18. November 2019 Bernhard Sander

Soziale Beunruhigung in Frankreich

Foto: NightFlightToVenus (CC BY-NC-ND 2.0)

Auf europäischem Feld läuft die deutsch-französische Achse unrund und beide Staaten rücken zunehmend eigene Strategien in den Vordergrund. Ausbleibende Fortschritte durch eine vertiefende Integration in der EU veranlassen Macron zu einer verschärften Gangart bezüglich der Modernisierung Frankreichs.

Damit Frankreich im nationalen Konkurrenzkampf nicht den Anschluss verliert. Reaktionen aus den betroffenen Schichten der Gesellschaft verunsichern die Akteure in einer zerfallenen Parteienlandschaft.

Die Regierung Eduard Philippe hat im Auftrag des Staatspräsidenten Emmanuel Macron einen Gesetzentwurf zum Umbau der Altersversorgung vorgelegt, der viele französische Werktätige beunruhigen muss. Schon jetzt liegt die soziale Spaltung des Landes für alle offen zutage. Um einer zugespitzten gesellschaftlichen Auseinandersetzung zu entgehen, wird zeitgleich die Migrationsfrage thematisiert, was einerseits die liberalen Kräfte in der Präsidentenbewegung LREM zu Widerstandshandlungen treibt, aber andererseits auch die Rechtspopulisten zu heftigen Attacken provoziert. Diese wiederum schaffen ein Umfeld für rechtsextreme Gewaltattacken. Macron scheint immer noch davon auszugehen, dass eine Konfrontation entlang der Scheidelinie »Wir oder das nationalistische Chaos« quer zum sozialen Konflikt die Durchsetzung seines Modernisierungsprojekts erleichtert und den gesellschaftlichen Widerstand schwächt – trotz der traumatischen Erfahrungen mit den monatelangen Protesten der Gelbwesten.

Der Wohlfahrtsverband »Sécours Catholique« (vergleichbar der Caritas) hat in seinem jährlichen Armutsbericht darauf hingewiesen, dass in Frankreich 1.347.500 Menschen um Hilfe nachgesucht haben. Mit einem Durchschnittseinkommen (Median) von 535 Euro im Monat lebten diese Menschen deutlich unter der offiziellen Armutsgrenze von 1.041 Euro und dem durchschnittlichen Einkommen von 1.735 Euro. Der zuständige Leiter stellt diese Zahlen ins Verhältnis zu den Maßnahmen der Regierung: »Die 1% reichsten haben von der Abschaffung der Vermögenssteuer profitiert, die Mittelklassen von der Abschaffung der kommunalen Kopfsteuer, aber die Ärmsten stürzen mit Höchstgeschwindigkeit ab. Es ist erschreckend.« Die Zahl der Hilfesuchenden ohne Zugang zu Familienbeihilfen ist von 2010 auf 2018 von 20% auf 28% gestiegen, die Dauer der Arbeitslosigkeit von zwei Jahren auf drei Jahre. Der Verband rechnet damit, dass die soeben realisierte Reform der Arbeitslosenversicherung die Zahl der auf das staatliche Existenzminimum (RSA) angewiesenen Bürger*innen um 500.000 anwachsen lässt.

In der Folge steigt die Wohnungsnot. Die Zahl der Hilfesuchenden, die unter prekären Bedingungen wohnten (bei Freunden, in Zeltlagern oder Übernachtungsstellen), sei gegenüber den Vorjahren auf 30% der Hilfesuchenden gestiegen. Die Mietbelastung der übrigen Hilfesuchenden liege bei 46% des Einkommens (Privateigentümer) bzw. 41% (in öffentlichen Wohnungen). Rückstände bei Zahlungen für Energie und Mieten sind die Folge. Die Abkopplung des öffentlichen Wohngeldes von der Preisentwicklung in diesen Bereichen lässt die Kaufkraft schrumpfen. »17 oder 18 Euro bei einem verfügbaren Einkommen von 500 Euro zu verlieren schmerzt«, schreibt der Verband.

Den Betroffenen werde in der Öffentlichkeit permanent der Prozess gemacht: »Den Arbeitslosen wird gesagt, sie seien für ihre Lage selbst verantwortlich, den Sozialhilfebezieher werde gesagt, dass sie der Allgemeinheit auf der Tasche liegen und den Zuwanderern, dass sie Sozialbetrüger seien.« Das Bild vom jederzeit möglichen totalen sozialen Absturz prägt auch das Gesellschaftsbewusstsein.

Umso mehr schockierte der Suizidversuch eines Studenten in Lyon, der in seinem Abschiedsbrief auf Facebook schrieb, dass er ohne Stipendium sei und von 450 Euro im Monat nicht leben könne. Er zündete sich vor der Universitätsverwaltung, einem Regierungsgebäude an, weil er Macron, Hollande und Sarkozy für diese Zustände der Unsicherheit verantwortlich mache. Und er klagte Le Pen und die Leitartikler an, »die mehr als zweitrangige Ängste geschürt haben«. Die zuständige Bildungsministerin wurde umgehend entsandt, um vor Ort zu beruhigen, doch es kommt an mehreren Universitäten zu Protesten, möglicherweise die Wetterfahne für weitere gesellschaftliche Unruhen.

Schon 2015 war eine staatliche Kommission zu dem Ergebnis gekommen, dass 19,1% der Studierenden unter der Armutsgrenze leben (weniger als 60% des Medianeinkommens von 987 Euro haben). Ein Viertel der Studierenden spricht von Schwierigkeiten am Monatsende. Jede/r zweite arbeitet neben dem Studium. 2017 erhielten 800.000 Wohngeld, das von Macron bei Amtsantritt gekürzt wurde. 712.000 der insgesamt 2,7 Mio. Studierende erhielten im Studienjahr 2017/18 Hilfen zum Lebensunterhalt. Ein Viertel der Studierenden befürchtet laut solcher Erhebungen, dass ihre materiellen Lebensumstände sich negativ auf ihren Studienerfolg auswirken, also auch ihre weitere Lebensplanung beeinträchtigen.

Auch in Bezug auf die angekündigte Rentenreform ist Druck auf dem Kessel, nachdem nicht nur Gilet Jaunes und CGT, FO und SUD-Solidaires angekündigt haben, sich an den für Anfang Dezember angekündigten Arbeitskämpfen der Eisenbahner zu beteiligen. Auch die gemäßigte CFDT diskutiert zurzeit ihre Teilnahme. Für den 5. Dezember ist ein nationaler Aktionstag angekündigt, der eine erste Druckanzeige in der Auseinandersetzung um die Altersversorgung darstellt.

Premierminister Philippe mobilisiert die Abgeordneten und Funktionäre von LREM, für die Reform einzutreten. Es sei die wichtigste Reform seit 1993. Man sei entschlossen zu handeln. Einzelne Abgeordnete hatten zur Vorsicht und zu einer Politik der kleinen Schritte gemahnt »Frankreich ist in Wut. Die Lage ist zu angespannt.« Auch ein ungenannter Minister fürchtet laut Le Monde, dass wie vor einem Jahr »das Risiko besteht, von der Straße überrollt zu werden«.

Marcon selbst hatte sich Ende Oktober bereits entschlossen gezeigt. Angesichts der »Spasmen, die unser Land vor einem Jahr geschüttelt haben« sei er jedoch nicht der Meinung, dass »unser Land unregierbar sei«. In präsidialer Geste deutet Macron in der Rentenfrage ein Zugeständnis an – nicht bei der Durchsetzung des Gesetzes selbst, sondern für den Zeitpunkt des Inkrafttretens. »Ich verstehe völlig, dass jemand beim staatlichen Stromversorger EDF, bei der Metro oder bei der Bahn mit vielleicht 48 oder 50 Jahren protestiert. Es muss sich für ihn ja auch nicht alles ändern, genauso für unsere Polizisten, unsere Soldaten und Krankenschwestern … Ich werde keine Reform machen, die die erworbenen persönlichen Ansprüche leugnet. Aber Sie können mir nicht ernsthaft sagen, man wird morgen einen Eisenbahner oder Elektriker einstellen, der dasselbe (Renten-)System hat wie Sie selbst. Das ist nicht vernünftig.«

Die Beschäftigten in den Krankenhäusern signalisierten mit einem berufsgruppenübergreifenden Protesttag ihre Entschlossenheit, erkämpfte soziale Rechte nicht preiszugeben. Das französische Gesundheitssystem hat mit rund 11% des BIP etwa ähnliche Dimensionen wie das deutsche. Verschiedene Sparrunden haben jedoch die Stellenanzahl reduziert. Die Fallpauschalen-Abrechnung belastet das Personal mit Dokumentationsaufgaben. Wegen Zentralisierung und Bettenmangel werden Patient*innen abgewiesen. Viele Beschäftigte verlassen ihre Jobs oder kehren nach der Familienpause nicht zurück. Die angekündigten Angriffe auf die Altersversorgung, noch gestaffelt nach Berufsjahren, schüren die Unruhe.

»Ich habe die Wut und die Empörung über die manchmal unmöglichen Arbeitsbedingungen verstanden«, sagte der Staatspräsident, nach dem die Belegschaften von 268 Krankenhäusern für einen Tag in den Ausstand getreten waren. Er kündigte »Investitionen« an. Aber mehr Geld in ein System zu stecken, das ohnehin nicht funktioniere, sei unvernünftig. »Wenn das öffentliche Krankenhaus nicht funktioniert, kann das französische Gesundheitssystem nicht funktionieren.« Worin aber die Strukturreformen des angekündigten Plans »Gesundheit 2022« bestehen, ließ Macron im Dunkeln. Möglicherweise droht auch hier eine Privatisierungswelle.

Der Jahrestag des ersten Auftritts der Gelbwesten, die landesweit untereinander in Kontakt geblieben sind, ordnet sich also ein in die andauernde gesellschaftliche Beunruhigung. 39.000 waren es auf der »Jubiläumsdemo« am vergangenen Wochenende nach Angaben der Demonstrierenden selbst. Die relativ kleine Zahl (laut Innenministerium 28.000 Teilnehmende) erregt nicht nur wegen der Gewaltbereitschaft Aufsehen, sondern weil sie ein Indiz für die politische Instabilität Frankreichs geworden sind. Le Monde vermittelt den Eindruck, dass sich ein Querschnitt der Gesellschaft (Lehrerin, Feuerwehrmann, Studierende) zusammengefunden habe.

Die traditionellen Parteien, die über Jahrzehnte das Spiel um Regierungsbildung, Gesetzgebungsverfahren und soziale Zugeständnisse dominierten, sind zerfallen. Die Bewegungen, die an ihrer Stelle nun die Nationalversammlung bestimmen, sind instabile heterogene Gebilde aus teils unterschiedlichen Strömungen dieser Parteien. Das gilt am wenigsten für die Nationale Sammlung Le Pens, aber auch für die Präsidentenpartei LREM und die sich als links verstehende populistische Bewegung La France Insoumise. Alle reagieren unter dem Eindruck kurzfristiger Beobachtungen. Spektakuläre Bilder brennender Autos, Besetzungen zur Schaffung eines »Hauses der Völker« und antikapitalistische Parolen erhalten eine überproportionale politische Bedeutung.

Eine Pariser Bezirksbürgermeisterin vertritt die Auffassung, die Bewegung sei noch weit von der Formulierung von Forderungen entfernt. Der Rechtskatholik Bellamy fragt, wie Paris nur so tief sinken konnte, und ein Vertreter des RN empört sich, der Staatspräsident sei vollständig an den Forderungen der Bewegung vorbeigegangen. Der frühere Pressesprecher des RN, der in Paris als Bürgermeister kandidiert, ruft nach der ganzen Härte der Repression. Das sind alles ritualisierte Statements der Hilflosigkeit. Perspektiven werden nicht geboten und so werden die Stimmungen, nur scheinbar durch den Vorgang der Kommunalwahlen strukturiert und in einem Links-Rechts-Schema konturiert, weiter in die Regression rutschen.

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