1. September 2019 Jeremy Corbyn

Schluss mit Johnsons populistischer Kabale!

Wir werden alles in unserer Macht Stehende tun, um den katastrophalen No-Deal-Brexit zu verhindern. Die konservative Regierung hat kein Mandat dafür. Einen vertragslosen Brexit durchzudrücken, der von der Mehrheit der Gesellschaft abgelehnt wird, ist ein Blitzangriff auf unsere Demokratie.

Die meisten Menschen in Britannien lehnen den No-Deal-Brexit der Tories ab. Johnsons Regierung will den vertragslosen Brexit nutzen, um eine Steueroase für Superreiche zu schaffen und um mit Trump einen unterwürfigen Handelsvertrag abzuschließen. Der No-Deal-Brexit würde Arbeitsplätze zerstören, die Preise in die Höhe treiben und die Institutionen unseres Sozialstaats für US-Unternehmen öffnen. Der überwiegende Teil der Gesellschaft will diesen Trump-Brexit nicht, genauso wenig wie den Crashkurs.

Johnson und die anderen Konservativen, die 2016 die Austrittskampagne betrieben haben, versprachen den Menschen einen Austrittsvertrag. Und als Außenminister verkündete Johnson 2017: »Es gibt keinen Plan für einen No-Deal-Brexit, weil wir einen Vertrag durchsetzen werden.«[1]

Das ist ihnen aber ganz offensichtlich nicht gelungen. Und jetzt, mit der Angst in Nacken, wegen seines Plans eines rücksichtslosen Trump-Deal-Brexit zur Rechenschaft gezogen zu werden, hat Johnson beschlossen, das Parlament zum Schweigen zu bringen, damit es genau das nicht einfordern kann.

Aber wir müssen nicht ins Jahr 2017 zurückgehen, um die Bezugspunkte für die vielen abrupten Kehrtwenden des neuen Premierministers zu finden, in fast jeder seiner politischen Positionen. Erst Ende Juli hatte er den EU-Bürger*innen versprochen,[2] er wolle zum Schutz ihrer Rechte die entsprechenden Gesetze auf den Weg bringen. Jetzt erfahren wir, dass die neue Innenministerin die Personenfreizügigkeit am 1. November beenden wird,[3] und zwar ohne neue Einwanderungsregeln oder Schutzmaßnahmen.

Diesem Premierminister kann man einfach nicht vertrauen. Vor einer Woche hat die Aufsichtsbehörde für Werbung eine Anzeige des Innenministeriums zum Registrierungsverfahren für EU-Bürger*innen verboten, weil sie irreführend ist. Und die App für die Registrierung wird erst Ende des Jahres fertig sein, also Monate nach dem Fristende. Das Wochenmagazin Spectator, bei dem Johnson einst Chefredakteur und Herausgeber war, warnt also zurecht: »Es gibt beunruhigende Anzeichen von Schlamperei und sogar für fahrlässiges Handeln in der Verfahrensweise des Innenministeriums.«[4]

Wir wissen bereits, welche Folgen solche Entscheidungen haben können. Der Schaden, den die »Politik der feindseligen Umwelt« der Tory-Regierung der Windrush-Generation zugefügt hat,[5] droht sich nun in noch größerem Umfang zu wiederholen, denn nun können rund drei Millionen EU-Bürger*innen, die hier bei uns leben, davon betroffen sein. Jede Woche treffe ich EU-Bürger*innen, die über ihre Zukunft in diesem Land besorgt sind. Leider gehen jetzt wieder viele, und mit ihnen verschwinden ihre Fähigkeiten und ihr hilfreicher Einsatz im NHS, in der Pflege und in den Schulen.

Der neue Verteidigungsminister Ben Wallace hat jetzt die Katze aus dem Sack gelassen, als er seiner französischen Amtskollegin sagte, dass das Parlament suspendiert werde, weil »wir uns mit der Situation konfrontiert sahen, keine Mehrheit zu haben.«[6] Wenn eine Regierung aber keine Mehrheit mehr hat, dann liegt die Lösung auf der Hand: Sie besteht nicht darin, die Demokratie zu untergraben, sondern die Lösung besteht darin, das Volk entscheiden zu lassen und eine Gesamterneuerungswahl des Parlaments anzusetzen.

Die kommende Woche könnte die letzte Gelegenheit sein, Johnsons Tory-Regierung daran zu hindern, uns über die Klippe eines vertragslosen Brexits zu treiben, in dessen Folge Arbeitsplätze gefährdet sind, der NHS in seinem Fortbestand bedroht ist, eine Grenze zwischen Nordirland und Irland neu errichtet wird und damit der Friedensprozess bedroht wird. Und in dessen Folge vom ersten Tag an Engpässe bei der Versorgung mit Lebensmitteln, Arzneien und anderen medizinischen Gütern auftreten werden.

Ein Wirtschaftszweig nach dem anderen warnt vor den zutiefst schädlichen Auswirkungen eines vertragslosen Brexits. In den letzten Wochen berichteten mir Landwirte, Automobilarbeiter*innen, NHS-Angestellte und viele andere im ganzen Land von ihren Sorgen und Ängsten wegen des Brexits.

Und jetzt, da der brasilianische Präsident Jair Bolsonaro – ein enger Verbündeter Trumps –den Amazonas-Regenwald brennen lässt, könnte es nicht klarer sein, dass wir im globalen Kampf gegen den Klimanotstand die Beziehungen zu Verbündeten auf internationaler Ebene noch stärker ausbauen müssen.

Die Gefahr eines Crashs bei einem Brexit ohne Vertrag schafft eine Atmosphäre der Angst und Unsicherheit. Aber ich bin entschlossen, sicherzustellen, dass die Labour Party die Menschen zusammenführt, indem wir die Hoffnung und das Vertrauen verbreiten, dass eine andere Zukunft möglich ist und dass für alle gesellschaftlichen Gruppen, für alle Nationen und für allen Regionen in unserem Land ein echter Wandel erreicht werden kann.

Die gesellschaftliche Bewegung gegen den No-Deal-Brexit wächst rasch, wie die spontanen Protestdemonstrationen gezeigt haben. Die Leute sind wütend, dass diejenigen, die behaupteten, wir würden die »Kontrolle zurückerobern«, jetzt die Kontrolle für sich behalten – mit dem Ziel, sie Trump und den US-Konzerngiganten im Rahmen eines Freihandelsabkommens zu übereignen, das den Weg für einen gigantischen Unterbietungswettbewerb öffnet.

An diesem Wochenende haben sich die Labour-Abgeordneten den vielen Protesten im ganzen Land angeschlossen. Die Menschen sind entschlossen, die populistische Kabale eines Schwindlers in der Downing Street zu unterbinden, der sich an den Interessen der Reichsten ausrichtet, der Mehrheit aber ihre demokratische Stimme verweigert. Nicht ein Premierminister ohne Mandat, sondern die Menschen sollten die Zukunft unseres Landes bestimmen.

Die Neuwahl des Parlaments ist jetzt der demokratische Weg nach vorn. Und bei dieser Wahl wird die Labour Party den Menschen die Möglichkeit geben, dass sie die Kontrolle zurückerobern und dass sie in der Brexit-Frage das letzte Wort haben werden, mit einem weiteren Referendum mit glaubwürdigen Optionen für beide Seiten, einschließlich der Option, Mitglied in der EU zu bleiben.

Im Strudel der kommenden Tage und Wochen dürfen wir nicht vergessen, dass die Souveränität nicht bei der Regierung oder dem Parlament, sondern beim Volk liegt.

Jeremy Corbyn ist Parteivorsitzender der Labour Party und Oppositionsführer im Unterhaus des britischen Parlaments. Der hier dokumentierte Beitrag erschien unter dem Titel Final sovereignty on Brexit must rest with the people zuerst in The Observer vom 1.9.2019. Aus dem Englischen von Hinrich Kuhls.

Anmerkungen

[1] Nicholas Mairs: Boris Johnson - Britain has 'no plan' for leaving EU without a trade deal. PoliticsHome, 11.7.2017.
[2] Tamara Cohen: Boris Johnson to enshrine EU citizens' rights in preparation for no-deal. SkyNews, 25.7.2019.
[3] ›Reckless‹ plan to cut off free movement alarms EU nationals. The Guardian, 19.7.2019.
[4] Fraser Nelson: Battle begins. Boris Johnson is going to war over Brexit. But what is he fighting for?, The Spectator, 31.8.2019.
[5] Siehe hierzu Hinrich Kuhls: Die feindselige Migrationspolitik der britischen Regierung. Demaskierung des konservativen Populismus. Sozialismus Aktuell vom 2.5.2018 [Anm. der Red.]
[6] Defence Secretary Ben Wallace overheard discussing Parliament suspension. BBC News Online, 29.8.2019.

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