24. März 2022 Joachim Bischoff: Politisch-ökonomische Folgen des Wirtschaftskriegs

Russlands Krieg erschüttert die Weltwirtschaft

Foto: dpa

Die OECD (Organisation für wirtschaftliche Zusammenarbeit und Entwicklung der Industriestaaten) stellt zu Recht fest: »Die wichtigste Folge des Krieges in der Ukraine sind die verlorenen Menschenleben und die humanitäre Krise, die mit der großen Zahl von Belagerten und Vertriebenen verbunden ist. Es gibt jedoch auch zahlreiche bedeutende wirtschaftliche Implikationen.«[1]

Die russische Invasion ist auch eine große humanitäre Krise, von der Millionen Menschen in anderen Teilen der Welt betroffen sind, und ein schwerer wirtschaftlicher Schock von ungewisser Dauer und Größenordnung, in vielen anderen Ländern droht eine Hunger-oder Lebensmittelkrise. Vor dem Krieg wurde erwartet, dass sich die globale Erholung von der Pandemie in den Jahren 2022 und 2023 fortsetzen würde, unterstützt durch anhaltende Fortschritte bei den weltweiten Impfbemühungen, unterstützende makroökonomische Maßnahmen in den großen Volkswirtschaften und günstige finanzielle Bedingungen.

Der OECD-Wirtschaftsausblick vom Dezember 2021 prognostizierte ein globales BIP-Wachstum von 4,5% im Jahr 2022 und 3,2% im Jahr 2023. Nach den Störungen der gesellschaftlichen Reproduktion durch die Omicron-Variante erholten sich die meisten Ländern schnell. Gleichzeitig führten höhere Lebensmittel- und Energiepreise, Angebotsengpässe im Zusammenhang mit der Pandemie und eine rasche Erholung der Nachfrage ab Mitte 2020 zu einer Beschleunigung und Ausweitung der Inflation in den meisten OECD-Volkswirtschaften, insbesondere in den Vereinigten Staaten, Lateinamerika und vielen anderen Ländern Mittel- und Osteuropas.

Auswirkungen auf die wirtschaftliche Leistung

Der russische Einmarsch in die Ukraine, der anhaltende Krieg, aber auch die »scharfen« Sanktionen des Westens werden das Wirtschaftswachstum der Weltwirtschaft erheblich nach unten drücken. Bei länger anhaltenden militärischen Operationen oder Verschärfungen des »Wirtschaftskrieges«[2] droht eine weltwirtschaftliche Rezession. Schon vor dem Ukraine-Krieg war der Zustand der Globalökonomie nicht blendend. Die noch Anfang des Jahres erwartete Erholung der weltweiten Akkumulation wurde schon durch die immer noch anhaltende COVID-Pandemie und die Diskontinuität in den Lieferketten gebremst. Mit dem Krieg ergibt sich eine verschlechterte Konstellation: Die OECD rechnet mit einem verringerten Wachstum und geht davon aus, dass die weltweite Inflationsrate von 4,2% weltweit um weitere 2,47% in die Höhe schießen wird.

Der Russland-Ukraine-Krieg tangiert die Wirtschaft im Euro-Raum vor allem über höhere Energiepreise, aber auch höhere Lebensmittelpreise. Die Rückwirkungen wegen der ausfallenden Lieferungen von Kunstdünger und landwirtschaftlichen Produkten (Weizen, Mais) auf viele Länder in anderen Kontinenten sind verheerend. Hinzu kommen die Auswirkungen der größten Fluchtbewegung in Europa seit dem zweiten Weltkrieg. Angesichts der dramatischen Zerstörungen und des menschlichen Leids in der Ukraine ist es trotz der unsicheren Datenbasis gleichwohl unverzichtbar zu versuchen, die Folgen auf die globale wirtschaftliche Leistung abzuschätzen.

Die direkt vom Krieg betroffenen Wirtschaften – Ukraine und Russland – werden in einen Schrumpfungsprozess gedrückt. Für die Ukraine zeichnet sich auch bei einem Waffenstillstand eine brutale Zerstörung des Lebensprozesses ab.


Ukraine – das Armenhaus Europas

Der Überfall auf die Ukraine trifft eine der schwächsten Volkswirtschaften in Europa und des post-sowjetischen Bereichs. Die Ukraine, die einst das Aushängeschild des Zarenreichs und des Sowjetregimes war, ist nur noch ein Schatten ihrer selbst.

1990 betrug das Pro-Kopf-BIP der damaligen Sozialistischen Republik Ukraine innerhalb der UdSSR 16.428,5 US-Dollar. Das war zwar 24% weniger als das der Russischen Föderation und 31% weniger als der Durchschnitt der Region Europa und Zentralasien, aber es lag 70% über dem weltweiten Durchschnitt.

Dreißig Jahre später, im Jahr 2020, betrug das gleiche ukrainische Pro-Kopf-BIP nur noch 12.375,9 US-Dollar, was einem Rückgang um 25% entspricht. In der Zwischenzeit stieg das russische Niveau um 23%, das Niveau in Europa-Zentralasien um 42% und das weltweite Niveau um 67%. Die Ukraine ist also weiter verarmt und hat einen massiven Abstieg durchgemacht. Ihr Pro-Kopf-BIP-Niveau liegt nun 31% unter dem weltweiten Durchschnitt.

Entwicklung des Pro-Kopf-BIP seit 1990 in der Welt und in einigen osteuropäischen Ländern.

Die Ukraine hat zwischen 1990 und 2020 fast acht Mio. Einwohner*innen verloren, von 51,9 Mio. auf 44,1 Mio. Schon jetzt, ein Ende des Krieges ist noch nicht in Sicht, schätzen Expert*innen die kriegsbedingte Fluchtbewegung auf rund 25%.

Die wirtschaftliche Leistung war schon vor dem Krieg bedrückend gering. Grund: Der 1990 eröffnete Transformationsprozess hin zu einer kapitalistischen Ökonomie blieb in einer Ökonomie des politischen Klientelismus steckten. Die Übernahme von Unternehmen durch Oligarchen führte zu kleptokratischen Strukturen. Laut Weltbank gingen die Investitionen zurück. Eine Modernisierung der Industrieanlagen hat nie wirklich stattgefunden, die Vermögensverteilung war verzerrt und die Ukraine hat logischerweise auf den Weltmärkten an Boden verloren.

Diese Entwicklung bildete den gesellschaftlichen Nährboden für die Maidan-Revolution von 2014. Nach der politischen Umwälzung  stand der 21. Februar 2014 im Zeichen der Diplomatie und der Vermittlung gegenüber einer weiteren Rebellion in den östlichen Provinzen: Die Außenminister Deutschlands und Polens, Frank-Walter Steinmeier und Radoslaw Sikorski, hatten erreicht, dass der ukrainische Präsident Wiktor Janukowitsch mit der Opposition ein Abkommen zur Beilegung der Krise unterzeichnete und eine Befriedung des Bürgerkrieges eröffnete.

In Kiew oder Lwiw wurde der Sieg des Maidan als ein Sieg der Freiheit gefeiert. Aber im Osten tobte ein Krieg um eine Selbstverwaltung des russischen Bevölkerungsteils, der von Moskau gestützt wurde. Er forderte über Zehntausend Opfer, schuf unermessliches Leid und hält bis heute das ganze Land in seinen Fesseln. Die sich verschärfende Krise mit Russland führte dazu, dass sich das Land de facto für eine Annäherung an die EU entschied.

Das Regime des Internalen Währungsfonds (IWF) sorgte für eine Expansion der Dollar-Kredite. Zugleich haben die Auflagen des IWF die Deformationen des crony capitalism kaum zurückgedrängt. Zusätzlich eskalierte der Konflikt in der Donbass-Region, der letztlich das Wachstum der Ukraine massiv schwächte, da ihm die Ressourcen der von Russland annektierten Krim und der beiden besetzten Gebiete im Donbass entzogen wurden. Die Schätzung eines britischen Instituts kommt zum Ergebnis, dass sich die kumulierten Verluste zwischen 2014 und 2020 auf 280 Mrd. US-Dollar belaufen.

Nach dem Maidan, dem Bürgerkrieg im Donbass und dem Konflikt mit Russland konnte die Ukraine den völligen Bankrott nur dadurch vermeiden, dass das das Land seine Schulden gegenüber Russland nicht begleichen musste und den IWF in Anspruch nahm. Seit 2014 stabilisieren die Kredite des IWF und anderer westlicher Staaten (BRD) die Ökonomie und das Regierungssystem. Zwar ist es dem IWF nicht wirklich gelungen, eine aktive Korruptionsbekämpfung durchzusetzen, doch hat dieser Einfluss bewirkt, dass die Unabhängigkeit der Zentralbank NBU in der Verfassung verankert wurde und damit das Währungs- und Devisensystem funktioniert.

Eine Kehrseite dieser Stabilitätspolitik ist die Absenkung der Sozialausgaben. Zwischen 2014 und 2020 fielen sie von 20% auf 13% des BIP, und die Ausgaben für öffentliche Gehälter stagnierten. Bei einem bereits sehr geschwächten Sozialsektor mussten diese Maßnahmen die ukrainische Wirtschaft weiter belasten. Bei einer Arbeitslosigkeit von 10% und einer verarmten Bevölkerung war schon vor der militärischen Intervention Russland eine gesellschaftliche Erneuerung und Modernisierung der Wirtschaft extrem schwierig auf den Weg zu bringen. Nach dem jetzt absehbaren Ausmaß der Zerstörung der öffentlichen und privatkapitalistischen Infrastruktur sowie des Bevölkerungsverlustes muss das Land gleichsam bei null anfangen und wäre auf massive Entwicklungshilfe aus dem Westen angewiesen.

Das möglichweise größte Problem ist die anhaltende Fluchtbewegung. Der Migrationsforscher Knaus hält es für möglich, dass zehn Mio. Menschen aus der Ukraine fliehen, sich also die Bevölkerung von 44 Mio. erneut um ein weiteres Viertel vermindert. Ein größerer Teil wird nach Deutschland kommen. Fest stehe aber, dass »die Fluchtbewegung, die wir jetzt sehen, von der Zahl her historisch und einzigartig sein wird«. Knaus rechnet mit der größten Fluchtbewegung in Europa seit dem Zweiten Weltkrieg. Schon jetzt seien in einer Woche so viele Menschen aus der Ukraine geflohen wie im ganzen Jahr 2015 nach Griechenland gekommen sind.

Russlands Invasion ist in der Ukraine die Ursache für eine massive humanitäre und wirtschaftliche Krise, erklärte die IWF-Chefin Gregoriewa. Eine schwere Rezession in der Ukraine ist aus IWF-Sicht unvermeidlich. »Selbst wenn die Kriegshandlungen sofort aufhören, werden Wiederaufbau und wirtschaftliche Erholung massive Kosten verursachen«, sagte Gregoriewa – der IWF stützt schon jetzt die ukrainische Währung und Wirtschaft mit Milliardensummen stützt.[3]


Auch Russland droht eine schwere Rezession

Die Folgen des Krieges bleiben keinesfalls auf die Ukraine beschränkt. Russland rutscht, bedingt durch die harten Sanktionen, ebenfalls in eine schwere Rezession samt hoher Inflation und »stark sinkendem« Lebensstandard für den Großteil der Russ*innen. Der Westen hat auf den Krieg in der Ukraine mit beispiellosen Sanktionen reagiert. Die große Überraschung war, dass Transaktionen mit der russischen Zentralbank untersagt wurden und das Vermögen der Bank in der EU und den USA eingefroren wurde. Russland hat Währungsreserven in Höhe von 630 Mrd. US-Dollar. Auf einen großen Teil davon kann Moskau nun nicht zugreifen. Dies ist faktisch die Eröffnung eines folgenreichen Wirtschaftskrieges.[4]

Der russische Oligarch Oleg Deripaska sieht die russische Wirtschaftskrise als schwierige Wegstrecke: »Das wird wie die Krise von 1998, aber dreimal schlimmer und wird 3 Jahre dauern.« Die US-Bank JP Morgan ist in der Einschätzung etwas präzisier: Sie erwartet, dass Russlands Wirtschaft im zweiten Quartal 2022 um 35% und im Jahr 2022 um 7% schrumpfen wird, wobei die Wirtschaft einen mit der Krise von 1998 vergleichbaren Rückgang der Wirtschaftsleistung erleiden werde. Die Ökonomen Felbermayr und Braml verweisen darauf, dass auch »Deutschland einen Wirtschaftskrieg gegen Russland« führt, wenngleich es sich dessen noch nicht ganz bewusst sei. »Vielleicht muss Russland – ähnlich wie Deutschland im 20.Jahrhundert zweimal in kurzer Zeit wirtschaftlich, aber vor allem moralisch zusammenbrechen, ehe es dem Imperialismus abschwört und den Nutzen einer regelbasierten und freiheitlichen Friedensordnung anerkennt.«[5]

Gleichwohl: »Ein Zusammenbruch ist nicht zu erwarten. Es wird eine Rezession kommen, die russische Wirtschaft wird um zehn, 13 oder 15 Prozent schrumpfen. Aber wir müssen bedenken, dass der gesamte Export Russlands nur 28 Prozent des russischen Bruttosozialprodukts entspricht. Also es ist nicht die gesamte Volkswirtschaft, die tangiert wird. Auf den Einbruch wird eine Phase der Anpassung und Umstellung folgen, dann wird es eine Erholung geben. Langfristig wird das Wachstum wegen der Ineffizienzen deutlich langsamer ausfallen.«[6]

Auch die Nachbarstaaten der Ukraine und Russlands müssen sich laut IWF-Chefin Georgiewa auf sinkende Handelseinnahmen, ausbleibende Überweisungen von in Russland tätigen Landsleuten sowie Kosten durch die Aufnahme von Flüchtlingen einstellen.


Die anderen Regionen

Die Folgen für viele andere Länder ergeben sich aus der Erhöhung der Rohstoff- und Lebensmittelpreise sowie der Verminderung des Geldwertes. Der Internationale Währungsfonds steht kurz davor, seinen Weltwirtschaftsausblick deutlich nach unten zu revidieren. Er sieht drei Wirkungsketten am Werk: Preissteigerungen für Lebensmittel und Energie befeuern die Teuerung. Die sinkende Kaufkraft lässt die gesamtwirtschaftliche Nachfrage schrumpfen. Nachbarländer der Kriegsregion werden schwer in Mitleidenschaft gezogen. Ihre internationalen Lieferketten sind durchbrochen, der Handel ist gestört, zudem fließt nach Einschätzung des Währungsfonds weniger Geld über Auslandsüberweisungen. Überdies müssen die Nachbarländer eine große Anzahl an Flüchtlingen bewältigen.[7]

Vor allem in vielen Ländern Afrikas droht wegen des Ausfalls der Weizenexporte eine erhebliche Verknappung in der Lebensmittelversorgung und damit eine Hungerkrise. Der IWF befürchtet »massive« wirtschaftliche Folgen, nicht zuletzt außerhalb des Euro-Raumes. Einen »echten Schock« prognostiziert Georgiewa vor allem für den afrikanischen Kontinent: 42 von 54 Staaten dort seien Energieimporteure, die zugleich oft kaum die Mittel für staatliche Energiesubventionen hätten. Auf Getreideimporte aus Russland und die Ukraine angewiesene Staaten wie Ägypten stünden vor »dramatischen Problemen«, so Georgiewa. Sie bekräftigte auch, dass einige Staaten, darunter ebenfalls Ägypten, wegen Sanktionen im Zahlungsverkehr auf wichtige Einnahmen aus dem Geschäft mit russischen Touristen verzichten müssen.

Verschont bleibt auch Asien nicht. Teurere Lebensmittel und Energie sind dort ebenfalls absehbar. Das Ziel der chinesischen Führung von 5,5% Wirtschaftswachstum hält Georgiewa nun für »schwer erreichbar«. Und Indien, das sich gerade anschickt, zum bevölkerungsreichsten Land der Welt zu werden, dürfte ebenfalls stärker gegen die steigende Inflation ankämpfen müssen. Oft genug geht das mit steigender Arbeitslosigkeit einher.

In Südamerika dürften die steigenden Preise laut Georgiewa ein besonders großes Problem sein: Die Länder dort rängen immer noch stark mit den Folgen der Pandemie, zugleich sei die Inflation besonders hoch. Ob die höheren Lebensmittelpreise dortigen Exporteuren helfen, ist Georgiewa zufolge unsicher. Denn auch die globale Düngerversorgung ist in Gefahr, weil russische Exporte ausbleiben und sich Gas als Grundstoff zur Düngerherstellung so massiv verteuert.

Ob es unter dem Strich Profiteure der aktuellen Eskalation geben könnte, deutete die IWF-Chefin nur an. Es dürften die Staaten sein, die viele Energieträger exportieren und in denen Lebensmittelimporte eine eher geringe Rolle spielen – also höchstens eine Handvoll der 193 UN-Staaten.


Ukraine-Russland-Krise und das Finanzsystem

Die Gerüchte über einen bevorstehenden Staatsbankrott Russlands mit drastischen Rückwirkungen für das internationale Finanzsystem werden von vielen Expert*innen zurückgewiesen. Der Ausbruch einer systemischen Krise für das Finanzsystem aufgrund eines Zahlungsausfalls Russlands gilt daher als unwahrscheinlich. Darauf hat auch die IWF-Chefin Georgieva hingewiesen. Die Exponierung der Banken zu russischen Wertpapieren gilt als gering und darüber hinaus auch als bekannt. Beim Kollaps der US-Investmentbank Lehman Brothers im September 2008, auf dem Höhepunkt der Finanzkrise, sei hingegen das Problem gewesen, dass man nicht genau wusste, wer die riesigen Risiken in den Büchern hatte.

Die teurere Energie- und Rohstoffimporte treffen auf eine Weltwirtschaft, die bereits unter den Folgen der Pandemie, der hohen Inflation sowie leerer öffentlicher Kassen leidet. Nun würden die abermals steigenden Preise für geringere Kaufkraft und damit für eine sinkende Wirtschaftsleistung und mehr Armut sorgen, prognostizierte die IWF-Chefin.

Und dann ist da noch das Kapital, das in Krisen für gewöhnlich in sichere – also wohlhabende – Häfen flieht. Die Finanzierung staatlicher Kredite und privater Investitionen in ärmeren Staaten erschwert das, warnte Georgiewa.

Die aktuelle Omikron-Welle in der seit zwei Jahren wütenden Pandemie läuft langsam aus. Etliche Staaten nehmen die erlassenen Mobilitätseinschränkungen zurück. Im Jahr 2022 könnte der Übergang in ein epidemisches Stadium der Virus-Erkrankungen erreicht werden.

Weniger positiv stellt sich die angestrebte Rückkehr zum gängigen Akkumulationsmodus dar. Die erhoffte zügige Rückkehr zur Wirtschaftsdynamik ist nicht zu sehen. Die Wachstumsraten fallen geringer aus und die Preissteigerungsraten bleiben auf hohem Niveau. Angesichts der wirtschaftlichen Folgen des Krieges, eines schwächeren erwarteten Wachstums in China und den USA wird der Internationale Währungsfonds (IWF) seine Prognose zur Entwicklung der Weltwirtschaft weiter nach unten korrigieren müssen.


Konsequenzen für Deutschland

Die Energiepreise sind ein erheblicher Faktor für die Inflationsrate. Schon jetzt zeichnet sich ab, dass der russische Einmarsch in der Ukraine die Erholung der Weltwirtschaft von den Folgen der Corona-Krise bremsen wird. Trotz der vergleichsweise geringen Wirtschaftsleistung Russlands wird die internationale Ökonomie durch die Rohstoffe und die landwirtschaftlichen Produkte deutlich negativ beeinflusst.

Der russische Einmarsch in die Ukraine und die Sanktionen des Westens könnten das Wirtschaftswachstum in Deutschland 2022 etwa halbieren. Die Folgen des Ukrainekriegs bremsen die deutsche Wirtschaft laut Ifo-Institut 2022 deutlich und treiben zugleich die Inflation extrem hoch. »Wir erwarten in diesem Jahr nur noch zwischen 2,2 und 3,1 Prozent Wachstum«, sagte Ifo-Konjunkturchef Timo Wollmershäuser zur neuen Prognose. Bisher hatte das Ifo-Institut noch mit einem Anstieg des Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 3,7 Prozent gerechnet. »Die russische Attacke dämpft die Konjunktur über deutlich gestiegene Rohstoffpreise, die Sanktionen, zunehmende Lieferengpässe bei Rohmaterialien und Vorprodukten sowie erhöhte wirtschaftliche Unsicherheit.« Die Inflation dürfte so schneller steigen als gedacht. Das Ifo-Institut rechnet mit 5,1 bis 6,1% für 2022 statt der im Dezember noch erwarteten 3,3%.[8]

Die Bundesregierung hat bisher einen BIP-Anstieg um 3,6% angenommen. Während der Internationale Währungsfonds (IWF) ankündigte, wegen des Kriegs die Prognose für die Weltwirtschaft bald zu senken, kappten die deutschen Maschinenbauer deshalb bereits ihre Schätzung. »Statt eines ursprünglich erwarteten Zuwachses von real sieben Prozent rechnen wir nun für das laufende Jahr nur noch mit einem Produktionsplus von vier Prozent«, sagte der Präsident des Branchenverbandes VDMA, Karl Haeusgen. Der Krieg werde sich im Maschinen- und Anlagenbau deutlich auswirken und die noch nicht überwundenen Lieferengpässe abermals verschärfen. Laut VDMA-Umfrage betrachteten 85% von knapp 550 befragten Betrieben den Krieg als gravierendes oder merkliches Risiko für ihr Geschäft.


Säkulare Stagnation?

Ganz im Gleichklang mit der Akkumulationsbewegung in der Globalökonomie verzeichnet auch der US-amerikanische Reproduktionsprozess eine signifikante Erhöhung des Wirtschaftswachstums. Die amerikanische Wirtschaft ist im vergangenen Quartal so stark gewachsen wie seit Jahrzehnten nicht mehr und hat im vergangenen Quartal mit 6,9% auf Jahresbasis den höchsten Stand seit knapp 40 Jahren erreicht. Diese Beschleunigung der Akkumulation war auch das Resultat von enormen staatlichen Stützungspaketen. Zuletzt wurde nach langen Verzögerungen auch das zweite Anti-Krisenprogramm durch das Haushaltsgesetz mit einem Ausgabevolumen von rund 1,5 Bio. US-Dollar (1,36 Bio. Euro) bewilligt – darunter auch 13,6 Mrd. US-Dollar für humanitäre und militärische Hilfe für die Ukraine.

Allerdings sieht es trotz der Billionen schweren Hilfsprogramme nicht nach einem anhaltenden Boom, nach den »Roaring Twenties« des 21. Jahrhunderts aus. Nach kurzer Erholung fallen die Akkumulationsraten der kapitalistischen Länder wieder in einen tendenziellen Abwärtstrend zurück. Ein Teil der Ökonom*innen spricht von einem Trend zur säkularen (Larry Summers und Robert Gordon) Stagnation: Sie verweisen auf die geringen Steigerungen der durchschnittlichen Produktivitätssteigerungen. Die »tief hängenden Früchte« des technologischen Fortschritts, wie es im Amerikanischen heißt, seien allesamt geerntet. Die Epoche von 1870 bis 1970 mit ihrer Vervielfachung des Wohlstands wird als historische Ausnahme gesehen. Das kapitalistische System hat mit neuen Innovationsschüben und Produktivitätsfortschritten den gesellschaftlichen Wohlstand vorangetrieben, aber die Wachstumsraten flachen gleichwohl ab, weil r Aufwand und Einsatz für diese Produktivitätsgewinne immer höher wird.

Schon 1938 argumentierte der amerikanische Wirtschaftswissenschaftler Alvin Hansen: Wenn die Bevölkerung langsamer wächst und die Produktion weniger Kapital erfordert, sinkt die Nachfrage nach Konsum- und Investitionsgütern. Vollbeschäftigung werde deshalb nicht mehr erreicht. Hansen irrte sich gewaltig, weil er in der Endphase der großen Depression die wirtschaftliche Dynamik nach dem Zweiten Weltkrieg nicht voraussah.

Summers beharrt darauf, dass Hansens Argumente zu früh ad acta gelegt wurden. Er sieht Japan, wahrscheinlich Europa und womöglich auch die Vereinigten Staaten in einer Situation, in der zu wenig investiert wird, um das Angebot an Sparkapital zu nutzen.

Üblicherweise können solche Ungleichgewichte am Markt nur zeitweise existieren. Der Preis regelt Angebot und Nachfrage. Der Preis fürs Sparen und für Investitionen aber ist der Zins, genauer: der reale, um die Inflation bereinigte Zins. Er müsste fallen, um Sparangebot und Investitionen ins theoretische Gleichgewicht zu bringen – und damit die Wirtschaft zur Vollbeschäftigung.

Die staatliche Kredit- und Geldpolitik verliert in dieser Argumentationskette an Überzeugungskraft. Nicht unerwartet fordert Summers ausgedehnte schuldenfinanzierte Investitionsprogramme des Staates, um die Wirtschaft aus dem dauerhaft langsamen Wachstum herauszuführen. Allerdings stellen die hohen Preissteigerungsraten, wie wir sie auch in den USA sehen, diese Strategie der Bekämpfung des abflachenden Akkumulations- und Wachstumstrend vor weitere Herausforderungen.

Die aktuelle Entwicklung in den USA ist eine Illustration für diese Akkumulationsdynamik der kapitalistischen Metropolen. Mit enormen Ressourceneinsatz der staatlichen Fiskalpolitik, unterstützt durch eine offensive Kreditpolitik der US-Notenbank ist in den USA das Abrutschen der Wirtschaft in einen Krisenmodus verhindert worden. Mit historisch hohen Interventionen ist der Akkumulationsprozess am Ende der Corona-Pandemie wieder in beschleunigte Fahrt geschoben worden – trotz der Verzögerungs- und Blockadepolitik der republikanischen Kongress Minderheit. Die US-Akkumulationsdynamik glänzt mit hohen Zuwachsraten, aber die hohe Geldentwertung und der Kaufkraftverlust sind unangenehme Begleiterscheinungen und zugleich deutet sich der Rückfall in geringe Zuwachsraten an.

Fakt ist, dass die amerikanische Inflationsrate im Februar auf hohem Niveau erneut auf 7,9% zugelegt und damit ein weiteres 40-Jahre-Hoch erreicht hat. Aufgrund des Überfalls Putins auf die Ukraine wird sie mit großer Wahrscheinlichkeit auch in nächster Zeit sehr hoch bleiben, weil alle damit verbundenen Turbulenzen an den Energie- und Rohstoffmärkten noch nicht in den Daten enthalten sind.

Die US-Wirtschaft befindet sich zwar nach wie vor in einer guten Verfassung – Ende 2021 legte das BIP aufs Jahr gerechnet um 7% zu, und auch die Arbeitslosenquote ging auf 3,8% zurück. Doch der Ausblick ist vor dem Hintergrund des Ukraine-Krieges so unsicher wie selten zuvor.

Summers betonte stets, dass es sich in seiner Argumentation nicht um Fatalismus handelt, sondern um politische Strategien zur Förderung der gesamtgesellschaftlichen Nachfrage durch fiskalische Expansion. Um Vollbeschäftigung sicherzustellen, dürfen wir uns nicht auf zinspolitische Maßnahmen beschränken, um eine nachhaltige und angemessene gesamtwirtschaftliche Nachfrage zu unterstützen. Wie sich jetzt zeigt, wird die Tendenz zu geringen Zuwachsraten am Ende der Pandemie zurückkehren.

Die amerikanische Inflation liegt mit knapp 8% weiter über dem Ziel von 2%, am Arbeitsmarkt gibt es ungewöhnlich viele offene Stellen, und die US-Wirtschaft entwickelt sich trotz aller geopolitischen Turbulenzen vergleichsweise robust – und jetzt hat die amerikanische Notenbank Fed reagiert und den Leitzins zum ersten Mal seit Beginn der Corona-Pandemie um 0,25 erhöht. Sie stellte eine Reihe weiterer Erhöhungen in diesem Jahr sowie eine baldige Verkleinerung der Fed-Bilanz in Aussicht, um eine Überhitzung der Wirtschaft zu verhindern und um die Inflation zu senken.

»Die amerikanische Wirtschaft ist im Moment so stark, dass in den nächsten Monaten keine Rezession zu erwarten ist«, sagte Fed-Präsident Jerome Powell. Die Notenbank bekennt sich ausdrücklich zum Ziel der Preisstabilität und sei bereit, alle Mittel zu nutzen, um dieses zu erreichen. Denn die volkswirtschaftlichen Kosten einer hohen Inflationsrate sind zu hoch, und ohne stabile Preiserwartungen kann man kein nachhaltiges Wachstum erreichen.

Die amerikanische Volkswirtschaft sei, so Powell, nach der dynamischen Erholung der vergangenen Monate nicht mehr länger auf die außerordentlich großzügigen geldpolitischen Rahmenbedingungen angewiesen, und folglich gehe es darum, diese zurückzunehmen. Diese Entwicklung gehe sogar etwas weiter als das, was die Anleger an den Finanzmärkten bisher erwarteten, erklärte der Notenbankchef weiter mit Blick auf die jüngste Straffung verschiedener Indizes, welche die Finanzkonditionen abbilden.

Steigende Zinsen sollen die Inflation bremsen, indem sie die Nachfrage dämpfen. Sobald die Kreditaufnahme teurer wird, können sich weniger Menschen Immobilien, Autos usw. leisten, und die Unternehmen werden weniger in Produktionsstätten und neue Maschinen investieren. Das politische Fingerspitzengefühl besteht darin, den »geldpolitischen Entzug« richtig zu dosieren. Kommt er zu schnell oder fällt zu stark aus, droht die Wirtschaft in eine Rezession abzugleiten. Keine Frage, in Zeiten des Ukraine-Krieges ist dieses Risiko beträchtlich gewachsen. Mit diesem Manöver gehen auch die Impulse der US-Konjunktur auf die Globalökonomie zurück. Und selbst die VR China fällt als starker Impulsgeber aus.


VR China

Harte Sanktionen gegen Russland, anhaltende Corona-Infektionen, hohe Rohstoffpreise und Lieferengpässe bei Nahrungsmitteln sorgen in ganz Asien für Unsicherheit – vor allem auch für Chinas Wirtschaft.

Im vierten Quartal 2021 schwächte sich das Wachstum in China ab. Im Jahr 2022 wird jetzt ein Plus von 4,8% statt 5,5% erwartet. Chinas Ministerpräsident Li Keqiang hat vor den Delegierten des Nationalen Volkskongresses kürzlich erklärt, dass Chinas Wirtschaft im laufenden Jahr um »rund« 5,5% wachsen solle. Viele Expert*innen halten dieses Ziel für nicht erreichbar, es sei denn, die Regierung griffe auf alte, außer Kraft gesetzte Instrumente wie massive staatlich finanzierte Investitionsprogramme zurück.

Wirtschaftswachstum in VR China

Li verbreitet Optimismus. »China ist in der Lage, mit kurzfristigen wirtschaftlichen Fluktuationen umzugehen.« Das Land hat die wirtschaftlichen Auswirkungen von Covid-19 gut gemeistert, was zur positiven Entwicklung der Vermögenspreise im Jahr 2020 führte. Das Jahr 2021 war jedoch ein äußerst schwieriges für die Märkte, da die People's Bank of China die Geldpolitik straffte und der Bildungs- und Internetsektor stärker reguliert wurden. Das Wachstum wurde im Laufe des Jahres weiter gedämpft, da die Null-Covid-Strategie den Konsum bremste, überschuldete Immobilienunternehmen Schwierigkeiten hatten, ihre Schulden zu begleichen und das Land mit Engpässen in der Energieversorgung zu kämpfen hatte. Darüber hinaus kündigte die chinesische Regierung eine Verlagerung der politischen Prioritäten an, weg vom Wachstum um jeden Preis hin zu einem weiter verbreiteten Wohlstand.

Vor allem die hohen Rohstoffpreise, aber auch die Sanktionen des Westens dürften Bremsspuren in der Konjunktur hinterlassen. Für Nervosität sorgen bei den chinesischen Wirtschaftsexperten mögliche Lieferengpässe bei Dünge- und Nahrungsmitteln. Sowohl Russland als auch die Ukraine sind bedeutende Weizenproduzenten. Dabei ist die Lage in der chinesischen Landwirtschaft ohnehin angespannt. Derzeit kann sich China zu 80% selbst mit Nahrungsmitteln versorgen. Die Regierung möchte die Quote mittelfristig auf 95% erhöhen.

»Sanktionen wirken sich auf die globalen Finanzen aus, auf die Energieversorgung, den Transport sowie die Stabilität der Lieferketten und bremsen die globale Wirtschaft, die schon unter der Pandemie leidet«, sagte Chinas Staats- und Parteichef Xi Jinping jüngst warnend in einem Videogespräch mit Emmanuel Macron und Olaf Scholz, den Regierungschefs von Frankreich und Deutschland.

Für die abgeschwächte Wachstumsdynamik der VR China sind neben der anhaltenden Corona-Pandemie also auch die Rückwirkungen aus der dem Krieg zwischen Russland und der Ukraine nicht zu vernachlässigen. In der Konsequenz dürfte daher die VR China als Motor und Akkumulationszentrum für die Globalökonomie deutlich an Bedeutung verlieren.

Die Ukraine, aber auch einige EU-Staaten dringen auf eine weitere Verschärfung des Wirtschaftskrieges gegen Russland, vor allem auf einen EU-Importstopp für Energie aus Russland. Sie argumentieren, dass Präsident Putin mit den Einnahmen – jeden Tag mehrere hundert Millionen Euro – seinen Krieg finanziert. Die deutsche Ampel-Regierung stellt sich noch gegen diese Forderung nach einer Verschärfung des Wirtschaftskrieges. Es gibt aus Wissenschaft und Zivilgesellschaft gleichfalls klaren Widerspruch zu dieser Eskalationslogik.

Auch die Ökonomin Monika Schnitzer warnt eindringlich vor einer Einfuhrsperre für russisches Gas. »Ich habe die große Sorge, dass ein Gas-Embargo nicht nur massive wirtschaftliche, sondern auch gesellschaftliche Verwerfungen zur Folge hätte.«[9] Das Mitglied des Sachverständigenrates erklärt, dass das Update des Jahresgutachtens am 30. März auch deutliche Korrekturen enthalten werde.

Der Sachverständigenrat hatte im November für 2022 ein Wirtschaftswachstum von 4,6% und eine Inflationsrate von 2,6% prognostiziert. »Tatsächlich traut man seinen Augen kaum, wenn man heute die Zahlen vom November betrachtet. Damals war von der Omikron-Variante der Pandemie noch nicht wirklich etwas zu sehen. Jetzt wird die zweite Variante von Omikron die nächste Welle bringen. Dazu kommt der Krieg, dem eine – wie wir jetzt im Rückblick erkennen – von Russland geschürte Steigerung der Energiepreise vorangegangen ist. All das wird die Konjunktur dämpfen. […] Es ist auch offensichtlich, dass die Inflation deutlich höher liegen wird: sicherlich über 4 Prozent. Ich würde aber auch 5 und sogar 6 Prozent nicht ausschließen.«

Anmerkungen

[1] OECD, Economic and Social Impacts and Policy Implications of the War in Ukraine, 17.3.2022.
[2] Vgl. dazu Adam Tooze, »Wir führen einen Wirtschaftskrieg gegen Russland«. Die beispiellosen Sanktionen Europas und der USA gegen Russland markieren eine Wende, das Finanzsystem wird zur Kriegswaffe umfunktioniert, sagt Wirtschaftshistoriker Adam Tooze, Interview mit »Der Standard« vom 5.3.2022. Außerdem Martin Braml und Gabriel Felbermayr, Die Logik des Wirtschaftskrieges, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (FAZ) vom 18.3.2022.
[3] Presserklärung vom 23.3.2022.
[4] Siehe dazu Tooze, a.a.O.
[5] Braml/Felbermayr, a.a.O.
[6] Tooze, a.a.O.
[7] Vgl. dazu Winand von Petersdorff, Der Krieg bedroht die Weltwirtschaft, in: FAZ vom 17.3. 2022.
[8] Ifo-Konjunkturprognose Frühjahr 2022: Folgen des russisch-ukrainischen Krieges dämpfen deutsche Konjunktur, 23. März 2022.
[9] Neue Zürcher Zeitung (NZZ) vom 21.3.2022.

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