4. Mai 2020 Otto König /Richard Detje: Maximaler Druck statt Unterstützung

Sanktionen nehmen Menschenleben in Kauf

Human Rights Watch-Video: »Iran: Sanktionen gefährden Gesundheit«

In Zeiten der Corona-Pandemie ist internationale humanitäre Hilfe das Gebot der Stunde. Doch die »westliche Wertegemeinschaft« nutzt die Pandemie nun erst recht als Druckmittel gegen die nach ihren Maßstäben missliebigen Regimen. Sie reden von Solidarität mit den Bevölkerungen dieser Länder, verschärfen jedoch mit völkerrechtlich illegalen Zwangsmaßnahmen deren Leid und behindern den Kampf gegen das Covid-19-Virus, statt Menschenleben zu retten.

Unter dem Titel »Krieg mit anderen Mitteln« hatte der Journalist Fabian Goldmann die destruktive Wirkung der Sanktionen im »Deutschlandfunk« schon vor der Corona-Krise wie folgt kommentiert: Im Iran »hat Trumps Kampagne des ›maximalen Drucks‹ zwar zu keinem besseren Atom-Deal, stattdessen zu einem Mangel an Krebsmedikamenten und Lebensmitteln geführt. Wie in Venezuela, wo infolge des US-Öl-Embargos vom August 2017 wahrscheinlich schon über 40.000 Menschen wegen mangelnder medizinischer Versorgung gestorben sind. Wie in Nordkorea, wo internationale Sanktionen mitverantwortlich dafür sind, dass Millionen Menschen wieder einmal eine Hungersnot drohen. Wie in Syrien, wo auch die EU-Sanktionspolitik dazu beigetragen hat, dass das Gesundheitssystem und die Lebensmittel-versorgung zusammengebrochen sind und selbst Hilfsorganisationen aufgrund der Zwangsmaßnahmen ihre Arbeit einstellen müssen.«

Um den globalen Kampf gegen die Covid-19-Pandemie nicht zusätzlich zu erschweren, fordern die Vereinten Nationen dringend die Aufhebung von Sanktionen, »um den Zugang zu Nahrung, zur notwendigen gesundheitlichen Versorgung und zu Covid-19-Medikamenten sicherzustellen«, heißt es in einem Brief von UN-Generalsekretär António Guterres an die G20-Staaten. »Jetzt ist es Zeit für Solidarität, nicht für Ausschluss«, erklärt Guterres, der ausdrücklich darauf verweist, »dass wir in unserer miteinander verbundenen Welt nur so stark sind wie das schwächste Gesundheitssystem«.

Auch die UN-Hochkommissarin für Menschenrechte, Michelle Bachelet, fordert, »sowohl um der globalen öffentlichen Gesundheit willen als auch zur Unterstützung der Rechte und des Lebens von Millionen Menschen«, in den betroffenen Ländern Sanktionen aufzuheben. Es sei von entscheidender Bedeutung, den Zusammenbruch des medizinischen Systems eines jeden Landes zu vermeiden – »angesichts der explosiven Auswirkungen, die dies auf Tod, Leiden und eine breitere Ansteckung haben wird«.

Dass Solidarität vor allem von jenen westlichen Staaten verhindert wird, die am lautesten von ihr sprechen, zeigte sich, als die USA, die Europäische Union, Großbritannien, die Ukraine sowie Georgien eine von Russland in die UN-Generalversammlung eingebrachte Resolution scheitern ließen, die Guterres’ Appell aufgenommen hatte, Sanktionen während der Pandemie zumindest auszusetzen. Mit dem Festhalten an den Sanktionen stellen sich die transatlantischen Mächte, unter ihnen auch Deutschland, gegen mehr als zwei Drittel aller Staaten der Welt mit rund 80% der Erdbevölkerung. Denn die »Gruppe der 77«[1] verabschiedete danach gemeinsam mit China eine Erklärung, in der sie »schnelle und wirksame Maßnahmen« forderte, »um den Einsatz einseitiger ökonomischer Zwangsmaßnahmen gegen Entwicklungsländer zu unterbinden«.

Schon in »normalen« Zeiten sind die Wirtschaftssanktionen, die eklatant gegen das Völkerrecht verstoßen, für die Bevölkerung der betroffenen Staaten eine unerträgliche Belastung. »Noch schlimmer aber ist, dass diese Sanktionspolitik nun die Coronavirus-Pandemie verstärkt«, sagt Jeffrey Sachs, Direktor des Zentrums für nachhaltige Entwicklung an der Columbia University.

Gemeinsam mit einer Gruppe US-amerikanischer Wirtschaftswissenschaftlern forderte er die Washingtoner Administration auf, die einseitigen Zwangsmaßnahmen gegen Länder wie Venezuela, Kuba und Iran unverzüglich aufzuheben. Die US-Ökonomen betonen, dass ihre Forderung nach einem Ende der Sanktionen darauf abzielt, die Ausbreitung des Coronavirus abzubremsen. Sanktionen, die in der gegenwärtigen Situation die Fähigkeiten eines Landes einschränken, der Corona-Pandemie entgegen zu wirken, seien absolut unmoralisch und unmenschlich.

93.657 bestätigte Infizierte und 5.957 Todesfälle – das ist der offizielle Stand (29.04.2020) der Corona-Pandemie im Iran. Dass die Zahlen bald noch sehr viel höher liegen könnten, lässt eine Studie von Wissenschaftlern der Sharif-Universität in Teheran vermuten. Mit Computermodellen haben sie drei Szenarien durchgespielt: Sollte das iranische Gesundheitssystem vollständig zusammenbrechen, gehen sie von bis zu 3,5 Millionen Corona-Toten aus. Aber selbst im günstigsten Fall prognostizieren sie bis zu 12.000 Todesopfer (Nachdenkseiten, 23.03.2020).

Im Iran trifft die Pandemie auf ein Gesundheitssystem, das schon vor der Krise kaum in der Lage war, die Kranken des Landes zu versorgen. Schon im Oktober 2019 berichtete Human Rights Watch über die Folgen der US-Sanktionspolitik: Krankenhäuser können aufgrund der Restriktionen keine Medikamente und medizinische Geräte mehr beschaffen. Patienten seltenerer Krankheiten wie Leukämie und Epilepsie können nicht mehr richtig versorgt werden. Irans Außenminister Javad Zarif wandte sich vor kurzem per Twitter an die internationale Gemeinschaft: Benötigt werden unter anderem 1000 Beatmungsgeräte, 3,2 Millionen Test-Kits, über 170 Millionen Atemmasken. Grund für den Aufruf seien die »Beschränkungen beim Zugang zu Medikamenten und Geräten«, denen sich der Iran ausgesetzt sehe.

Der Internationale Gerichtshof forderte die USA schon im Oktober 2018 dazu auf, sämtliche Maßnahmen zurückzunehmen, die die Versorgung mit »Medizin, medizinischem Gerät, Nahrungsmitteln und Agrargütern« verhindern. Ohne Erfolg. Denn offiziell, so das Weiße Haus, würden sich die Sanktionen nicht auf humanitäre und medizinische Güter erstrecken. Das ist jedoch ein plumpes Täuschungsmanöver. Da dutzende iranische Banken auf die Sanktionsliste gesetzt und alle Geschäfte ausländischer Unternehmen mit diesen Geldinstituten durch die USA untersagt wurde, können kaum medizinische Produkte in den Iran verkauft werden, weil aus Furcht vor US-Repressalien kein ausländisches Finanzinstitut bereit ist, die Zahlungen abzuwickeln.

Weit davon entfernt, die Aktivitäten des »Regime Change« einzustellen oder Exporte von zumindest medizinischen Gütern zu genehmigen, hat die US-Administration ihre Zwangsmaßnahmen zuletzt gegen den Iran, Kuba und Venezuela sogar punktuell ausgeweitet, in letzterem Fall durch die Entsendung von Kriegsschiffen vor die Küste des Landes. Da der Regierung von Nicolas Maduro der Zugriff auf venezolanische Guthaben in den USA verweigert wird, hatte Caracas einen dringend benötigten Kredit beim Internationalen Währungsfonds (IWF) zur Bekämpfung der Pandemie beantragt. Doch IWF-Chefin Kristalina Georgiewa lehnte einen Corona-Notkredit für das Land mit der Begründung ab, dass »in diesem Augenblick keine Klarheit über die Anerkennung« der venezolanischen Regierung durch die »internationale Gemeinschaft« bestehe.

In transatlantischer Vasallentreue bekräftigte der EU-Außenbeauftragte Josep Borrell, auch Brüssel halte Sanktionen weiterhin für »unverzichtbar«, um gegen »Brüche des Völkerrechts«, gegen »Menschenrechtsverletzungen« und gegen »Störer von Friedensprozessen« vorzugehen. Und obwohl die EU ihre Kontakte zu Kuba intensiviert hat, tragen Borrell und große Teile der EU-Regierungschefs mit dazu bei, dass die USA ihre Finanzblockade gegen die Insel aufrecht erhalten kann, was die kubanische Regierung unter Präsident Miguel Díaz-Canel daran hindert, Medikamente und medizinische Geräte zu erwerben, die für eine Behandlung von Covid-19-Patienten unerlässlich sind.

Das kubanische Gesundheitswesen ist beispielsweise in zurückliegenden Jahren von den beiden europäischen Firmen IMT Medical AG und Acutronic Medical Systems mit medizinischen Geräten beliefert worden, die vom US-amerikanischen Konzern Vyaire Medical Inc. übernommen wurden, der damit zum führenden Anbieter von Beatmungsgeräten auf dem Weltmarkt geworden ist. Während der US-Konzern nach Ausbruch der SARS-CoV-2-Pandemie auf seiner Homepage versicherte, »es ist unser Ziel sicherzustellen, dass unsere globalen Kunden über die Produkte verfügen, die sie zur Bewältigung dieser globalen Gesundheitskrise benötigen«, wurden die Geschäftspartner in Havanna »mit Bedauern« darüber informiert, dass die zur Behandlung besonders schwerer Krankheitsfälle überlebensnotwendigen Geräte auf Grund von Bestimmungen der US-Blockade nicht mehr nach Kuba geliefert werden dürften.

Und doch ist es unter anderem Kuba, das Ärzte und medizinisches Personal in Krisen-regionen entsendet und mit dazu beiträgt, das Versagen des privaten Gesundheitssektors und der neoliberalen Ideologie der Privatisierung zu entlarven. Womöglich ist dies ein Grund dafür, weshalb die rechtsradikale kubanische Exilanten-Szene in Florida unter Führung von Senator Marco Rubio und das State Department unter Ex-Geheimdienst-Chef Mike Pompeo (»Wir haben gelogen, wir haben betrogen, wir haben gestohlen«), diesen Einsatz massiv diffamiert.

Wenn es mit der Rettung von Menschenleben ernst gemeint ist, müssen Wirtschaftssanktionen ausnahmslos gestoppt werden. Sie sind Mord. Wer sie weiterhin verteidigt, stellt sich ins politisch-moralische Abseits. Die Aufteilung der Welt in den »guten Westen« und die »Schurkenstaaten« abgelöst werden von einer Grenzen und Systeme überwindenden Solidarität, die über nationale Egoismen und eine Politik der Unterwerfung, die heuchlerisch mit dem Kampf für Menschenrechte bemäntelt wird, triumphiert.

Anmerkung

[1] Der »Gruppe der 77«, die bei ihrer Gründung im Jahr 1964 aus 77 Staaten bestand, gehören heute 134 Schwellen- und Entwicklungsländer an.

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