25. Juli 2016 Otto König / Richard Detje: Der Chilcot-Bericht zum Irakkrieg 2003
Schuldspruch ohne Konsequenz
»Ich muss feststellen: Mein Sohn ist umsonst gestorben«, war der bittere Kommentar nicht nur eines Familienangehörigen nach der Vorstellung des Chilcot-Berichts in London.[1] Nach sechsjähriger Untersuchung steht fest: 179 britische Soldaten und rund 150.000 Iraker wurden Opfer eines illegitimen Angriffskrieges.
Der nach dem Vorsitzenden der Kommission John Chilcot benannte 12-bändige Bericht stellt dem ehemaligen britischen Premier Tony Blair und seiner damaligen Regierung in Sachen »Professionalität und Entscheidungsfindung« ein erschütterndes Zeugnis aus. Ohne es explizit zu formulieren, werden die Hauptverantwortlichen zu Kriegsverbrechern erklärt.
Vor 13 Jahren, im März 2003, drei Tage vor dem Einmarsch britischer Truppen in die vorderasiatische Republik billigte das britische Unterhaus den Angriffskrieg. 217 der 650 Abgeordneten stimmten mit nein, darunter 139 Abgeordnete der Labour-Partei. Aus Protest gegen die Irak-Politik der britischen Regierung traten Außenminister Robin Cook und drei weitere Minister zurück. In jenen Tagen gingen Millionen Briten gegen den Kriegskurs des Premierministers auf die Straße.
»War es richtig und notwendig, in den Irak einzumarschieren und das Land zu besetzen?« Dieser Frage ging die Kommission nach, sie analysierte 150.000 geheime Regierungsdokumente und hörte mehr als 120 Zeugen. Ihr vernichtendes Urteil lautet: Die Suche nach friedlichen Lösungen sei nicht intensiv genug betrieben worden. »Ein militärisches Eingreifen war nicht die ultima ratio«, schreibt Chilcot, es habe damals ausreichend andere Möglichkeiten gegeben, mit dem Regime von Saddam Hussein umzugehen.
Die entscheidende Rechtfertigung für den Angriffskrieg war in Washington ebenso wie in London, der irakische Präsident Saddam Hussein verfüge über Massenvernichtungswaffen. Schon im September2002 präsentierte Blair dem Parlament ein auf Geheimdienstinformationen basierendes Dossier und erklärte: »Wir wissen, dass er [Saddam Hussein] große Mengen an chemischen und biologischen Waffen hortet.« Im Chilcot-Bericht heißt es dazu: »Das Urteil über die Schwere der Bedrohung durch Iraks Massenvernichtungswaffen wurde mit einer Sicherheit präsentiert, die nicht gerechtfertigt war.«
Die Invasion wurde aufgrund »fehlerhafter« geheimdienstlicher Erkenntnisse begonnen und niemand stellte sie in Frage, obwohl das angebracht gewesen wäre, so der Vorsitzende der Kommission. Saddam Hussein verkörperte keine »unmittelbare« Gefahr, die Behauptungen, der Irak würde über Massenvernichtungswaffen disponieren, »trafen nicht zu« – um den völkerrechtswidrigen Angriff zu rechtfertigen, wurde ein »Fake« konstruiert, vage Einschätzungen wurden den Abgeordneten als unverrückbare Tatsachen präsentiert.
Die Invasion war auch rechtlich heftig umstritten, da sie nicht durch ein klares Mandat des UN-Sicherheitsrats gedeckt war. Der Chilcot-Report kommt zu dem Ergebnis, dass die Resolution 1441 von Ende 2002 kein militärisches Eingreifen gegen den Irak rechtfertigte. Dafür hätte es einer neuen Resolution bedurft, um die sich die US-Regierung unter Bush zwar bemühte, die jedoch wegen des Vetos Frankreichs nicht zustande kam.
Eine Mehrheit im Sicherheitsrat hatte die Fortsetzung der Inspektionen der irakischen Waffensysteme durch die UN-Rüstungskontrollkommission empfohlen. Ohne Zustimmung des Sicherheitsrates war es ein »völkerrechtlich illegaler Angriffskrieg gegen einen souveränen Staat«, stellt der Untersuchungsbericht fest.
Der Report beschreibt Blair als treibende Kraft für die Invasion. Der britische Premier war demnach schon wenige Wochen nach den Anschlägen vom 11. September 2001 auf das World-Trade-Center in New York überzeugt, dass Hussein gestürzt werden müsse. Dies traf sich mit der Politik der US-Administration, die sich nach dem Anschlag auf ein »regime change« im Irak festgelegt hatte.
Die Untersuchung sieht die Quelle des politischen Unheils in einem Treffen von Tony Blair und George W. Bush im Frühjahr 2002 auf dessen Ranch in Crawford, Texas. Hinsichtlich der Frage, ob die britische Kriegsteilnahme vorab abgesprochen wurde, zitiert der Bericht aus einem vertraulichen Memo vom 28. Juli 2002, in dem der Labour-Politiker Blair dem Republikaner Bush seine bedingungslose Solidarität versichert: »I will be with you, whatever« (Was auch immer, ich bin an deiner Seite).
Beide Politiker hegten die absurde Vision, »ein Leuchtfeuer der Demokratie« zu entzünden, als sie die Region im Nahen Osten in Brand setzten. Doch es ging in dem zweiten Irak-Krieg[2] unter dem Namen »Operation Irakische Freiheit«, weder um Freiheit noch um Demokratie, sondern um geopolitische Interessen und um »Öl«. So notiert der damalige britische Verteidigungsminister Geoffrey W. Hoon in einer Notiz, es sei wichtig, mit US-Verteidigungsminister Donald Rumsfeld über »große Verträge für den Wiederaufbau des Irak, Verhandlungen auf Augenhöhe für britische Geschäftsleute im Ölsektor und anderen Bereichen« zu reden.[3]
Die von der anglo-us-amerikanischen Koalition eingesetzte und kontrollierte Besatzungsbehörde »Coalition Provisional Authority« (CPA) hob den irakischen Staat aus den Angeln. Die CPA löste die Armee und Ministerien auf, verbot Parteien und setzte einen Übergangsrat ein, in dem die Iraker entsprechend ihrer religiösen und ethnischen Zugehörigkeit prozentual vertreten waren. Die Behörde hob das Gesetz über staatliche Subventionen zugunsten armer Bevölkerungs-gruppen auf und beseitigte alle Gesetze, die die irakische Wirtschaft vor ausländischem Kapital und Investoren abgeschirmt hatten. Chilcot weist daraufhin, dass nach dem ersten Jahr unter der Besatzungsbehörde CPA mehr als 60 britische Firmen im Irak gearbeitet haben. Das Auftragsvolumen betrug »schätzungsweise 2,6 Milliarden US-Dollar«.
Die irakischen Streitkräfte wurden durch die »Koalition der Willigen« innerhalb weniger Wochen besiegt, aber ein Frieden wurde nie erreicht. Im Gegenteil: Bis heute herrschen im Irak chaotische Zustände, Teile des Landes werden von der Terrormiliz Islamischer Staat (IS) kontrolliert. Der Report kritisiert: »Trotz ausdrücklicher Warnungen wurden die Folgen einer Invasion unterschätzt. Die Planungen und Vorbereitungen für einen Irak nach Saddam waren vollkommen unzureichend.«
Die Untersuchungskommission weist die Einlassungen von Blair, man habe die Risiken des Einmarschs nicht voraussehen können, zurück und stellt fest: »Die Risiken, dass im Irak interne Kämpfe ausbrechen, dass der Iran aktiv seine Interessen verfolgt, dass die ganze Region destabilisiert und al-Qaida aktiv wird, wurden vor der Invasion deutlich erkannt«. Durch den Sturz der Regierung und die Auflösung staatlicher Institutionen im Irak entstand ein Vakuum, das »Raum für die verheerende Ideologie der Gotteskrieger und des ›Islamischen Staates‹« geschaffen hat.
Dass der Chilcot-Bericht feststellt, dieser Krieg war illegitim, ficht Blair bis auf den heutigen Tag nicht an. Er hält die Entscheidung, in den Irak-Krieg zu ziehen, nach wie vor für richtig: »Die Welt ist meiner Ansicht nach ohne Saddam Hussein eine bessere.« Dem widerspricht der derzeitige Labour-Vorsitzende Jeremy Corbyn mit aller Entschiedenheit: »Die Entscheidung, in den Irak einzumarschieren, ... war ein Akt militärischer Aggression unter Vorspiegelung falscher Tatsachen. Und nach der überwiegenden Auffassung internationaler Juristen gab es dafür keine Rechtsbasis«.
Der Krieg im Irak war eine Katstrophe: Das Land ist zerstört, vier Millionen Iraker sind geflohen, vor Beginn dieses Krieges lebten rund 1,5 Millionen Christen im Irak, heute sind es weniger als eine halbe Million. Es gibt kaum Arbeit, die Institutionen sind gelähmt, Jahrtausende altes kulturelles Erbe wurde vernichtet, zählt der chaldäisch-katholische Patriarch Louis Raphaël I im Gespräch mit Fides, dem Katholischen Missionarischen Nachrichtendienst des Vatikans auf, und fügt mit Blick auf Blair hinzu: »Ich frage mich, wie man behaupten kann, dass dieser Krieg gut war für den Nahen Osten.«
Nach Abschluss der Arbeit der Untersuchungskommission steht fest: Der britische Premier und der US-amerikanische Präsident führten einen Angriffskrieg auf die souveräne Republik Irak. Doch welche konkreten juristischen Folgen dieser Bericht haben wird, ist fraglich. Nach internationalem Recht und nach den Maßstäben, die in den Nürnberger Prozessen für die Urteile gegen die nationalsozialistischen Amtsträger zu Grunde gelegt wurden, sind die Planung, Vorbereitung und Durchführung eines Aggressionskriegs strafbar. Anthony Blair und George W. Bush sind nach dieser Rechtsauffassung Kriegsverbrecher und gehören vor den Internationalen Strafgerichtshof in Den Haag.
Der südafrikanische Erzbischof und Friedensnobelpreisträger Bischof Desmond Tutu stellte schon im Jahr 2012 in der britischen Tageszeitung The Observer fest: »In einer gerechten Welt würde das allein ausreichen, dass diejenigen, die dieses Leid und diesen Verlust an Menschenleben verursacht haben, denselben Weg beschreiten müssen wie manche ihrer afrikanischen Kollegen, die sich für ihre Taten in Den Haag verantworten mussten.«
[1] 2009, sechs Jahre nach dem Irak-Krieg, ordnete der damalige Premierminister Gordon Brown die »Untersuchung der Umstände der britischen Kriegsbeteiligung an«. Das Ergebnis ist ein 2,6 Millionen Worte starker Bericht, der die Entscheidungen der britischen Regierung, des Militärs und der Geheimdienste von 2001 bis 2009 umfasst. www.iraqinquiry.org.uk
[2] Der erste Krieg gegen den Irak, auch bekannt als »Golfkrieg« von 1990/91, wurde von US-Präsident George Bush (Senior) an der Spitze einer Koalition von 34 Ländern angeführt, die, mit einem UN-Mandat versehen, den Einmarsch der irakischen Truppen von Saddam Hussein in Kuwait stoppten. Er endete mit der Niederlage des Irak und dem Rückzug aus Kuwait.
[3] Entsprechend wird der langjährige Chef der US-Notenbank, Alan Greenspan, in der von Sebastian Mallaby verfassten Biographie »The Man Who Knew: The Life and Times of Alan Greenspan«, die im Oktober 2016 erscheinen soll, zitiert.