und Ängste!« (Das Blättchen, 22.6.2021) Statt »Bashing« wäre mehr Dialog mit Russland und die Suche nach gemeinsamen Wegen im europäischen Haus angesagt.

Auch Joe Biden rüstete in Brüssel rhetorisch auf. Das Bündnis soll künftig nicht mehr nur dazu da sein, Europa zu verteidigen und Russland abzuschrecken. Die transatlantischen Bündnispartner sollen sich auch Asien und dem Pazifik zuwenden, um China im Zaum zu halten. Im Machtkampf mit Beijing gehe es um nichts Geringeres als »den Sieg im 21. Jahrhundert«. Russland und China würden sich nicht an die »regelbasierte demokratische Ordnung halten«, lautete seine Botschaft an die Europäer.

Der ehemalige Vorsitzende des NATO-Militärausschusses, Klaus Naumann, hatte schon vor einiger Zeit erklärt, was er – und seine NATO-Kollegen – darunter verstehen: »Da ist einerseits das westliche Modell einer regelbasierten demokratischen Ordnung, in der die Macht der Gesetze die Macht der Mächtigen einhegt und in welcher der Einzelne jenen Schutz genießt, der in der Erklärung der Menschenrechte verankert ist. Und da ist andererseits das chinesische Modell, das Präsident Xi Jingping auf dem letzten Parteikongress als das neue Modell der Weltordnung anpries… Diese beiden Modelle werden miteinander konkurrieren, weil sie aus einem einfachen Grund nicht miteinander in Einklang gebracht werden können… Daher steht die Welt am Rande eines neuen globalen Wettstreits, der in erster Linie in Asien stattfinden wird.«

Aus der Sicht Russlands und Chinas umfasst aber diese »Ordnung« vor allem Regeln und Prinzipien, die helfen sollen, die westliche Vormachtstellung zu bewahren. So definiert die USA die Volksrepublik nicht nur als geopolitischen Rivalen, sondern stuft sie auch als eine militärische Bedrohung ein, die die amerikanische Dominanz infrage stellt. Biden setzt deshalb auf eine Strategie der Eindämmung, bei der die europäischen NATO-Mitglieder als »Koalition der Willigen« Unterstützung leisten sollen.

Beim NATO-Gipfel 2019 hieß es lediglich: »Wir erkennen an, dass Chinas wachsender Einfluss und seine internationale Politik sowohl Chancen als auch Herausforderungen bergen, die wir gemeinsam als Bündnis angehen müssen.« Bei ihrem jüngsten Treffen in Brüssel nahmen die 30 Mitgliedstaaten des Nordatlantikpaktes erstmals deutlich eine Kontraposition ein: China sei eine »systemische Herausforderung« für »relevante Bereiche der Sicherheit der Allianz«, heißt es in der Abschlusserklärung.

Zur Begründung muss sowohl das Gespenst der »chinesischen Wirtschaftsaggression« als auch die »militärische Bedrohung« herhalten. Das Land habe in den vergangenen Jahren militärisch erheblich aufgerüstet und massiv in atomare Fähigkeiten und moderne Waffensysteme investiert, beklagte Stoltenberg. Wohlweislich unterließ es der NATO-Generalsekretär, auf die kurz vor dem Gipfeltreffen aktualisierten hauseigenen Schätzungen hinzuweisen, die für das Jahr 2021 von Militärausgaben der NATO-Mitgliedstaaten von insgesamt 1.102 Mrd. US-Dollar ausgehen. Die mit Abstand größten Militärausgaben entfallen mit 778 Milliarden US-Dollar auf die USA. Dagegen brachte es China in 2020 auf 252 Mrd. US-Dollar und Russland gerade einmal auf 61,7 Mrd. US-Dollar. Allein die USA geben damit fast dreimal so viel Geld für das Militär aus wie ihre vermeintlichen Rivalen China und Russland zusammen.

Festzustellen ist allerdings, dass Bidens Marschrichtung nicht so richtig zur Strategie der Europäer passt. Diese betrachten China zwar ebenfalls als strategischen Rivalen, aber auch als Partner – wirtschaftlich und im Kampf gegen die Klimakrise. Tatsächlich gehen die wirtschaftlichen Interessen der NATO-Partner auseinander.

So setzt beispielsweise die britische Regierung auf profitable Geschäfte in der pazifischen Boom-Region, mit dem Focus auf die Finanzbranche. Deutschland hat wie kein anderes Land durch den Auto-Export von der schnellen Erholung der chinesischen Wirtschaft nach der Einhegung der Pandemie profitiert – daher die Warnung vor allzu harter Eskalation von Kanzlerin Angela Merkel und Frankreichs Staatspräsidenten Emmanuel Macron. Allerdings scheiterte das maßgeblich von Deutschland vorangetriebene Handelsabkommen der EU mit China zuletzt am Widerspruch des Europäischen Parlaments.

»Eine letzte wichtige Entscheidung auf dem Gipfeltreffen betrifft das Strategische Konzept der NATO, mit dessen Aktualisierung der Generalsekretär beauftragt wurde. Es soll auf dem nächsten NATO-Gipfel voraussichtlich 2022 angenommen werden und dürfte viele Aspekte der Systemkonkurrenz vertiefen und verschärfen«, so Jürgen Wagner.[2] Mit der »Agenda NATO 2030« sollen die Bündnisstrukturen gestärkt werden, um in einer Welt konkurrierender Großmächte gemeinsam in der Lage zu sein, »aggressiven autoritären Staaten mit revisionistischen außenpolitischen Agenden« entgegentreten zu können.

Anmerkungen

[1] Nach dem Abschluss von »Defender Europe 21«, einem Großmanöver, das die Verlegung von US-Großverbänden aus den Vereinigten Staaten speziell nach Südosteuropa sowie ans Schwarze Meer mit rund 28.000 Soldaten aus 26 Staaten probte, hat unmittelbar »Sea Breeze 2021« begonnen, das von der Sixth Fleet der U.S. Navy gemeinsam mit der ukrainischen Marine abgehalten wird. An der Kriegsübung, die seit 1997 jährlich im Schwarzen Meer stattfindet, nehmen 32 Staaten aus allen Kontinenten teil, darunter Australien, Japan und Südkorea, Brasilien, Ägypten, Tunesien, Marokko und Senegal, Großbritannien und zahlreiche Staaten von NATO und EU. Gemeldet sind 5.000 Soldaten, 32 Kriegsschiffe, 40 Flugzeuge und 18 Spezialkräfteeinheiten; damit ist die Übung die größte ihrer Art seit Beginn der Serie im Jahr 1997 (German Foreign Policy, 28.6.2021).
[2] Jürgen Wagner: NATO-Agenda 2030 – Gipfel der Systemkonkurrenz, IMI-Analyse 2021/32.

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