26. Juni 2025 Bernhard Sander: Die Stimmungslage in den Niederlanden

Rückkehr zur Normalität oder Wilders vor dem Sieg?

Nachdem Geert Wilders den Rückzug seiner Partei für die Freiheit (PVV) verkündet und damit das Kabinett Schoof zu Fall gebracht hat, zeigen die Umfragen, dass sich seine Vertrauensverluste, die seinen Schritt ausgelöst haben mögen (von faktischen 37 auf demoskopisch erwartete 29 Mandate), fortsetzen.

Die Christdemokraten (CDA) könnten ihren Absturz bei der Wahl zur Zweiten Kammer, dem niederländischen Parlament, kompensieren, wo sie jetzt bereits wieder von fünf faktischen Sitzen auf virtuell 17 (vor dem Regierungssturz) angelangt waren. Die beiden neuen Formationen, Bauern- und Bürger-Bewegung BBB sowie der Neue Gesellschaftsvertrag NSC, die aus dem Wählervolumen der CDA den rechten bzw. sozial-liberalen Rahm schöpfen konnten, befinden sich in existentiellen Schwierigkeiten.

Der NSC, dessen inspirierender Gründer Pieter Omtzigt sich aus gesundheitlichen Gründen endgültig zurückgezogen hat, ist zu einer Geisterpartei mit einem virtuellen Sitz geworden, und die BBB ist mehr als halbiert. Ist also alles wieder auf dem Rückweg in die Normalität, wenn die CDA Anschluss an die großen Drei (PVV, rechtsliberale VVD und sozialdemokratische Partei der Arbeit) findet?

Die Tatsache, dass die virtuellen Sitzverluste der Vierer-Koalition nicht viel größer waren, ist jedoch auf die ideologische Positionierung dieses Kabinetts und der niederländischen Wähler*innen zurückzuführen. Die vorherigen Kabinette waren Kabinette, in denen Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien kooperierten. In einer solchen Zusammenarbeit finden unzufriedene Koalitionswähler*innen leicht Alternativen.

Das amtierende Schoof-Kabinett hat eine klare rechte Signatur, so dass es weniger Möglichkeiten gibt. Auf der rechten Seite gibt es keine Wahlherausforderer von Bedeutung und Parteien auf der linken Seite sind zu weit vom Spektrum der Koalitionswählerschaft entfernt. Der Aufstieg des Fusionsprojekts von Sozialdemokraten und Links-Grün erklärt sich aus einer klaren Polarisierung, die vor allem im Spektrum der ungebunden und Kleinstparteien Attraktivität gewinnen kann.

»Welche Partei würden Sie bei den Parlamentswahlen zu diesem Zeitpunkt abstimmen?«[1]

Die Koalition besteht nun hypothetisch aus 60 Sitzen, einer breiten linken Koalition aus GroenLinks/PvdA, CDA, D66, PvdDieren, SP, Denk, Volt und CU können jetzt auf 79 Sitze zählen. Unmittelbar nach Wilders Bruch der Koalition gewann die PVV 5 Sitze und war mit 33 Sitzen die größte Parlamentsfraktion; doch hielt der Höhenflug nicht lange an, da die Wähler*innen offenbar auf der Suche sind.

Das zerfaserte Parteiensystem bietet der unzufriedenen rechtsextremen Wählerschaft aber noch weitere Alternativen. Aktuell erlebt JA21, mit einem Parlamentssitz repräsentiert und als Abspaltung des noch extremeren Forum für Demokratie, einen demoskopischen Höhenflug mit der Voraussage von acht Parlamentssesseln. Dazu hat beigetragen, dass die bisherige Justiz-Staatssekretärin Ingrid Coenradie, die wegen Trägheit in der Migrationsfrage von Wilders öffentlich gegeißelt und zum Sündenbock für den Bruch der Koalition gemacht worden war, von der PVV zur JA21 übertritt.

Auffällig ist auch, dass die Entscheidung der VVD-Vorsitzenden Dilan Yesilgöz, eine Koalition mit der PVV auszuschließen, kaum Auswirkungen auf die Präferenz der Wähler zu ihren Gunsten hatte. Sie hatte mit ihrem unerwarteten Legitimations-Manöver kurz vor der Wahl, Wilders nicht von vorneherein aus einer Koalition auszuschließen, der PVV-Höhenflug erst ausgelöst. Wilder verzichtete damals einstweilen auf einige nicht verfassungskonforme Forderungen gegen Muslime und unter großem Medienrummel auf den Anspruch auf das Amt des Ministerpräsidenten und verschaffte seiner Partei so die Themen-Dominanz im Kabinett und die parlamentarische Beinfreiheit für seinen rechtspopulistischen Kurs.

Ende Juni befürworten 72% der VVD-Wählerschaft eine künftige Koalition mit den erstarkenden Christdemokraten, 33% ein Zusammengehen mit den linksliberalen D66, 22% mit der BBB und 17% mit Groenlinks-PvdA. Das ist ein deutlicher Anstieg gegenüber November 2023 (37%) und auch etwas mehr als im letzten Monat (51%). Ein zusätzliches Problem für die PVV besteht darin, dass nach dem Bruch mit der Koalition und der Ausschluss von Yesilgöz mehr Wähler (55%) die PVV als eine Partei bezeichnen, mit der die Partei der eigenen Präferenz nicht zusammenarbeiten sollte.

Unter den obwaltenden Umständen im politischen Kosmos der Niederlande bleibt dem isolierten Wilders nur die Spekulation auf einen überwältigenden Wahlsieg der eigenen Partei, die jegliche andere Koalition verunmöglicht – auch wenn die rechtsliberale Yesilgöz bereits laut erklärt hat, selbst wenn Wilders hypothetisch 50 Sitze gewönne, bliebe es für VVD bei einem Nein zur Koalition. Wilders weiß, dass es für seine PVV eigentlich nur nach oben gehen kann, weil die schmelzende Anhängerschaft der BBB nicht wieder in die Reihen der Christdemokratie zurückkehren wird und spekuliert vermutlich auf deren Erbe.

Den Christdemokraten könnte nach der Wahl am 29. Oktober die Rolle der Königsmacher zufallen. Der neue Vorsitzende der Christdemokraten, Henri Bontenbal, hat sich nach dem Wahldebakel vor zwei Jahren zwar für schnellere Abschiebung von Menschen ohne Schutzanspruch ausgesprochen aber auch für die bessere Integration von Asylsuchenden mit solchem Anspruch. Letzteres ist mit Wilders nicht zu machen.

Der CDA-Chef war als Nachhaltigkeitsberater tätig, fliegt nicht mit dem Flugzeug, isst kaum Fleisch und hat den Klimawandel zum TOP-Thema der Partei gemacht. Damit spricht er die urbanen, pluralen Milieus an, ist aber für die BBB-Gefolgschaft, die sich aus den Massenprotesten gegen Stickstoff-Verbote in der Landwirtschaft gegründet hatte und wie PVV einen stark xenophoben Reflex hat, keine Wahlalternative. Aber niemand kann heute vorhersagen, wohin sich die Delegierten der CDA schließlich wenden werden.

Um Wilders verhindern und im 150 Mandate umfassenden Parlament eine stabile Mehrheit bilden zu können, werden vermutlich jeweils eine Partei mit den Christdemokraten empfindliche Kompromisse aushandeln müssen.

Viel wird davon abhängen, welche Wahlthemen dominant werden. Die persönlichen Präferenzen werden anders gesetzt als die Beurteilung, was wahlentscheidend sein wird: Die Frage »Welche Politik sollte Vorrang dafür haben, auf welche Themen sollen wir achten?« beantworten die Wähler wie folgt: der Wohnungsmarkt (47%), die Zuwanderung/Asyl (35%) und das Gesundheitswesen (26%). In einer Art Helikopter-Blick auf den Wähler geht es um die großen Probleme, die die Wahl und den Diskurs beeinflussen. Wenn jedoch nach der Wahlpräferenz gefragt wird – »Welche Themen spielen eine wichtige Rolle bei Ihrer Wahl für diese Partei?«  sind Immigration/Asyl (35%), Wohnungsmarkt (25%) und „Normen & Werte“ (24%, ein CDA-Slogan) am wichtigsten. Das zeigt etwas über die Anziehungskraft einer Partei auf.


PVV

Die PVV hat einen größeren Stammwählerkern als alle anderen Parteien. Acht von zehn PVV-Wählern halten es für eine schlechte Sache, dass »ihre« Partei ausgeschlossen ist. Der feste PVV-Kern bleibt hinter Geert Wilders in seiner Entscheidung, mit der Koalition zu brechen, obwohl die Wertschätzung der Wähler*innen für ihn auf längere Sicht abnimmt: auf einer Skala von 0 bis 10: 5,2 vor einem Jahr, eine 4,3 im Mai und jetzt ein Durchschnitt von 3,9. Dies kann zum Teil erklären, warum das Gesamtpotenzial für die PVV mit insgesamt 27% (19% erste Präferenz plus 8% als Zweit-Präferenz) niedriger als das von CDA, GL-PvdA und VVD ist.

In der Tat kann die PVV nur erfolgreich bleiben, wenn es bei der Kampagne hauptsächlich um Einwanderung und Asyl geht. Für die PVV-Wähler ist die Einwanderung bei weitem die wichtigste Thematik (mehr als 80%, »nur« 55% in der gesamten Wählerschaft). Die PVV ist hier ein Eigentümer: Von denjenigen, die der Migrationspolitik besondere Beachtung werden, denken mehr als die Hälfte (53%), dass die PVV die besten Lösungen oder Ideen dafür hat.

Andere Themen sind für die PVV-Wähler deutlich weniger vielversprechend, die PVV ist zu keinem der anderen Themen meinungsführend. Wenn es sich zum Beispiel um sozioökonomische Themen, Wohnungsmarkt, Gesundheitsfürsorge oder Verteidigung/internationale Sicherheit handelt, wird es die PVV schwerer haben. So wird der Wohnungsmarkt von 42% der PVV-Wähler als wichtiges politisches Thema genannt.

 »Was ist oder sind die Hauptgründe für Sie, für ›bevorzugte Partei‹ zu stimmen?«
Mehrere Antworten sind möglich (n bei 1.969).

Quelle: Ipsos I&O, 16. Juni 2025

Wilders gilt für 24% der Wählerschaft nicht mal als Listenführer ganz weit vorn. Die PVV erzielt (nach der marginalisierten SP und der Klientelpartei BBB) die besten Ergebnisse, wenn beurteilt werden soll, wer sich »für Menschen wie mich einsetzt« (45%). »Gegen andere Parteien« zu sein, ist ein entscheidendes Kriterium für 18%. Selbst die Rolle einer guten Opposition hat für die Wähler von CDA, SP und Tierschutzpartei mehr zur Parteipräferenz beigetragen. Die Ideologie, so die Demoskopen von IPSOS, entscheidet zwar bei einem Drittel der PVV-Anhängerschaft über die Parteipräferenz, doch ist dieses Kriterium bei anderen, vor allem den linken Parteien erheblich ausschlaggebender.


Die Grüne Linke

Die Sozialdemokratie und die aus den Kommunisten hervorgegangene GroenLinks werden in nächster Zeit nicht nur als Fraktion, sondern auch als Partei fusionieren. GL-PvdA erreicht mit 29 Sitzen die höchste virtuelle Mandatszahl seit November 2023. Obwohl es immer noch ein bescheidenes Wachstum ist, teilt sich die Partei von Frans Timmermans den ersten Platz mit der PVV. Und mit einem Gesamtpotenzial von 33% ist noch mehr drin. Viel wird von der strategischen Abstimmung der linksprogressiven Wähler abhängen, die derzeit noch bei D66, PvdD, SP und Volt sind. Es gibt auch ein gewisses Potenzial für Wähler, die jetzt CDA und CU als erste Präferenz haben. Schon jetzt sagen 30%, dass sie für GL-PvdA abstimmen wollen, weil sie eine mögliche Regierungsbeteiligung berücksichtigen.

Für GroenLinks-PvdA hängt es auch davon ab, welche Themen die Kampagne bestimmen werden. Mit der Einwanderung hat GL-PvdA wenig zu gewinnen. Der Klimawandel ist das einzige Thema, bei dem die Partei überzeugt; aber dieses Thema rutscht in den Präferenzen nach hinten. Im Oktober 2023 wurde es noch von 30% als Thema erwähnt, dem die Politik Priorität einräumen sollte, jetzt nur noch von 18%.

Mehr als ein Drittel (37%) der GL-PvdA-Wähler nennen es »wesentlich«, dass CO2-Emissionen reduziert werden, aber der Schutz der Demokratie ist für die Wähler wichtiger (51%). Drei von zehn (29%) nennen hier »die Unterschiede zwischen Arm und Reich reduzieren«. Dies könnte der Timmermans-Partei eine Chance geben – jeder fünfte Wähler glaubt, dass GL-PvdA die besten Lösungen für die Armutsbekämpfung hat. Allerdings halten nicht sehr viele Wähler*innen dieses Thema für so wichtig halten, dass es die Wahl entscheiden könnte (nur jeder Sechste). Anders beim Wohnungsmarkt (47% halten es für ein wichtiges Thema), aber nur 9% sehen GL-PvdA hier als meinungsführend. In der Tat ist dieses Thema vakant, auch die anderen Parteien werden nicht als themensetzend angesehen.

Es wird wahrscheinlich noch spannender, ob Frans Timmermans sich in seiner zweiten Kampagne auszeichnen kann. Die Wertschätzung für Timmermans will nicht nach oben gehen, im Durchschnitt bekommt er eine 4,4, die viertniedrigste Bewertung nach Wilders, Van Baarle (von der Migrantenpartei DENK) und Baudet (Forum für Demokratie). Zum Glück für die Partei wählen GL-PvdA-Wähler diese Partei wegen des Inhalts (Meinungen und Ideologien) und weil die Partei eine stabile Verwaltung der Niederlande gewährleisten kann. Als Listenführer hat Timmermans kein Bonus, nur 13% bei GL-PvdA stimmen wegen des eigenen Vorsitzenden für die Partei. Seine eigenen Wähler geben eine sehr bescheidene 7,5.

Sein Sympathiewert bei den VVD-Wählern ist mit 3,6 noch mickriger, was bei Verhandlungen belastend sein könnte. Aber in der Frage einer möglichen Koalition ist sind die Sympathisanten der PvdA gespalten, 29% sind dafür offen, 36% nicht. Im Umfeld der VVD ist das Bild noch krasser: 10% halten eine solche Koalition für wünschenswert, 56% absolut nicht.

Die nächsten Koalitionsverhandlungen könnten sich also noch länger ziehen als beim letzten Mal, was dem Wahlvolk ein Bild von Parteiegoismus, Pöstchen-Schacher, ideologischer Zerstrittenheit vermittelte. Bestimmte Themen wie die magische Zahl 5% des BIP für Verteidigung sind allerdings von der amtierenden Koalition noch aus dem Weg geräumt, andere wie das Stickstoffverbot, die »Migrationsfrage« und die Wohnungsnot sind es nicht. Ein Comeback der Etablierten scheint jedoch ausgeschlossen.

Die Polarisierung zwischen erneuerter Sozialdemokratie und kriselnden Rechtsliberalen wird den Wahlkampf ebenso prägen wie die Attacken aus dem rechtspopulistische bzw. faschistischen Lager. Die Aussage des stellvertretenden VVD-Vorsitzenden hält im Falle eines Triumpfs von Wilders und den anderen rechtsextremen Parteien noch eine andere Option offen. Es gehe »nicht mehr um Sozialismus versus Liberalismus oder Markt versus Staat sondern um Demokratie versus Nicht-Demokratie«.

Genau diese Hoffnung der Bürgerlichen könnte von GroenLinks-PvdA als Bruch mit dem überkommenen und unglaubwürdigen Mitte-Links versus Mitte-Rechts-Geschacher genutzt werden und zu einer Positionierung, mit der in der sozialen Frage, dem Bekenntnis zu einer offenen Gesellschaft und zu humanitären Werten dem xenopoben, islamfeindlichen Diskurs von Wilders die Aufmerksamkeit genommen wird. Wer die Demokratie retten will, darf ihrer sozialen Dimension nicht ausweichen.

Anmerkung

[1] Umfrage IPSOS 16. Juni 2025 n 1.969, TK23 steht für die letzte Parlamentswahl; https://www.ipsos-publiek.nl/actueel/ipsos-io-zetelpeiling-cda-vindt-aansluiting-bij-top-3/

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