12. Februar 2023 Otto König/Richard Detje: Peru – der Aufschrei der Unterdrückten

»Sie meint, sie könne uns mit Kugeln und Mord zu Gehorsam zwingen, aber so geht das nicht!«

Mit »sie« meinen die Demonstrant*innen, die seit der Amtsenthebung und Verhaftung des linksgerichteten Präsidenten Pedro Castillo am 7. Dezember 2022 auf die Straße gehen, die neue Präsidentin von Peru, Dina Boluarte. Zehntausende Peruaner*innen aus den ländlichen Regionen des Andenstaats kamen in den vergangenen Wochen zu Fuß oder in Bussen in die Hauptstadt Lima, um gegen ihre Regierung zu protestieren.

Ihre Bilanz nach nur 50 Tagen im Amt: Laut der spanischen Agentur Efe wurden durch die brutalen Einsätze der Sicherheitskräfte 60 Demonstrant*innen getötet und über 900 verletzt. Allein in Juliaca,[1] der Hauptstadt der südlichen Region Puno, wurden bei Protesten an einem Tag 19 Menschen durch Schusswaffeneinsatz der Polizei ermordet. Die Nationale Menschenrechtskoordination Perus sprach von einem »Massaker« und »außergerichtlichen Exekutionen«.

Medien und rechte Politiker*innen bezeichnen die Demonstrierenden als »linke Terrorist*innen«. Indem sie das Narrativ verdrehen, kreieren sie eine vermeintliche Nähe der gegenwärtigen Mobilisierungen zur Zeit des Terrorismus (»terruqueo«). Damit sollen die Proteste und Forderungen delegitimiert und kriminalisiert, staatliche Repression und Gewalt hingegen gerechtfertigt werden.

Seit mindestens zwei Jahrzehnten schlingert der Andenstaat von Krise zu Krise. Die letzten sieben gewählten Präsidenten (seit 2000) wurden abgesetzt und/oder landeten im Gefängnis, mit Ausnahme von Alan García, der sich vor seiner Verhaftung erschoss. Mit dem Antritt eines Präsidenten aus dem Landesinneren Perus hatte es den Anschein, als sei das Ende der langen »neoliberalen Nacht« gekommen.

Der Wahlsieg Pedro Castillos[2] bei den Präsidentschaftswahlen im Juli 2021 über die Kandidatin des rechten Lagers, Keiko Fujimori, gab den marginalisierten Bevölkerungsmehrheiten in den Anden und im Amazonas das Gefühl, vom Zentrum in Lima gehört zu werden »Es war ein Sieg der populären, informellen und prekären Klassen«, so Anahí Durand, Ministerin für Frauen und vulnerable Bevölkerungsgruppen in Castillos Regierung.

Der Gewerkschafter und Sozialist trat im Juli 2021 sein Amt mit dem Versprechen an, eine Sozialpolitik für die ärmere Bevölkerung zu machen, eine Agrarreform umzusetzen und den Prozess für eine neue Verfassung einzuleiten. Doch die »weiße« in Lima ansässige Wirtschaftselite und die politische Rechte haben seinen Sieg nie anerkannt. Da sie es nicht verwinden konnten, dass ein Indigener im Regierungspalast sitzt, erklärten sie Castillo den Krieg.

Von Beginn an versuchten sie ihn aus dem Amt zu entfernen. Ein mit der Unterstellung des Wahlbetrugs begründeter erster Putsch misslang. Danach folgten drei Amtsenthebungsverfahren in dem von der Opposition dominierten Kongress. Doch weder ein Antrag vom Dezember 2021 noch ein zweiter vom März dieses Jahres erhielt die erforderliche Unterstützung von mindestens 87 der 130 Parlamentarier.

Um einem weiteren Amtsenthebungsverfahren wegen Hochverrat zuvorzukommen, kündigte der Präsident an, den Kongress aufzulösen, Parlamentswahlen abhalten zu lassen und die Regierbarkeit des Landes durch eine Justizreform wiederherzustellen. Da sein Vorgehen verfassungsrechtlich jedoch nicht gedeckt war und sowohl Militär und Polizei als auch der Oberste Gerichtshof ihm ihre Unterstützung verweigerten, konnte ihn der Kongress mit 101 Ja- und sechs Neinstimmen bei zehn Enthaltungen wegen verfassungswidrigen Verhaltens absetzen. Castillo wurde auf dem Weg zur mexikanischen Botschaft, die ihm politisches Asyl angeboten hatte, festgenommen und unter dem Vorwurf der »Rebellion« angeklagt.

Castillos Verhaftung wird seitens der Opposition und großer Teile der Gesellschaft als Putsch der Rechten und des Fujimorismo gewertet. »Denjenigen, die für Castillo stimmten, wurde klarer als vielleicht jemals zuvor in der Republik, was die Elite, die Massenmedien und ein großer Teil der Bürger Limas über sie und ihre Stimmen dachten: Es waren verlorene Stimmen, inhaltsleer, von der Herkunft befleckt, weil sie von minderwertigen Menschen stammten, Indios, Ignoranten und obendrein Terroristen«, schreibt der Historiker José Carlos Agüero in der Schweizer WOZ (21.12.2022).

Am 7. Dezember, nach der Absetzung von Präsident Pedro Castillo, trat Dina Boluarte ihr Amt an. Auch wenn sie als Vizepräsidentin gemäß Verfassung die rechtmäßige Nachfolgerin Castillos ist, wird sie von einer Mehrheit der Peruaner*innen als illegitim betrachtet. Eine Umfrage des Peruanischen Wissenschaftlichen Instituts (Instituto de Estudios Peruanos, IEP) ergab, dass Boluarte nur von der Wirtschaftselite und den Streitkräften unterstützt wird.71% der Peruaner*innen sind mit der Art und Weise, wie sie ihre Regierung führt, nicht einverstanden. Im Landesinneren liegt dieser Wert bei fast 90%. Und bei 88% genießt der rechtsdominierte Kongress kein Vertrauen mehr.

Die Ankündigung, dass ihre Regierung den Rest der fünfjährigen Amtszeit voll ausschöpfen werde, war der Tropfen, der das Fass zum Überlaufen brachte. Er war das Startsignal für die spontan einsetzende Protestwelle, besonders in den andinen Regionen. Um die politische Ordnung wiederherzustellen, rief die Interimspräsidentin in einer ihrer ersten Reden zur »politischen Waffenruhe« auf.

Zustimmung bekam Boularte von der Tochter des Exdiktators Alberto Fujimori und deren Parlamentsfraktion Fuerza Popular. Die rechte Fuerza Popular stellt zusammen mit der Mitte-Rechts-Partei Acción Popular die größte Gruppe im peruanischen Kongress. Die US-hörige Organisation Amerikanischer Staaten (OAS) sagte ebenfalls ihre Unterstützung zu.

Kaum Anklang fanden Boulartes Worte bei den Teilen des Volkes, die die Nase voll haben von Korruption und Hunger. Die marginalisierten, informell beschäftigten, ländlichen und indigenen Teile der Gesellschaft reagierten mit Protesten im ganzen Land. Das Epizentrum der Unruhen liegt im Süden: Die südlichen Bergregionen mit den Departments Apurímac, Puno, Cusco, Ayacucho und Arequipa und ihrer überwiegend indigenen und bäuerlichen Bevölkerung sind das abgelegenste und ärmste Gebiet des Landes.

Die dortigen Regionen sind schon immer politisch, sozial und kulturell am stärksten ausgegrenzt, auch in wirtschaftlicher Hinsicht. Dies macht die Kokabauern, die informellen Minenarbeiter und die indigenen Gemeinschaften ideologisch nicht unbedingt zu Linken, aber es macht sie kritisch gegenüber dem politischen und wirtschaftlichen System sowie dem Zentralismus der Hauptstadt Lima. Der Süden war Castillos Wahlhochburg, er erhielt dort in einigen Fällen mehr als 80% Zustimmung.

Die Ereignisse der 1980er-Jahre scheinen sich zu wiederholen: die Anden gegen die Küste, die Aymara- und Quechua-Gemeinschaften im Kampf gegen einen zentralistischen Staat, die Armen des Hochlandes gegen fünf Jahrhunderte der Unterdrückung. Es kommt nicht von ungefähr, dass sich der Protest der Aufständischen auch gegen die Ausbeutung natürlicher Reichtümer durch transnationale, viel zu niedrig besteuerte ausländische Firmen richtet.

Die faulen Früchte des Neoliberalismus der vergangenen drei Jahrzehnte sind mitten in die politische Krise gefallen und haben die Stimmung im 33-Millionen-Volk zusätzlich vergiftet. Doch mittlerweile sind es nicht mehr nur die Demonstrierenden aus den ländlichen Gebieten, die einen Wechsel wollen. 60% der Peruaner*innen, so eine Umfrage des Instituto de Estudios Peruanos vom Januar 2023, halten die Proteste für gerechtfertigt, und über 71% sprechen sich sowohl gegen Dina Boluarte wie auch gegen den jetzigen Parlamentspräsidenten aus (taz vom 24.1.2023).

Die politische Stimmung im Land ist angespannt: In der ersten Januarwoche riefen soziale, indigene und linke Organisationen zur Wiederaufnahme der Proteste auf. Der größte Gewerkschaftsbund (CGTP) mobilisierte für einen landesweiten Streik und der Nationale Verband der Kaffeebauern und Landwirte für Ende Januar für einem nationalen Agrarstreik. Mit mehr als 145 Straßensperren blockierten Demonstrant*innen den Verkehr in weiten Teilen des Landes.

In der Hauptstadt Lima versammelten sich zu Beginn des Jahres Menschen aus allen Teilen des Landes, um unter dem Motto »La toma de Lima« (Die Einnahme von Lima) für den Rücktritt von Castillos Nachfolgerin, die Auflösung des Parlaments und die unverzügliche Abhaltung von Neuwahlen sowie die Einberufung einer Verfassunggebenden Versammlung zu demonstrieren, damit die von Diktator Alberto Fujimori 1993 eingesetzte Konstitution endlich beerdigt wird.

Unter dem Druck der Straße änderte Boluarte ihren anfänglichen Kurs und kündigte an, eine Verfassungsreform für die Durchführung von Neuwahlen im Parlament einzuleiten. Am 21. Dezember wurde mit 93 Ja-Stimmen, 30 Gegenstimmen und einer Enthaltung die Verkürzung der Regierungsperiode auf Juli 2024 beschlossen und der Weg für allgemeine Wahlen Anfang 2024 freigemacht. Doch dadurch ließ sich die aufgeheizte Situation nicht beruhigen, denn trotz wochenlanger Demonstrationen für sofortige Neuwahlen lehnte das Parlament inzwischen den Antrag von Präsidentin Dina Boluarte ab, die Wahlen vorzuziehen.

Doch auch Boluarte ist weit davon entfernt, sich auf einen Dialog mit der Bevölkerung einzulassen. Seit dem Ausbruch der Proteste am ersten Tag ihrer Präsidentschaft gießt sie Öl ins Feuer. Die Interims-Präsidentin und der rechte Kongress reagierten unter anderem mit der Ausrufung des nationalen Notstandes und mobilisierten Polizei und Militär. In den sozialen Medien zirkulieren Videos von wild um sich schießenden Polizist*innen und Militärs.

Während die Präsidentin das »tadellose« Vorgehen der Sicherheitskräfte lobt, verunglimpft sie die Demonstrierenden, die von dunklen Interessen des Drogenhandels, des illegalen Bergbaus, von kommunistischen Terrorgruppen oder gar vom bolivianischen Expräsidenten Evo Morales persönlich gesteuert würden. Und sie versucht, die »Minderheit« der Unzufriedenen im Süden gegen den Rest des Landes auszuspielen, wo die Menschen »doch nur in Ruhe arbeiten möchten«.

Ein Rücktritt der Interimspräsidentin Boluarte und baldige Neuwahlen würden dem gebeutelten Land zumindest eine Verschnaufpause verschaffen, doch die tieferliegende Krise wäre damit nicht gelöst. Der einzige erkennbare Ausweg führt über die Forderung nach sofortigen allgemeinen Wahlen und einer verfassunggebenden Versammlung, die in der Lage ist, eine Magna Carta auszuarbeiten, die der Nation eine funktionierende politisch-institutionelle Ordnung gibt.

Der Weg einer verfassungsgebenden Versammlung ist zwar lang und kompliziert, trotzdem scheint es vielen als die beste Option, um dem drohenden Abrutschen in den Autoritarismus entgegenzuwirken. Allerdings fehlen in Peru die starken Bewegungen und Gruppierungen, die beispielsweise in Chile die Erarbeitung einer neuen Verfassung erzwungen haben. Auch wenn dort das Resultat des Referendums nicht das Erwünschte war, wurde ein allgemeiner Denkprozess angestoßen, der weitergeht.

Es ist allerdings davon auszugehen, dass sich die gegenwärtig mobilisierte peruanische Bevölkerung nicht mehr so einfach zum Schweigen bringen lässt. Auf den Schildern der Demonstrant*innen ist zu lesen: »Si morimos, no prendas una vela, prende el congreso« – »Wenn wir sterben, zünde keine Kerze an, sondern den Kongress«.

Anmerkungen

[1] Juliaca ist mit gut 228.000 Einwohnern die bevölkerungsreichste Stadt des im Süden Perus gelegenen Departamentos Puno.
[2] Siehe auch Otto König/Richard Detje: Der Gewerkschafter und Sozialist Pedro Castillo wird Präsident in Peru. »Nie mehr arm in einem reichen Land«, Sozialismus.deAktuell vom 23.6.2021.

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