12. Juli 2024 Bernhard Sander: Frankreich auf der Suche nach einer Regierung

Rochaden in und zwischen den Parteien

Emmanuel Macron, dem als Staatspräsident bei der Nominierung eines Ministerpräsidenten laut Verfassung die bestimmende Rolle zufällt, versucht, die Neue Volksfront (NFP) von der Macht fernzuhalten. »Es gibt keine Gewinner« schreibt er an die Staatsbürgerschaft, obwohl NFP mit 182 Sitzen klar die stärkste Gruppierung in der Nationalversammlung von 577 Abgeordneten ist.

Links wie rechts versucht man mit der Fraktionsbildung das Gewicht der eigenen Partei oder Gruppierung zu stärken und die künftige politische, wirtschaftliche und soziale Richtung des Landes zu prägen. Die NFP steht nach der wahlpolitischen Zusammenarbeit vor der Herausforderung einer Konsolidierung der Strömungen. Man muss beweisen, dass die neue Volksfront mehr ist als ein wahltaktischer Coup. Vor allem muss man den Erwartungen der Wählerschaft gerecht werden. Gilt, wie es Jean-Luc Mélenchon unmittelbar nach Schließung der Wahllokale verkündet hatte, »das Programm und 100% nur das Programm«?

Die Kommunisten versuchen, mit unabhängigen Abgeordneten aus den Überseedepartements, den erfolgreichen Dissidenten von La France insoumise (LFI) und der linkssozialdemokratischen Gruppe Generation.s um den gescheiterten Präsidentschaftskandidaten Benoit Harmon ihr Gewicht zu erhöhen. Wenn sich die Grünen anschließen, käme annähernd ein Patt zu LFI zustande, was eine flexiblere Strategie ermöglicht.

Der Historiker und frühere PCF-Vorständler, Roger Martelli, mahnt: »Wir erleben seit langem auf grausame Weise den Kontrast zwischen dem rebellischen Geist des Volkes und den politischen Konstruktionen: Diese Kluft lässt sich nicht von heute auf morgen überbrücken. Wir wissen, dass dieses Volk, das zu großen Dingen fähig ist, nicht mehr wirklich an die Politik und die Institutionen, die sich mit ihr beschäftigen, glaubt. […] Die Linke hat im Grunde genommen von der Abnutzung der bestehenden Macht, der Abneigung gegen den Präsidenten und der Angst vor der bevorstehenden Machtübernahme des RN profitiert.« Das ersetze aber keine langfristige Strategie.

Für den dissidenten aber erfolgreichen LFI-Abgeordneten Francois Ruffin, der sich schon 2022 als Sozialdemokrat charakterisierte, fängt die Positionsbestimmung damit an, dass auch bei dieser Wahl für die Linke die Probleme eher zugenommen haben: »ein geografisches Loch (das Frankreich der ›bourgs‹ der Kleinstädte), das demografische Loch (in der älteren Generation) und das soziale Loch (die Geringverdiener)«. In seiner Region fielen 13 der 17 Sitze an den Rassemblement national (RN). Schon 2022 war es dort ähnlich ausgegangen und LFI-Animateur Mélenchon kritisierte seinerzeit, »diese Gegenden hätten die Demokratie und die Republik noch nie akzeptiert«. Dabei sei RN – so Ruffin – gerade in den Regionen erfolgreich, »die über ein Jahrhundert lang kommunistische und sozialistische Deputierte entsandt haben«.

Auf der Website von »Regard.fr« ereiferte Ruffin sich über die Strategie, die »alles auf die Stadtviertel und die Jugend mit Hochschulabschluss« setzt – was er als »Türme« bezeichnet –, selbst wenn er die »bourgs« ganz Marine Le Pen überlässt: »Das ist die Linie: sich dort zu stärken, wo wir bereits stark sind, selbst wenn wir uns dort schwächen, wo wir bereits schwach sind. [...] In den Stadtvierteln haben wir also LFI-Abgeordnete, die im ersten Wahlgang gewählt wurden. Bravo! Es sind die Spitzen-Kader der Bewegung, die die besten Wahlkreise geerbt haben, in denen die Linke 70% erreicht, die keine Kämpfe um ihre Sitze führen müssen, und schon gar nicht gegen den RN. Und sie sind es, die von Paris, der Île-de-France und den großen Metropolen aus eine Strategie verordnen, die für den Rest des Landes verlustreich ist! Danke!«

Die gleiche Analyse findet sich bei Alexis Corbière (Mélenchonist der allerersten Stunde), der bedauert, dass »LFI elf Abgeordnete verloren hat, neun davon in ländlichen Gebieten. Wir werden die Macht nicht mit einer sozialen und Wählerbasis übernehmen, die von Wahl zu Wahl schrumpft, und auch nicht mit einer Führung, die aus einem einzigen soziologischen Profil besteht.«

Autoritarismus, eine nach dem Wind wechselnde Strategie, Clanbildung, Einschüchterung und fehlende Demokratie bei LFI werden beklagt, das nur durch und für Mélenchon lebe. Clémentine Autain prangert dies seit Jahren an. Auch andere Dissidenten der LFI beklagen, dass der Apparat mehr dafür getan hätte, Abweichler durch Aufrechterhaltung einer eigenen dritten Kandidatur um den Erfolg zu bringen, als RN-Mandate durch Rückzug zu verhindern.

Der ehemalige PS-Abgeordnete und Minister Mélenchon personifiziert ein Problem, vor dem die gesamte NFP steht: Da keiner der drei Blöcke RN und Verbündete, das Macron-Lager »Ensemble« mit verbündeten Republikanern und NFP eine absolute Mehrheit hat, liegt eine schwierige Wegstrecke bis zur nächsten Präsidentschaftswahl vor dem Land.

Für Ruffin ist es klar, dass der Staatspräsident »seine macronistischen Abgeordneten auffordern muss, in der Nationalversammlung keine Fundamentalopposition zu betreiben«. Und für Autain ist es ebenso klar: »Man muss auf einer klaren Grundlage regieren, dem Programm der NFP, und nicht im Rahmen einer Koalition mit Renaissance (der macronistischen Partei), die eine Bastelei aus zwei Visionen der Gesellschaft wäre, die man nicht miteinander verbinden kann.« Beide reden also einer »Gesetzgebungsmehrheit« das Wort.

Für Macron ist die Option relativ einfach, um die Wahlsieger von der Macht fernzuhalten. Dabei ist es ihm egal, dass die Gewerkschaften einhellig davor warnen, das Volk um den Sieg zu bringen. Er belässt den zurückgetretenen Ministerpräsidenten im Amt, der vermutlich ein – keineswegs neutrales – »Technokraten«-Kabinett beruft, das von einer »Gesetzgebungs-Mehrheit« gestützt wird. Dieser hat bereits angekündigt, dass seine am Wahlabend verkündete Aussetzung der Reform der Arbeitslosenunterstützung nur bis September gilt.

Rachida Dati, unter Sarkozy Justiz- und zuletzt Kulturministerin, begründet den Machtanspruch mit ihrer Interpretation des Wahlergebnisses: »Die große Mehrheit der Franzosen hat ihren Wunsch nach einer Politik zum Ausdruck gebracht, die das Land vor der Unsicherheit, dem Migrationsdruck oder dem Ausufern der öffentlichen Finanzen schützt. Das Interesse Frankreichs besteht darin, im Parlament eine Mehrheit zu finden, die das widerspiegelt, was unsere Mitbürger mehrheitlich denken.«

Auf der Linken bestehen erhebliche Vorbehalte gegen eine Strategie historischer Kompromisse. »Jede Vereinbarung mit der Präsidentenpartei würde die Akzeptanz einer tiefen ideologischen Niederlage bedeuten«, meint ein Teil. Schließlich gäbe es eine Gefahr, die nicht übersehen werden darf: Man hört derzeit viel von einer Re-Parlamentarisierung des politischen Lebens, die parallel zu seiner De-Präsidentialisierung verläuft. »Aber machen wir uns nichts vor: Im Moment geht es darum, die Politik wieder in der Gesellschaft zu verankern und sie aus den Orten der Pariser Macht herauszuholen. Nicht alles lässt sich auf Absprachen zwischen Chefs, abendliche Telefonate oder Treffen von Führungskräften reduzieren. Sich damit zu begnügen, große Programme für Frankreich ins Auge zu fassen, so interessant und relevant sie auch sein mögen, führt zwangsläufig in eine Sackgasse, denn Politik muss in erster Linie eine Erfahrung jedes Einzelnen sein, damit wir alle ein Zusammenleben in Betracht ziehen können.«

Die andere Position verweist darauf, dass sich auch die parlamentarische Rechte neu aufstellen muss. Die vorherrschende Analyse bei den Republikanern ist noch, dass Frankreich nach rechts rutscht, und dass es eine Alternative zur Macronie und zur extremen Rechten geben muss. Sie beabsichtigen, diese zu sein.

Man könnte meinen, dass die Frage für die Linke egal ist. In Wirklichkeit ist es das nicht. Es ist wichtig, dass es rechts noch Alternativen zur RN gibt. Die Mehrheit der LR-Wählerschaft hat sich für die Kandidaten der RN entschieden. Die Frage der Regierungsbildung und der konkreten Person des künftigen Ministerpräsidenten bilden dafür die Kampfarena.

Um die neue Volksfront von der Macht fernzuhalten, sind Teile des Präsidentenlagers zur Kollaboration mit dem RN bereit. Der frühere Macron-Premier Édouard Philippe und der amtierende Verteidigungsminister Sébastien Lecornu halten schon lange über den »offiziellen Berater« Thierry Solère Kontakt mit den Führern des extrem rechten RN und trafen sich nun zu informellen Geschäftsessen.

Viele auf der Linken beteuern, dass sie regieren wollen, und mit allen Mitteln der Macht regieren wollen: Dekrete, unterbleibende Verkündung und damit Nicht-in-Kraft-treten von beschlossenen Reformen oder sogar Verfassungsartikel 49.3. Sie scheinen sich sicher zu sein, dass sie eine – wenn auch relative – Mehrheit für Themen finden können, die im ganzen Land Konsens sind. Sie nennen das kostenlose Schulmittagessen, die Indexierung der Renten, das Einfrieren der Preise für Grundnahrungsmittel, die Aufhebung des Rentengesetzes etc.

Wenn sie diese Gesetze nicht durchsetzen könnten, würden die französischen Bürger*innen zu Zeugen gemacht. Sie behaupten also, dass sie regieren wollen und können. Der Premierminister werde natürlich aus den Reihen der Linken kommen. Er muss unter den Abgeordneten der NFP und möglichst weitgehend unter den französischen Bürger*innen konsensfähig sein (und damit nicht Mélenchon heißen). Der Kampf um die öffentliche Meinung hat begonnen. Ziel: das Leben verbessern, die Gesellschaft beruhigen und den RN entlarven.

Der Chef des Nationalen Statistik-Büros INSEE, Jean-Luc Tavernier, gibt dieser Position Schützenhilfe. »Beim Abbau von Ungleichheiten hat Frankreich den größten Nachholbedarf«, insbesondere bei der Armutsquote und den materiellen und sozialen Entbehrungen, wie er in einem Interview mit der Zeitung »Libération« deutlich machte: »Die von uns durchgeführte Erhebung über materielle und soziale Entbehrungen zeigt deutlich, dass Anfang 2023 immer mehr Menschen aus finanziellen Gründen darauf verzichten, ihre Wohnung angemessen zu heizen oder jeden zweiten Tag eine eiweißhaltige Nahrung zu sich zu nehmen. Im Jahr 2022, dem Jahr der russischen Invasion in der Ukraine, betrug die Inflation durchschnittlich 5,2%, nach 1,6% im Jahr 2021. Die Armutsquote explodierte nicht, sondern stabilisierte sich auf einem hohen Niveau und betraf 14,4% der Bevölkerung. Damals lebten 9,2 Millionen Menschen in normalen Wohnungen unter der Einkommensarmutsgrenze, die 60% des Medians entspricht, d.h. 1.216 Euro pro Monat für eine alleinstehende Person und 1.824 Euro für ein Paar ohne Kinder. Der Anteil der Menschen, die von materieller und sozialer Entbehrung betroffen sind, ist leicht gestiegen und liegt bei 13,6% der Bevölkerung, die in einer normalen Wohnung lebt.«

Ein Teil der Löhne und Sozialeinkommen sind immer noch über einen Index an die Preisentwicklung gekoppelt, daher steigt die Armutsquote nicht signifikant. Wer diese soziale Errungenschaft nicht in Anspruch nimmt, versinkt in Armut.

Während die siegreiche Linke angesichts ihrer Verantwortung immer noch über ideologische Rechtschaffenheit streitet, regiert die Macronie weiter. Finanz- und Wirtschaftsminister Bruno Le Maire, der bereits vor der EU-Wahl 10 Mrd. Euro aus dem beschlossenen Haushalt hatte streichen lassen, hat den Ministerien neue Ausgabenobergrenzen mitgeteilt, um in diesem Jahr weitere fünf Mrd. Euro einzusparen. Der fortgeschrittene Stand der Ausgaben Ende Mai und die wirtschaftlichen und politischen Unwägbarkeiten stellen ein großes Risiko für die Einhaltung des Defizitpfades dar.

Um den der Europäischen Kommission mitgeteilten Pfad einzuhalten, muss Frankreich sein öffentliches Defizit bis 2024 auf 5,1% des BIP eindämmen. Bruno Le Maire wird daher eine neue Sparrunde von 10 Mrd. Euro einleiten, um dies zu gewährleisten. Die EU-Kommission hatte vor den Parlamentswahlen ein Defizit-Verletzungsverfahren gegen Frankreich eingeleitet. »Diese Entscheidungen sind unerlässlich, um unseren Pfad der öffentlichen Finanzen einzuhalten und wieder in den europäischen Rahmen zu kommen«, warnte der Minister. Steigende Verschuldung lässt die Zinslast steigen und die Ratings sinken, auch eine NFP-geführte Regierung ist mit dieser unangenehmen Wahrheit konfrontiert.

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