16. Mai 2022 Redaktion Sozialismus.de: Die Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen

Schwarz-Gelb abgewählt, kommt nun Schwarz-Grün?

Mona Neubaur und Hendrik Wüst (Foto: dpa)

Eindeutiger Gewinner der Landtagswahlen in Nordrhein-Westfalen sind die Grünen, die mit einem Stimmenanteil von 18,2% ihr Ergebnis von 2017 um 11,8% verbessern konnten.

Den Grünen verschafften die Wähler*innen einen starken Zuwachs, sie kommen zwar erst als drittstärkste politische Kraft ins Ziel – doch holten sie fast gegenüber der letzten Landtagswahl im Jahr 2017 dreimal so viele Wähler*innenstimmen. Dieses Ergebnis überrascht nicht allzu sehr angesichts ihres bundesweiten Umfrage-Höhenflugs.

Sieger der als »kleine Bundestagswahl« bezeichneten NRW-Landtagswahl ist die CDU, die mit 35,7% mit einem deutlichen prozentualen Stimmenzuwachs (+2,7%) erneut zur stärksten Partei wurdet. Vor dem Hintergrund einer historisch niedrigen Wahlbeteiligung hat sie allerdings etwa 244.000 Stimmen weniger erhalten als 2017. Die Sozialdemokratie erreichte mit 26,7% das schlechteste Wahlergebnis ihrer Geschichte. Gegenüber 2017 war das ein Verlust von 4,6% bzw. 744.000 Stimmen. Die Hoffnung auf ein neues »sozialdemokratisches Jahrzehnt« hat nach Schleswig-Holstein[1] erneut einen herben Dämpfer bekommen.

Ein dramatischer Einbruch ist das Ergebnis für die FDP, die – wie schon in Schleswig-Holstein – auch in NRW mit 5,9% einen Rückschlag von 6,7% (Verlust von 647.000 Wähler*innenstimmen) hinnehmen musste. Die AfD, die 2017 noch als Anti-System- und Protestpartei reüssieren konnte, hat mit 5,4% – anders als in Schleswig-Holstein – den Wiedereinzug in den Landtag geschafft, musste aber gleichwohl deutliche Stimmenverluste (-1,8%; - 237.000 Stimmen) verbuchen. DIE LINKE hat erneut deutlich verloren. 269.000 frühere Wähler*innen haben dieses Mal in Nordrhein-Westfalen nicht mehr für sie votiert. Nachdem sie 2017 noch mit 4,9% den Einzug in den Landtag nur knapp verpasst hat, markiert der jetzt erreichte Anteil von 2,1% den endgültigen Übergang in die politische Bedeutungslosigkeit.

Etwa 13,2 Mio. Wahlberechtigte in Nordrhein-Westfalen waren am 15. Mai dazu aufgerufen, ein neues Landesparlament zu wählen. Die Wahlbeteiligung hat mit 55,5% einen historischen Tiefstand erreicht. (den bisherigen gab es im Jahr 2000 mit 56,7%). Bei der Wahl 2017 hatte die Wahlbeteiligung noch 65,2% betragen. Bei der Bundestagswahl im September 2021 lag sie in NRW bei 76,4.

Etwa 5,76 Mio. stimmberechtigten Bürger*innen habe nicht an der Wahl teilgenommen – 1,2 Mio. mehr als noch 2017. Dies ist ein deutlicher Ausdruck der wachsenden Distanz vieler Bürger*innen gegenüber dem politischen System. Bis auf die Grünen haben laut Infratest Dimap alle Parteien Abwanderungen zu den Nichtwähler*innen zur verzeichnen (CDU = - 190.000, FDP = -130.000, AfD = -160.000 und Sonstige = -180.000). Am stärksten war die Abwanderung zu den Nichtwähler*innen bei der Sozialdemokratie: 310.000 frühere Wähler*innen blieben dieses Mal der Wahlurne fern.


Die beherrschenden Wahlkampfthemen

Mit diesem Wahlergebnis ist eine Neubildung der bisherigen schwarz-gelben Koalition nicht mehr möglich. Während die CDU ihr zeitweilige Schwächeperiode in den letzten Monaten wettmachen konnte, hat die FDP eine klare Abstrafung als Regierungspartei erfahren. Insofern spricht viel für eine schwarz-grüne Landesregierung, da eine »Ampel« mit zwei Verlierern (SPD, FDP) politisch kaum zu vermitteln sein wird.

Auch wenn der Ukraine-Krieg bei den in den Nachwahlbefragungen erhobenen wichtigsten Themen eher auf einem hinteren Platz rangiert, hatte er natürlich Auswirkungen auf die politische Agenda in Berlin und Düsseldorf. Zudem gehört die durch den Krieg noch verschärfte Steigerung der Lebenshaltungskosten zu den Themen, die die Bürger*innen in ihrem Alltag am meisten sorgen. Einfluss auf die Wahlentscheidung hatte auch das Verhalten einzelner Minister*innen während und nach der Flutkatastrophe im Sommer 2021, die verschiedene Landesteile besonders hart traf (Hagen, Wuppertal, Erftstadt). Dabei wurde offensichtlich, dass die Sparrunden wechselnder Landesregierungen den Katastrophenschutz ruiniert hatten, Informations- und Entscheidungswege nicht existieren, weil die Folgen des Klimawandels unterschätzt werden.

Die zentralen Themen der letzten Jahre wurden durch beide Entwicklungen überlagert. Die »Ampel«-Parteien und Konservativen unterstützen gemeinsam die NATO-Politik. Doch sie senden unterschiedliche Signale: Friedrich Merz, der seine Homebase in NRW hat, fordert mehr Verve, CDU-Siege stärken ihn. Kanzler Olaf Scholz neigt zur Vorsicht. Die Kritik daran hätte er leichter ignorieren können, wenn die SPD in NRW gewonnen hätte.

Dass es bei der NRW-Landtagswahl hätte knapp werden können, lag nicht nur daran, dass sowohl der amtierende Ministerpräsident Hendrik Wüst (als kurzfristiger Nachfolger des gescheiterten CDU-Kanzlerkandidaten), als auch der Herausforderer von der SPD, Thomas Kutschaty, relativ unbekannt blieben. Aber auch so waren vor dem Hintergrund von Corona-Pandemie und Ukraine-Krieg Transformationsstrategien, Digitalisierung und Klimawandel nicht die beherrschenden Themen des Wahlkampfes.

Ministerpräsident Wüst hatte im Wahlkampf das Thema Energie aufgegriffen: »Die Energiepreise sind in Nordrhein-Westfalen in der Tat ein großes Thema, denn wir haben hier viele energieintensive Industriezweige. Denken Sie nur an die Chemie- und die Stahlindustrie. Hier bei uns fließt der Rhein; unsere wichtigsten Seehäfen sind Rotterdam, Antwerpen und Zeebrügge, wo es ein LNG-Terminal gibt. Vor vier Wochen haben wir eine Energiepartnerschaft mit Flandern beschlossen. Über die belgischen und niederländischen Häfen führen wir Gas und Wasserstoff ein, unabhängig davon, was die Bundesregierung in dieser Hinsicht in Norddeutschland macht. Im Bundesrat, der deutschen Länderkammer, haben wir eine Initiative zur Senkung der Energiepreise eingebracht.

Wir setzen auf eine Senkung der Mehrwertsteuer und der Energiesteuer bei den Energiekosten und auf eine Erhöhung der Pendlerpauschale ab dem ersten Kilometer, denn rund die Hälfte der Bürger in Nordrhein-Westfalen pendelt jeden Tag zur Arbeit […] In Nordrhein-Westfalen haben wir keine Atomkraftwerke, aber wir können anbieten, unsere Braunkohlekraftwerke in der Reserve vorzuhalten. Bis zum Jahr 2028 vollzieht sich der deutsche Kohleausstieg ausschließlich in Nordrhein-Westfalen. Unser Ziel ist es, den Kohleausstieg bis 2030, spätestens aber bis 2038 zu schaffen. Daran sollten wir festhalten. Aber auf dem Weg dorthin sollten wir mit Blick auf die Versorgungssicherheit maximal pragmatisch und flexibel sein.«

Trotz dieses Plädoyers für eine sozial ausgewogene Energiepolitik ist die faktische Bilanz miserabel. Bei der Windenergie reicht es für das Flächenland NRW nur zu Platz vier mit einer installierten Leistung von knapp 6.400 Megawatt Ende 2021. Damit landet das Bundesland weit hinter Spitzenreiter Niedersachsen (über 11.600 Megawatt). Ein wirklicher Erfolg ist das eher nicht. Denn mit diesen Ausbau-Quoten ist das Ziel von 12 Gigawatt installierte Leistung Windenergie bestenfalls nur noch theoretisch zu erreichen. Laut dem LEE müssen dafür landesweit jedes Jahr 200 Windenergieanlagen der Fünf-Megawatt-Klasse neu in Betrieb gehen.

Anders gesagt: Eigentlich muss NRW das Ausbau-Tempo bei der Windenergie verdoppeln. Hier hätte sich auch DIE LINKE profilieren können, die allerdings offenbar lieber abwartet, bis sie sich an den Widerstand gegen die Wiederbelebung des Fracking hängen kann, die von der FDP angeregt wird.

Kompromissbereit zeigten sich SPD-Spitzenkandidat Thomas Kutschaty und die grüne Listenführerin Mona Neubaur bei einer möglichen Verzögerung des Kohleausstiegs, wenn der einen schnelleren Verzicht auf russisches Gas ermöglicht.[2] Wüst hingegen betonte: »Wir werden auch in Zukunft Gas brauchen, nicht zuletzt für die Industrie.« Damit gelang es ihm, die Debatte über die angebliche Russlandfreundlichkeit der Regierungen Merkel zu unterlaufen und sich in der Wählergunst leicht nach vorne zu schieben.

In der Zufriedenheit mit der Landesregierung und in der Beurteilung der Lösungsfähigkeit der beiden größeren Parteien waren die NRW-Stimmbürger*innen vor der Wahl gespalten. Bei der Kompetenz, »die wichtigsten Probleme des Landes zu lösen«, haben allerdings CDU wie SPD dramatisch verloren und lediglich die Grünen signifikant hinzugewonnen.

Die Themenbereiche Wirtschaft und Arbeit sind in NRW entscheidende Dimensionen für das Wahlverhaltens. Hier haben die beiden Parteien, die den Anspruch erhoben hatten, den Ministerpräsidenten zustellen, drastisch verloren.

Ein weiteres Schlüsselthema in NRW ist der Verkehr: 60 Brücken müssen allein auf der A45 saniert werden. Aber im TV-Duell im Vorfeld der Wahlen redeten alle Parteienvertreter*innen an der Größe des Problems vorbei. Die grüne Spitzenpolitikerin Neubaur wollte Sanierung vor Neubau priorisieren. Die seit Monaten komplett gesperrte Rahmede-Talbrücke auf der A45 bei Lüdenscheid sei ein »Symbol dafür, dass wir priorisieren müssen«. Wüst widersprach: Auch neue Umgehungsstraßen für verkehrsgeplagte Ortschaften seien wichtig. FDP-Spitzenmann Stamp pflichtete ihm bei: Auch in Zukunft brauche es noch Infrastruktur für autonom fahrende Autos. Neubaur guckte irritiert und antwortete: »Aber wir haben doch Straßen.« Stamp will beim Verkehr auf Digitalisierung setzen. In ländlichen Regionen müssten kleinere E-Fahrzeuge per App angefordert werden können und nur bei Bedarf fahren.


Bilanz der Regierungen Laschet und Wüst

Die Regierungen Laschet und Wüst haben im Bereich innere Sicherheit ihr Ansehen wahren können – trotz ungeklärter Todesfälle im Polizeigewahrsam, Nazi-Strukturen in den Sicherheitsorganen und anhaltendem Unsicherheitsgefühl in Teilen der Bevölkerung. Das Thema war eine sichere Bank für den agilen CDU-Minister Heribert Reul, der sich damit auch schon zum Laschet-Nachfolger in NRW machen wollte. Doch die Schießerei zwischen Hells Angels und einer anderen kriminellen Bande, die mit »Clankriminalität« gelabelt und Migrant*innen zugeschoben wurde, hat das Bild Reuls getrübt.

Das Feld der sozialen Spaltung hat die CDU/FDP-Landesregierung kaum beackert. Dazu einige Schlaglichter:[3] Die Ungleichheit der Vermögensverteilung ist groß und übersteigt bei Weitem die Ungleichheit der Einkommensverteilung. Sie lag 2018 in etwa auf dem Niveau des Jahres 2013. Im Jahr 2018 verfügten die vermögendsten 20% über 70,8% des ermittelten Nettogesamtvermögens, und die vermögendsten 10% hielten 51,2% des Gesamtvermögens. Im Jahr 2013 lagen die entsprechenden Anteile bei 70,7% und 50,2%.

  • Vermögenslos waren 19% (2013: 19,3%), und diese verfügten über weniger als 100 Euro, weitere 12,6% verfügten über weniger als 5.000 Euro.
  • 12,7% hatten ein negatives Pro-Kopf-Vermögen, d.h. die Schulden überstiegen das Guthaben um mehr als 100 Euro. 2013 waren es 11,8%.
  • Die Ungleichheit der Lohnverteilung ist leicht gestiegen. Der Abstand zwischen den Bruttolöhnen der Führungskräfte und von Ungelernten betrug das 3,6-Fache (2014 das 3,5-Fache). Teilzeitbeschäftigte erhalten einen durchschnittlichen Stundenlohn von 19,98 Euro. Dieser liegt 21,8% unter dem von Vollzeitbeschäftigten (25,58 Euro).
  • Besonders besorgniserregend – und auch dies ist nicht neu – ist die Anzahl der Kinder, die in Armut aufwachsen. Mehr als jedes fünfte minderjährige Kind lebte in einem einkommensarmen Haushalt (22,6%).

Zwischen 2013 und 2020 ist die Armutsquote (gemessen am Landesmedian) in Deutschland von 13,5 auf 16,2% angestiegen, in NRW von 16,0 auf 17,4%.[4] Nur ein Teil dieses Anstiegs hat die CDU/FDP-Landesregierung zu verantworten; denn schon 2017 lag die Armutsquote 2017 bei 17,2%. Die SGB II-Quote pendelte im Bundesdurchschnitt in demselben Zeitraum um 8% in NRW um die 11%. Es ist also davon auszugehen, dass neben den Arbeitssuchenden zunehmend andere Gruppen, z. B. ältere Menschen, in die Armut geraten.


Sozialdemokratie unter enormem Druck

Eine Teilerklärung für das schlechte Abschneiden der Sozialdemokratie liegt sicherlich darin, dass die SPD, die in der Bundesregierung die Verantwortung für den Aufrüstungskurs trägt, in den Augen vieler Wähler*innen das Erbe Willy Brandts aufgegeben hat. Sie blieben zu Hause. Nordrhein-Westfalen hatte noch vor den Ostverträgen mit dem Röhrengeschäft die Tore geöffnet.

Zweitens aber, und das ist viel Gewichtiger, ist es der sozialdemokratischen Partei in NRW offensichtlich nicht gelungen, das Thema soziale Spaltung aufzugreifen, und den bei der Bundestagswahl erfolgreichen Erneuerungskurs der SPD mit der Betonung auf dem »Respekt« vor den Lohnabhängigen und ihrer Lebensleistung, was ja gleichbedeutend mit einer Abkehr vom Zeitalter der Hartz-IV-Reformen war, auch für die landespolitische Ebene erfolgreich zu vermitteln. Dass die von der SPD geführte Ampel-Koalition in Berlin in ihrem Sofortpaket gegen die steigenden Energie- und Lebensmittelpreise Rentner*innen und Sozialhilfeempfänger*innen »vergessen« hat, wird der Sozialdemokratie negativ angelastet. Wie in den anderen Landeswahlen der letzten Jahre auch (zuletzt in Schleswig-Holstein) musste die SPD einen Kompetenzverlust in Sachen sozialer Gerechtigkeit hinnehmen.


DIE LINKE am Abgrund

DIE LINKE hat nach 2012 zum dritten Mal vorgeführt bekommen, dass ihre Kernwählerschaft zum Überspringen der 5%-Hürde nicht ausreicht und sie sich jetzt entweder außerhalb des parlamentarischen Einflusses, publizistischer Aufmerksamkeit und vor allem des Interesses von gesellschaftlich relevanten Organisationen (Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften usw.) einrichten oder sich programmatisch neu sortieren muss, um in den kommenden Jahren neue Wählerschaft aufzubauen und zu binden. Mit einem Stimmenanteil von 2,1% ist sie auf Landesebene (wie auch in Schleswig-Holstein) in der politischen Bedeutungslosigkeit angekommen.

DIE LINKE mache den Unterschied, werde das Thema Gerechtigkeit in alle Felder der Landespolitik tragen, versprach die Listenführerin und Sozialforscherin Carolin Butterwegge im Wahlkampf. Kein Wunder, dass DIE LINKE das Thema Kinderarmut besonders in den Fokus zu rücken suchte und den Schwerpunkt ihrer Kampagne auf das Ruhrgebiet legte, wo besonders viele Kinder in Armut leben müssen. Angesichts des Kompetenzverlustes der SPD bei den Landtagswahlen überall in Deutschland war diese Schwerpunktsetzung nachvollziehbar, aber nicht ausreichend.

Zu den wahlentscheidenden Themen Wirtschaft, Arbeit, Energie blieben ihre durchaus vernünftigen Ansätze auf dem Programm-Papier. Die Transformation der Energiebranche wurde von der LINKEN als lediglich lokales Thema (Braunkohlerevier) den Aktiven vor Ort zugeschoben, während der Landesverband sich auf die moralische Mobilisierung für den Climat Change beschränkte. Insofern konnte die Wählerschaft keine Kompetenz für DIE LINKE wahrnehmen.

In NRW hat DIE LINKE ihren größten Landesverband. Sahra Wagenknecht, die prominenteste und zugleich umstrittenste Politikerin der Partei, hat ihren Bundestagswahlkreis in Düsseldorf. Zu einer stabilen Macht in der Bundes-Linken ist die nordrhein-westfälische Linke jedoch nie geworden. Im Mai 2010 kam die Partei auf 5,6% und feierte das als ihren Durchbruch zur gesamtdeutschen Linken. Als es nach dieser Landtagswahl keine klaren Mehrheitsverhältnisse gab, Hannelore Kraft (SPD) nach einigem Hin und Her schließlich eine rot-grüne Minderheitsregierung bildete, bewährte sich die Linke 20 Monate lang als faktische Tolerierungspartnerin, bevor sie sich über die Einschätzung des damaligen Haushaltes als »neoliberal« und der SPD-Entschlossenheit, den lästigen linken Ballast abzuschütteln, zerstritt, was aber den Wähler*innen nicht zu vermitteln war. Vor fünf Jahren dann machte die Linkspartei den schwarz-gelben Swing perfekt, als sie mit radikalen Phrasen haarscharf unter der Fünf-Prozent-Hürde blieb. Nur deshalb verfügten CDU und FDP seither im Landtag über die absolute Mehrheit der Mandate.

Der als »linkeste Linke« verschriene nordrhein-westfälische Landesverband gilt nicht nur bei den Genoss*innen in Berlin seit jeher als »Hort des Wahnsinns«. Schrillster Höhepunkt war das Parteiausschlussverfahren, das Genossen kurz vor der Bundestagswahl 2021 gegen Wagenknecht anstrengten. Der Landesverband verausgabte seine Energie in der Aufarbeitung eines Sexismus-Skandals in einem anderen Landesverband und in abstraktem Pazifismus, der weder die Kriegsangst mobilisieren konnte (die Bevölkerung ist beispielsweise in der Frage der Lieferung schwerer Waffen gespalten) noch wirtschafts- und energiepolitische Alltagssorgen aufgreifen konnte. So begibt man sich freiwillig ins politische Abseits.


Schlussfolgerungen für die Berliner Republik

Die drei Landtagswahlen im Saarland, Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen zeigen, dass die politische Landschaft auch in der Berliner Republik weiter in Bewegung ist, und die Zustimmung der Bürger*innen hohen Schwankungen unterliegt. Zudem wächst, wie der drastische Anstieg der Nichtwähler*innen in NRW zeigt, die Distanz vieler Bürger*innen zum politischen System. Die Corona-Pandemie, der Ukraine-Krieg, der Klimawandel, die soziale Gerechtigkeit und die in kleinen ersten Schritten angegangene sozial-ökologische Transformation gehören nach wie vor zu den bestimmenden Themen. Durch den Ukraine-Krieg haben sich allerdings die Prioritäten auf der politischen Agenda deutlich verschoben.

Die »Fortschrittskoalition« tritt etwa beim Thema Klimawandel oder bei der Beseitigung sozialer Schifflagen auf der Stelle, und schiebt stattdessen die Wehrtüchtigkeit der Bundeswehr und die (auch militärische) Unterstützung der Ukraine in den Vordergrund – Kollateralschäden bei den Haushaltseinkommen und dem Klimawandel werden dabei in Kauf genommen. Kommt jetzt zu dieser komplizierten Gemengelage noch eine wirtschaftliche Abschwächung dazu, könnten sich die inneren Widersprüche der »Ampel« massiv verschärfen.

Der Sozialdemokratie ist in den letzten Landtagswahlen brutal vorgeführt worden, dass das Aufgabenfeld der Interessenvertretung der Lohnabhängigen mit der Formel »Respekt« keineswegs zurückgewonnen ist. Die massiven Preissteigerungen bedeuten eine weitere Verschiebung in Richtung sozialer Ungleichheit. Mit der eingeleiteten Erhöhung des Mindestlohns ist erst eine Etappe in der Aufgabe der Sicherung der Lebenslage für die Mehrheit der Bevölkerung erreicht.

Die Grünen drohen ihr wichtigstes Politikfeld, den Klimawandel, und eine sozialverträgliche Gestaltung der Transformationen durch ihr politisches und auch militaristisches Engagement für die Ukraine aus den Augen zu verlieren. Der Klimawandel aber wartet nicht. Die neue Stärke der Grünen basiert auch darauf, dass sie sich in ihrem Wahlprogramm und in der Regierungsarbeit dafür stark gemacht haben, dass niemand bei der anstehenden Transformation zurückbleibt. Diese sozialpolitische Flanke wird aber von ihnen seit Ausbruch des Ukraine-Kriegs kaum noch zum Thema gemacht.

Und der dritte Partner im Bunde, die FDP, wurde bei den Landtagswahlen brutal gerupft, und wird – wie in einen Grundsatzpapier von Bundesfinanzminister Christian Lindner angekündigt – in Zukunft noch stärker drauf achten, dass die »sozialen Wohltaten« und die Staatsverschuldung sich in Grenzen halten, um die eigenen Wähler*innen bei der Stange zu halten.

Die CDU hat zwar in Schleswig-Holstein (mit einem überragenden Ergebnis) und in Nordrhein-Westfalen die Landtagswahlen gewonnen, aber ihre Kompetenzzuschreibungen halten sich noch in engen Grenzen. Ob es Friedrich Merz tatsächlich gelingt, die christdemokratische, bürgerlich-konservative Partei zu erneuern, bleibt offen.

Auch die Linkspartei hat sich vorgenommen, auf dem bevorstehenden Bundesparteitag eine umfassende Erneuerung und einen politischen Aufbruch einzuleiten. Die personalpolitischen Rangeleien und die deutlichen Wahlniederlagen in Schleswig-Holstein und Nordrhein-Westfalen sind gewiss keine Ermutigung auf diesem steinigen Weg.

Anmerkungen

[1] Zur Landtagswahl in Schleswig-Holstein siehe: Björn Radke, Politischer Erdrutsch in Kiel, Sozialismus.deAktuell 9. Mai 2022.
[2] Im Strombereich decken die drei sich noch am Netz befindlichen AKW Isar 2, Emsland und Neckarwestheim 2 nur circa 5% der deutschen Stromproduktion ab. Sie würden also vor allem Strom aus Kohlekraftwerken ersetzen und kaum einen Beitrag zur Erhöhung der Unabhängigkeit von russischen Gasimporten leisten. (Faktencheck zur Wahlarena: Was stimmt und was nicht? – Landespolitik – Nachrichten – WDR)
[3] https://www.caritas-nrw.de/nachrichten/2021/zur-armutssituation-in-nrw.
[4] Armut in der Pandemie. Der Paritätische Armutsbericht 2021 S.8

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