2. Februar 2024 Joachim Bischoff: Die EU, die US-Wahlen und der Failed State

Ringen um Finanzhilfen für die Ukraine

Der ungarische Ministerpräsident Viktor Orbán hat den Widerstand gegen eine weitere Unterstützung der 27 EU-Staaten für die Ukraine aufgegeben. Das von Russland angegriffene Land erhält in den nächsten vier Jahren 50 Mrd. Euro, die das finanzielle Überleben des failed Staates sicherstellen sollen.

Orbán versucht das zentrale sicherheitspolitische Ziel der EU (und der NATO) zu unterlaufen: eine weitere Konfrontation mit Russland auch um den Preis einer Schwächung der Ukraine, deren Abwehrkampf ins dritte Jahr geht.

  • Er verzögert die Militärhilfe via EU-Spezialfonds und hat nach monatelangem Hinhalten erst jetzt der Finanzhilfe an Kiew zugestimmt.
  • Er unterläuft die Sanktionen gegen Moskau, unterhält weiterhin enge Wirtschaftsbeziehungen zu Russland und lässt sich von ihm seine Kernkrafttechnologie modernisieren.
  • Er verweigert bis heute die Zustimmung zu Schwedens NATO-Beitritt.

Der ukrainische Präsident Wolodymyr Selenskyj bezeichnet die Entscheidung der EU über das milliardenschweres Hilfspaket als Ausdruck des engen Bündnisses: »Es ist ein klares Signal an Moskau, dass Europa standhaft bleibt und nicht durch zerstörerische Wellen des Kremls gebrochen werden kann.« Gleichzeitig sei es auch ein deutliches Zeichen über den Atlantik hinweg, dass Europa seine Verantwortung in puncto Sicherheit wahrnehme: »Wir erwarten nun Entscheidungen aus den USA.«

Der US-Präsidentschaftswahlkampf und eine mögliche Rückkehr von Donald Trump werfen dort ihre Schatten voraus: US-Präsident Joe Biden gelingt es seit Wochen nicht, die zugesagte milliardenschweren Militärhilfe für die Ukraine durch den US-Kongress zu bekommen.

Fakt ist: Die NATO und die westliche Staatengemeinschaft sind zwar nicht Kriegspartei, aber ohne die massive Unterstützung durch Waffen und Munition vor allem seitens der USA und ohne Finanzhilfen könnte die Ukraine ihren Widerstand nicht aufrechterhalten. Die Militärausgaben sind für die Ukraine eine riesige Belastung, die neben den Lieferungen durch die NATO-Staaten bewältigt werden muss. Vor dem 24. Februar 2022 machten sie rund 7% des Staatsbudgets aus, über das ganze Jahr 2022 belief sich ihr Anteil mit stark steigender Tendenz dann auf 36%.

Im Jahr 2023 betrugen die Ausgaben des allgemeinen Fonds des Staatshaushalts für den Sicherheits- und Verteidigungssektor in der Ukraine 1.843,8 Mrd. Griwna. Dies sind 60,8% des Gesamtbetrags der Ausgaben. Vorübergehend deckte die Nationalbank sie bis zur Hälfte des monatlichen Staatsdefizits. Diese Art der monetären Staatsfinanzierung birgt große Gefahren, denn sie treibt die Inflation an.

Neben der Finanzierung der Militärlasten, die im Verlaufe des ersten Kriegsjahres durch Finanzmittel der westlichen Staaten und ihrer Finanzorganisationen erfolgte, wurde die Ukraine mehr und mehr in die Rolle eines Failed State gedrängt, dem die wirtschaftliche Basis wegbricht und auch die anderen Staatsausgaben (Renten, Bildung, Gesundheit) können nur durch Finanzressourcen aus dem westlichen Ausland gezahlt werden. Besonders schwierig ist die Lage der verarbeitenden Industrie und der Agrikultur.

Schon im Jahr 2023 wurde deutlich, dass die EU für die Ukraine der finanzielle Rettungsanker ist. Die Finanzzuschüsse der EU und der Mitgliedsstaaten waren die wichtigsten Beiträge zur Budgethilfe, nämlich 19,5 Mrd. US-Dollar. Die USA leisteten 10,9 Mrd. US-Dollar. Noch größer wird Europas Gewicht, wenn man die bilateralen Hilfen einzelner Staaten des Kontinents einbezieht.

Seit kurzem blockieren die US-Republikaner weitere Finanztransfers für die Ukraine und bei einer weiteren Verzögerung durch die EU-Zahlungen drohte der Finanzkollaps des Failed State. Voraussichtlich benötigt die Ukraine 2024 rund 36 Mrd. US-Dollar internationale Budgethilfe, um einen ausgeglichenen Haushalt zu erzielen.

Die finanzielle Lage des Staates ist verzweifelt. Erstaunlich dagegen ist, wie gut die Ukraine den Krieg bisher wirtschaftlich überstanden hat, aber das Erreichte ist latent gefährdet. Im Jahr 2022, also im ersten Jahr des Krieges, ist die Wirtschaftsleistung (BIP) zwar um rund 30% gefallen, seither hat sie sich aber leicht erholt. Auch die verhältnismäßig niedrige Inflation darf sich die Ukrainische Notenbank (NBU) als Erfolg anrechnen. Im Januar 2023 lag die Jahresteuerung bei 26%, derzeit beträgt sie 5,1%.

Die Regierung und die Notenbank haben mit Unterstützung der westlichen Budgethilfen einen Kollaps des Reproduktionsprozesses verhindert. Denn der Ukraine drohte dasselbe Schicksal wie den europäischen Staaten nach dem Ersten Weltkrieg, als die Teuerung davongaloppierte, das Währungssystem zerfiel und die politische Stabilität der Staats- und Gesellschaftssysteme erodierte.

Die internationale Finanzhilfe für die Ukraine ist auch weiterhin unerlässlich. Das Land wird sich aber unabhängig davon stärker auf die EU als Geldgeber verlassen müssen – und diese hat sich auf eine lange Phase als finanzieller Unterstützer einzustellen. Präsident Selenskyj hat sein Land jüngst auf einen langen Krieg eingeschworen. Die Armee hätte gerne 500.000 zusätzliche Soldaten, was den Krieg nochmals kostspieliger machen würde und den Finanzbedarf des Staates erhöht. Und für die Wirtschaft verschärfte sich damit der Arbeitskräftemangel. Die ukrainische Wirtschaft muss jedoch halbwegs funktionieren, denn das Land braucht Devisen, um den Krieg mitzufinanzieren.

Ohne kontinuierliche Hilfe des Westens ist die Ukraine dem Untergang geweiht. Der Internationale Währungsfonds (IWF) schätzt, dass das Land in den kommenden vier Jahren 85 Mrd. US-Dollar Budgethilfe benötigt. Die EU steuert dazu 41 Mrd. Euro bei, weil nicht der gesamte Betrag von 50 Mrd. Euro in den Finanzhaushalt fließt. Vom IWF kommen 11 Mrd. US-Dollar. So bleibt aus heutiger Sicht eine Lücke von 33 Mrd. US-Dollar, die wohl vornehmlich die USA und Japan decken müssen – oder die EU, falls der große Verbündete ausfällt.

Die EU-Institutionen sind entschlossen, der Ukraine weiterhin zu helfen. Angesichts der innenpolitischen Widersprüche in den USA müssen die Mitgliedsländer der EU sich auf wachsende Budgetzuschüsse einstellen. Hohe Finanzbedürfnisse und die Frage, wie sie gedeckt werden könnten, werden die EU in den nächsten Jahren stark in Anspruch nehmen. Auf den Staatenbund kommen ohnehin hohe zusätzliche Ausgaben zu, etwa um die »Verteidigungsfähigkeit« zu stärken oder die Landwirtschaft umzubauen. Das wird zwangsläufig zu Konflikten führen, zumal die Budgetlage der Mitgliedsländer angespannt ist. Die EU benötige neue Finanzquellen, sagte Belgiens Premierminister Alexander De Croo jüngst. Sein Land hat derzeit die Ratspräsidentschaft inne. Der Vorschlag ist bereits auf heftige Kritik gestoßen.

Derweil spitzt sich die Finanzlage der Ukraine weiter zu. Ein Teil der Hilfe, die das Land erhält, sind Kredite. Sie müssen verzinst und eines Tages zurückbezahlt werden. Die Verschuldung des Staates, gemessen am BIP, steigt dadurch rasant: von 50% vor dem Krieg auf derzeit 90%. Das politische Theater um den Widerstand des ungarischen Ministerpräsidenten Orbán hat die prekäre Konstellation verdeutlicht. Die jetzt erfolgte Zusage von weiteren Budget-Zuschüssen der EU sollen Ausdruck für die Ernsthaftigkeit des Bündnisangebotes signalisieren. Allerdings verdeutlicht der Widerstand im US-amerikanischen Kongress, dass diese Überbrückungshilfen auch aus politischen Gründen keine Dauerlösung sind.

Anne Applebaum, Historikerin und Journalistin, macht zu Recht in ihrem Beitrag »Weltmacht zum Weinen und zum Lachen – wird der amerikanische Kongress die Ukraine tatsächlich im Stich lassen?« in der Neuen Zürcher Zeitung vom 2.2.2024 auf die weiterreichenden politischen Folgen aufmerksam, die sich bei anhaltender Absenkung der militärischen und finanziellen Mittel einstellen könnten. In dem Moment, da die Ukrainer zu verlieren beginnen, werde es schlagartig – abgesehen von weiteren Zerstörungen der Ukraine – zu Veränderungen in den politischen Einstellungen kommen. »Millionen von Europäern werden begreifen, dass man sich auf die USA nicht weiter verlassen kann. All dies wird auch eine Botschaft an geäußerten Überzeugungen bestärken, dass die USA eine degenerierte, absterbende Macht darstellen.«

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