26. März 2024 Redaktion Sozialismus.de: Verschobene Versprechungen und eine Eier-Krise

Russland in der Kriegswirtschaft

Drohnenabschuss über dem Kreml

Laut dem ukrainischen Ministerpräsidenten Denys Schmyhal hat sein Land 880 Mio. US-Dollar vom Internationalen Währungsfonds (IWF) erhalten: »Dies ist die dritte Tranche der finanziellen Unterstützung im Rahmen der Extended Fund Facility (EFF)«.

Die Mittel sollen dazu beitragen, Haushaltsausgaben zu decken und die finanzielle Stabilität aufrechtzuerhalten. Wegen Munitionsmangels ist die Ukraine im russischen Angriffskrieg seit einigen Monaten in der Defensive. Zugleich sind massive Militärhilfen der USA sind wegen eines Streits zwischen Republikanern und Demokraten im Kongress in Washington blockiert.

Die russische Kriegsökonomie ist im Unterschied zur Ukraine, deren Wirtschaft schon seit Kriegsbeginn durch Zuschüsse westlicher Nationen über Wasser gehalten wird, mit einer differenzierten Belastung der sozialen Schichten konfrontiert. Als Wladimir Putin 1999 an die Macht kam, ging er dazu über, einige soziale Gruppierungen stärker zu belasten, die während der Liberalisierung Russlands in den 1990er-Jahren zu Reichtum gekommen waren. Insbesondere ging er gegen diejenigen vor, die ihn herausforderten, wie den Ölmagnaten Michail Chodorkowski.

Zugleich konnte eine neue Fraktion, die »Silowiki«, oft ehemalige Sicherheitsbeamte, ihren Einfluss seitdem ausbauen und ist ein wichtiger Teil von Putins Machtbasis. Einigen von ihnen wurde die Kontrolle über staatliche Energieunternehmen und Konzerne übertragen, offenbar als Gegenleistung für ihre Loyalität, sodass sie zu großem Reichtum gelangten.

Die USA versuchten, Putins Macht zu untergraben, indem sie eine Reihe von Sanktionen gegen das Vermögen wohlhabender Gefolgsleute verhängten. Doch die russische Wirtschaft hat die schlimmsten Auswirkungen des Ukraine-Kriegs überstanden und die Loyalität von Putins wohlhabenden Anhängern ist weitgehend ungebrochen.

Einige Mitglieder der russischen Wirtschaftselite standen zunächst dem Ukraine-Krieg kritisch gegenüber und fürchteten die Auswirkungen auf die Ökonomie und Gesellschaft. Doch wie The Guardian berichtet, haben sich viele inzwischen mit dem Krieg und der fortgesetzten Herrschaft Putins abgefunden.

Nicht nur seine Bereitschaft, die Beziehungen zu seinen wohlhabenden Loyalisten aufzurütteln, deutet auf seine Bereitschaft hin, Russlands Militär rasch auszubauen und die Streitkräfte zu erweitert. Auch der russische Verteidigungsminister Sergej Schoigu kündigte jetzt Pläne an, die Streitkräfte durch die Schaffung zweier neuer Armeen massiv zu erweitern.


Keine Verbesserung des Lebensstandards, sondern hohe Preise

Als Putin 2018 zur Wiederwahl kandidierte, versprach er einen »entscheidenden Durchbruch« im Lebensstandard. Sechs Jahre später, als die Russen wieder an die Urnen gerufen wurden, kramte die alten Versprechungen hervor und versah sie mit neuen Fristen. In einer großen Rede im vergangenen Monat versprach er mehr als 11,5 Bio. Rubel (125 Mrd. US-Dollar) als Ausgaben für Bereiche, die von Hypothekensubventionen und Steuererleichterungen für junge Eltern bis hin zu weitreichenden Modernisierungen der öffentlichen Infrastruktur reichen.

Er machte dieses Angebot angesichts der Tatsache, dass Russlands Wirtschaft im vergangenen Jahr schneller expandierte – mit einem BIP-Wachstum von 3,6% – als jede der Nationen, die Moskau mit Wellen von Sanktionen wegen seiner Invasion in der Ukraine treffen wollten.

Neuere Daten zeichnen ein durchwachsenes Bild. Russlands kriegsorientierte Wirtschaft, in der Waffenfabriken rund um die Uhr in drei Schichten arbeiten, ist mit Arbeitskräftemangel, Bevölkerungsrückgang und geringer Produktivität und Investitionen konfrontiert. Von einem Durchbruch bei der Verbesserung des Lebensstandards der Mehrheit der Bevölkerung kann keine Rede sein. Die Realeinkommen sind seit Putins Versprechen von 2018 um 7,6% gestiegen, sind aber immer noch niedriger als 2013. »Im Hinblick auf unser Einkommen kann 2014 bis 2023 sicher als verlorenes Jahrzehnt bezeichnet werden«, schrieb der Ökonom bei der CentroCreditBank Jewgeni Suworow,

In einer von der Zentralbank in Auftrag gegebenen Umfrage vom Februar 2024 gaben 28% der Menschen an, nicht genug Geld für Lebensmittel zu haben, oder sie können Lebensmittel kaufen, aber keine Kleidung und Schuhe leisten. Die Inflation hat sich in den letzten Jahren deutlich über dem Ziel der Zentralbank von 4% beschleunigt – sie erreichte 8,4% im Jahr 2021, 11,9% im Jahr 2022 und 7,4% im Jahr 2023 – und die Zinssätze liegen bei 16%.

Seit dem Angriffskrieg auf die Ukraine steigen die Lebensmittelpreise für Verbraucher*innen stetig an. Am schnellsten steigt der Eierpreis. Bei einer von Putins Fernseh-Sprechstunden sprach ihn eine Rentnerin aufgebracht darauf an, dass Eier in ihrer Region bis zu 220 Rubel kosten würden. Das sind 2,20 Euro für zehn Eier. Laut der staatlichen Statistikbehörde Rosstat stiegen die Preise für Hühnereier im Laufe des vergangenen Jahres um 62%. Je nach Region ist der Anstieg besonders stark. Medienberichten zufolge würden Eier auf der Krim mittlerweile einzeln verkauft. Mancherorts komme es zu Hamsterkäufen, sodass die Menge an Eiern rationiert wird: Pro Person maximal 20 Eier.

Putins einfache Erklärung für die Eier-Krise: Die Einkommen der Menschen seien gestiegen und dadurch auch die Nachfrage nach Eiern. Das Problem bestehe darin, dass die Regierung nicht rechtzeitig die Importe von Eiern angehoben habe, um der Nachfrage gerecht zu werden. »Eine Störung in der Arbeit der Regierung«, nannte er das.

Expert*innen widersprechen dieser These allerdings. Die Generaldirektorin des Verbands der russischen Geflügelhersteller, Galina Bobylewa, vermutet, dass es keinen Mangel gibt, da auch die Preise für andere Lebensmittel gestiegen seien. Eierimporte würden sich laut ihrer Einschätzung nicht auf die Preise heimischer Eier auswirken.

Weitere Erklärungen für die gestiegenen Preise könnten sein, dass der russische Rubel immer schwächer wird, die Preise für Tierhaltungskosten aber gestiegen sind. Auch die Vogelgrippe mache den Betrieben laut Medienberichten zu schaffen. Rosstat hat in seinen Veröffentlichungen in diesem Jahr damit begonnen, einzuräumen, dass sich die Preise eher »verändert« haben.

Die Kosten des Krieges belasten den Staatshaushalt, bei dem jetzt ein Drittel der Ausgaben in die Verteidigung geht, und die Regierung gezwungen haben, in den letzten zwei Jahren fast 6,5 Bio. Rubel aus dem »Nationalen Wohlfahrtsfonds«, umzuschichten. Aus einem »Reservefonds« werden Staatsausgaben finanziert, wenn der Ölpreis unter eine bestimmte Marke sinkt. Wenn nach der jährlichen Aufstockung weitere überschüssige Mittel vorhanden sind, werden diese dem Wohlstandsfonds zugewiesen, mit dem das Funktionieren der Pensionsfonds abgesichert und Projekte im Bereich der Infrastrukturentwicklung finanziert werden.

Im Juni 2017 schlug der Finanzminister vor, beide Fonds (erneut) zusammenzulegen. Entsprechend unterzeichnete Putin am 31. Juli 2017 ein Dekret über die Vereinigung beider Fonds unter dem Namen Fonds der Nationalen Wohlfahrt zum 1. Februar 2018. Zum ersten Juni 2017 hatte der Reservefonds einen Umfang von 932 Mrd. Rubel; der Wohlfahrtfonds von 4.192 Mrd. Rubel.

Zum 1. Februar 2022, also noch vor dem Überfall auf die Ukraine, kam der Wohlstandsfonds auf eine Summe von 174,9 Mrd. US-Dollar (13.610,27 Mrd. Rubel). Am 22. Februar 2022 wurde der Wohlfahrtsfond von den USA mit Sanktionen gegen Russland wegen des Überfalls auf die Ukraine belegt.

In den vergangenen zwei Wochen hat Putin signalisiert, dass die Steuern für Unternehmen und wohlhabendere Personen steigen werden, obwohl sein Finanzminister erst im Oktober gesagt hatte, dass sich die Grundsteuern für die nächsten drei Jahre nicht ändern würden. Ein hochrangiges Parlamentsmitglied, Anatoly Aksakov, sagte dieser Tage, dass die Einkommenssteuern auf 17% und 20% für Menschen steigen könnten, die mehr als fünf Mio. bzw. 10 Mio. Rubel verdienen, verglichen mit einem aktuellen Spitzensatz von 15%.


Unerfüllte und verschobene Ziele

Die von Putin in der Rede zum Stand der Nation im Februar2024 skizzierten Versprechen würden bis zu etwa zwei Bio. Rubel pro Jahr kosten. Aber in mehreren Schlüsselbereichen korrigierte er die Daten für die Erfüllung früherer Ziele oder verwies auf vergangene Zusagen, die nicht eingehalten wurden. »All das neue Zeug ist gut vergessenes altes Zeug«, sagte Dmitry Polevoy, Investments Director bei Astra Asset Management. Zum Beispiel sank die Zahl der Russen, die 2023 unter der Armutsgrenze von 14.339 Rubeln (156,57 US-Dollar) pro Monat leben, von 12,9% Ende 2017 auf 9,3% – eine Senkung, die weit hinter Putins Versprechen von 2018 zurückblieb, die Armutsrate zu halbieren. Im Februar verkündete er ein neues Ziel von 7% bis 2030.

Ökonom*innen sagen, dass die Haupttreiber für einen Rückgang der Armut im vergangenen Jahr höhere Löhne waren – ein Spiegelbild des Arbeitskräftemangels – sowie erhöhte Leistungen für Familien mit Kindern, höheren Gehältern, um Vertragssoldaten zu gewinnen, und Entschädigungszahlungen an die Familien der in der Ukraine Getöteten und Verwundeten. Die Löhne seien in Teilen des Landes mit hohen Konzentrationen der Verteidigungsindustrie am schnellsten gewachsen. Für Putin ist der Mangel an Arbeitern eines der Hauptrisiken für die Wirtschaft. Hunderttausende Menschen sind seit Kriegsbeginn aus dem Land geflohen oder wurden in der Ukraine einberufen, um zu kämpfen.

2018 hatte der Präsident sich auch das Ziel gesetzt, die Lebenserwartung bis 2024 auf 78 Jahre zu erhöhen, nun korrigierte er die Frist auf 2030, obwohl Rosstat sagt, dass die durchschnittliche Lebenserwartung Ende 2023 73,1 Jahre betrug und bestenfalls im Jahr 2037 die Zielgröße 78 Jahre erreichen wird.

Ein weiteres unerfülltes Ziel ist die Arbeitsproduktivität, von der Putin sagte, dass sie 2018 in den Kernsektoren Industrie, Bau, Verkehr, Landwirtschaft und Handel jedes Jahr um mindestens 5% wachsen müsse. Rosstats Maß für die Arbeitsproduktivität aber sank um 3,6% im Jahr 2022, dem ersten Jahr des Krieges, und die Daten für 2023 werden erst Ende dieses Jahres veröffentlicht. Putin unterstrich nun, Künstliche Intelligenz wäre ein wichtiger Motor für die Produktivität, gab aber kein neues Ziel an.

Seit 2012 strebt Russland eine Erhöhung der Kapitalinvestitionen auf 25% des BIP an, wobei Putin dieses Ziel 2018 wiederholte. Aber die Kapitalinvestitionen sanken auf 19,7% des BIP im Jahr 2022 von 21,4 % im Jahr 2017. Der Präsident erwähnte dieses Mal nicht das 25%-Ziel.

In seiner Februar-Rede ordnete er auch eine Erhöhung des Volumens russischer Nicht-Energie-Exporte wie Lebensmittel, Metalle, Düngemittel, Maschinen und Ausrüstung an. Bereits 2018 hatte er verkündet, dass sich diese Exporte bis 2024 auf 250 Mrd. US-Dollar verdoppeln sollten. Wenn sein neuestes Ziel erreicht wird, würden sie bis 2030 243,5 Mrd. US-Dollar betragen.

Der Präsident stellte in Aussicht, die Wirtschaft seines Landes, jetzt Nummer fünf in der Welt in Kaufkraftparität, werde bald unter die ersten vier vorstoßen. Aber laut Dmitry Polevoy, Investment Director bei Astra Asset Management, rangiert Russland nach dem Pro-Kopf-BIP – ein relevanteres Maß für den Lebensstandard – nicht weit über dem Median aller Länder. »Es wird wahrscheinlich in den kommenden Jahren zu einer wachsenden Spannung zwischen den beiden Zielen von Präsident Putin zum militärischen Erfolg in der Ukraine und der Erzielung der makroökonomischen Stabilität im eigenen Land kommen«, stellte Capital Economics in einem Bericht fest. Russlands lockere fiskalische Haltung, um den Krieg zu unterstützen, überhitzt die Wirtschaft.

Putin organisierte sich einen Rekordsieg bei der jüngsten Präsidentschaftswahl. Die spannende Frage ist, wie er damit umgeht, ggf. unpopuläre fiskalische Straffungen außerhalb des Krieges durchsetzen, um die makroökonomische Stabilität aufrechtzuerhalten. Und ob es Veränderungen in der politischen Landschaft geben wird.

Seit Kriegsbeginn vor zwei Jahren verhängte die Europäische Union (EU) ein Bündel von beispiellosen Sanktionen gegen Russland, inklusive der Blockierung von Auslandsvermögen der russischen Zentralbank in Höhe von rund 300 Mrd. Euro. Die meisten Banken des Landes sind vom internationalen Zahlungssystem Swift abgekoppelt. Es gibt einen Preisdeckel für russisches Öl und ein Verbot für Kohleausfuhren und Diamantenhandel. Russische Schiffe dürfen keine europäischen Häfen mehr ansteuern.

Ein 13. Sanktionspaket brachte die EU vor kurzem auf den Weg, um das Land weiter von Technologien und Märkten abzuschneiden. Doch Russlands Wirtschaft hat schon bisher schnell Wege gefunden, die Sanktionen zu umgehen und zeigt sich trotz aller Hindernisse robust. Der IWF verdoppelte deshalb gerade seine Wachstumsprognose für das Land auf 2,6%. Doch dieses Wachstum ist durch Kriegsproduktion und die Sanktionen verzerrt – auf Dauer dürfte beides an Russlands wirtschaftlicher Substanz zehren und das Wirtschaftspotenzial ausbremsen.

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