1. Juni 2018 Bernhard Sander: Fêtes und Volkswelle in Frankreich

Soziale Spannungen – Proteste – Keine Perspektive

Seit Jahr und Tag kommt es in den französischen Vorstädten zu Protesten, weil vornehmlich junge Menschen durch Polizeiwillkür oder staatliche Inaktivität zu Tode kommen. Die »Banlieue«, die Bannmeile der urbanen Agglomerationen, bleibt sich selbst überlassen.

Dort stehen die Aufzüge in den Sozialwohnungsblocks häufiger als dass sie funktionieren, die öffentlichen Gebäude, Schulen usw. verrotten, weil die städtischen Haushalte ihre investiven Mittel kürzen mussten. Auch die Regierung von Staatspräsident Emmanuel Macron will 13 Mrd. Euro an Zuwendungen für die Kommunen  kürzen.

Der Ende Mai verkündete Plan für die Vorstädte wird an den Zuständen nichts ändern, sondern soll den Leistungswilligen symbolisch den Weg aus ihnen hinaus zeigen. Zwar werden die Mittel der Agentur für Stadterneuerung auf 10 Mrd. verdoppelt, aber diese fließen zu oft in Repräsentationsbauten für die örtliche Politprominenz. 1.300 neue Stellen bis 2020 bei den Sondereinsatzkommandos der Polizei werden nicht die präventive Sicherheit in den benachteiligten Vierteln erhöhen. Und 30.000 Praktika für Schulabgänger mit Hochschulzugangsberechtigung aus diesen Vierteln markieren die soziale Spaltung ein weiteres Mal.

Die Wut in den Vorstädten bleibt. Madjid Messaoudene, Stadtrat in Saint-Denis, findet es »logisch, dass die Vorstädte bei einem Umzug, der ›Volkswelle‹ heißt, vorne dabei sind. Wir müssen über die Gewalt reden, die wir – von der Republik aufgegeben – von Seiten des Staates erfahren. Emmanuel Macron hat gezeigt, dass er sich von der Wirklichkeit in den Vorstädten abgekoppelt hat.«

Alexis Corbiere, einer aus dem Führungskreis von La France Insoumise (FI – Das unbeugsame Frankreich)), kooperiert im Stadtrat von Bagnolet im Departement 93 (Seine-Saint-Denis) mit dem Bürgermeister, der den Sozialisten (PS) angehört. In dieser Vorstadt kam es in den letzten Wochen zu schweren Auseinandersetzungen unter den Drogenbanden. Er fordert nicht nur mehr Polizei, sondern eine andere Politik: Die Legalisierung von Cannabis würde es der Polizei erlauben, sich um die wirklich wichtigen Dinge zu kümmern. Statt 2.500 CRS-Bereitschaftspolizisten zur Räumung des Hüttendorfes an der gestoppten Flughafen-Großbaustelle Notre-Dame-des-Landes zu entsenden, sollten diese Kräfte z.B. gegen die rechtsextremen Milizen eingesetzt werden, die in den Alpen Privatjagd auf migrantische Grenzgänger aus Italien machen.

Die Wut steigt. Am 1. Mai mobilisierten die Gewerkschaften zehntausende Menschen. In Paris kamen nach Angaben der Polizei 20.000 zum traditionellen Marsch der Gewerkschaften anlässlich des Tags der Arbeit zusammen. Die Gewerkschaft CGT sprach von 55.000 Teilnehmern. Der reguläre Protestzug kam ins Stocken, als aus dem Schwarzen Block heraus Ausschreitungen begannen. Laut Polizeipräfekt Michel Delpuech hatte sich unabhängig von der Gewerkschaftsdemo ein Demonstrationszug der ultra-linken Szene aus rund 14.500 Personen formiert, in dem sich auch die Randalierer befanden, deren Zahl von der Polizei mit rund 1.200 angegeben wurde. Der Parteichef der rechten Republikaner, Laurent Wauquiez, sprach von einem Scheitern des Staates. »Schreckliche Bilder heute für unser Land«, schrieb er auf Twitter.

In Marseille gingen laut Polizeiangaben 4.200 auf die Straße. Sie marschierten hinter einem Schriftzug her, auf dem »Gegen Macron und seine Welt« stand. Jean-Luc Mélenchon, der nicht gewählte Vorsitzende von La France Insoumise, sagte, die soziale Bewegung und die politischen Kräfte seien dabei, sich zusammenzuschließen – nicht aber die Gewerkschaften untereinander. Er unterstrich damit sein distanziertes Verhältnis zur organisierten Arbeitnehmerschaft.

Der Front National (FN), der früher seine 1. Mai-Kundgebung am Pariser Denkmal von Jeanne d’Arc abhielt, wittert Morgenluft. Sein Treffen mit den europäischen Bruderparteien fand in Nizza statt, wo man sich einig war, dass die »Bruchkante zwischen Globalisierern und Nationalisten« die kommenden Europawahlen prägen wird. Mit der Parole »Alle gegen Macron« versucht der FN zu überspielen, dass die bisherigen Angebote zu einer gemeinsamen offenen Liste ohne Antwort blieben. Die demoskopischen Aussichten sind nicht schlecht, auf der Rechten die Vormachtstellung auszubauen: 23% würden Marine Le Pen zur Präsidentin wählen, aber nur 8% den Republikaner Laurent Wauquiez. Die Parlamentsdebatte um das Asyl- und Einwanderungsgesetz hat die Meinungsführerschaft des Front bestätigt.


Ein Fest gegen Macron

Nur eine Woche später rief ein Kreis um den FI-Abgeordneten Francois Ruffin zu einem »Fête à Macron« auf. 38.900 zählte ein unabhängiges Netzwerk von Journalisten für diese Platzbesetzungen mit Straßentheater, Kinderbelustigung und sonstigen Festivitäten, die Polizei kam auf 40.000, die Veranstalter auf 100.000 und FI selbst schätzte 160.000 – die linken Organisationen beteiligten sich mit Ausnahme des PS.

Unabhängig von diesem »Krieg der Zahlen« ist dies ein deutlicher Erfolg für FI. Es blieb bei diesem Protest weitgehend friedlich. »Wir sind eine Sammlungsbewegung, die Gewalt ablehnt, vor allem die verbale Gewalt der Allmächtigen… Die, die das arbeitende Volk als eine Bande von Faulenzern, Ungebildeten und Säufern bezeichnen« griff Mélenchon einige polemische Kommentare des Staatspräsidenten zu den Streiks der letzten Wochen auf. Da es am Rande dann aber doch zu einem Scharmützel um einen Übertragungswagen kam, bei dem ein Polizist verletzt wurde, trat der Innenminister vor die Presse und kritisierte das Klima der Gewalt. Der Staatspräsident selbst kommentierte die Auseinandersetzungen der letzten Wochen, zu denen auch die Räumung von einigen besetzten Hochschuleinrichtungen und besagtem Hüttendorf zählen: »Sie haben ihre Niederlage nie akzeptiert. Sie lieben die Demokratie nur wenn sie gewinnen.«

Im Hof der Elite-Universität ENS fand unter dem Titel »Tod der Universität – Es lebe das Wissen« ein Kolloqium statt, an dem der italienische Philosoph Giorgio Agamben, der Ökonom Frédéric Lordon und verschiedene Professoren, Gewerkschafter der SUD (Post, Eisenbahn) sowie eben Hunderte »Normaliens« (Studierende der ENS) teilnahmen – unter einem Banner mit einem großen brennenden Streichholz an einem kleinen McDo-Logo: »Es hat gerade erst angefangen…«

Die Wut ist groß gegen einen Präsidenten »der alles zerstört, die Wirtschaft, das Soziale, das Krankenhauswesen, die Eisenbahn. Und gleichzeitig baut er nichts auf«, zitiert Le Monde ein Teilnehmerin. Und Humanité lässt eine Krankenpflegerein zu Wort kommen: »Unser Leiden ist so groß geworden, dass unsere einzige Lösung jetzt die Straße ist.« Der aus dem PS ausgetretene Präsidentschaftskandidat Benoit Harmon sprach davon, dass Emmanuel Macron dabei sein, »das französische Sozialmodell zu zertrampeln wie eine Sandburg«.

Man habe mit diesem gemütlichen Festumzug »ein Maximum an Leuten versammeln wollen … und all diejenigen wertschätzen wollen, die sonst nicht zu Wort kommen und die kein Gesicht haben. Das sind die Helden dieses Tages« sagte Ruffin anschließend. Sein informeller Chef Mélenchon hatte während eines Hearings auf dem Fest erklärt: »Wir sind alle hier, um den Eisenbahnern, den Krankenpflegern, den Arbeitern überall Mut zu machen ... Ihr seid das Volk Frankreichs in umwälzenden Zeiten (Revolte), ihr werdet das revolutionäre Volk der Umwälzung werden. Dafür müsst ihr bleiben wie ihr seid: vereint in eurer unbegrenzten politischen, gewerkschaftlichen, affektiven Verschiedenartigkeit.«

Die Zeitung Liberation zitiert einen »marxistischen Studenten der Astrophysik« mit den Worten: »Trotz der Überrepräsentation von La France Insoumise auf dieser Kundgebung haben die meisten von uns dieses Gefühl der Pluralität gespürt.« Er bedauere das Fehlen jeglicher Forderungen von Seiten der Organisatoren: »Wir brauchen ein wertschätzendes Projekt, in dem man sich wiederfinden kann und gemeinsam entscheidet, wohin man gehen will.« Das ist ein Knackpunkt der populistischen Einladung: Ihr müsst euch nicht ändern, es genügt zu revoltieren, ohne einen Zukunftsplan.


Arbeitskämpfe und Marée populaire

Am 22.Mai demonstrierten die Beschäftigten der Kranken- und Pflegeeinrichtungen des Landes und alle großen Gewerkschaften waren sich einig an diesem Aktionstag. Die 5,6 Millionen Beschäftigten im Öffentlichen Dienst sollen die Streichung von 120.000 Stellen akzeptieren, sowie eine weitere Null-Runde bei den Tariflöhnen, die Einführung eines (unbezahlten) Karenztages im Falle einer Krankschreibung und die Erhöhung der Allgemeinen Sozialabgabe CSG, die vor allem kleine Einkommen und Renten hart trifft. Die Mobilisierung war mit 139.000 polizeilich gezählten Teilnehmenden beachtlich, obwohl es auch hier wieder höhere Zahlenangaben der Gewerkschaften gab.

Die Streikaktionen der Eisenbahner gegen die  Rechtsformänderungen bei der SNCF und die damit verbundenen Streichungen für Neueingestellte gehen nun in die 8. Woche. Die Beteiligung bleibt konstant, aber der Zuspruch in der Bevölkerung sinkt.

Rund 60 Organisationen hatten zu der »Marée populaire« am 26. Mai aufgerufen, darunter alle Linksparteien sowie La France Insoumise, deren Chef Mélenchon diese »Volkswelle« angeregt hatte. In Marseille, wo auch sein Wahlbezirk liegt, schwanken die Angaben besonders krass zwischen 4.200 Personen laut Polizei und 65.000 laut CGT. Hier rief er in die Menge: »Bildet die Volksfront jetzt, die das Volk braucht! Der Betonkopf Macron muss die Botschaft des Volkes endlich hören. Das Land ist reich, das Land muss teilen!« Die Volksfront gehört in Frankreich zu den großen politischen Mythen der Linken des 20. Jahrhunderts.

Auf Französisch reimt sich vieles schön: Macron – Division (Macron – Spalter). Die Gewerkschaften waren gespalten, wie sie sich an der »Volkswelle« beteiligen sollten. Die CGT hat offenbar festgestellt, dass sie über die unmittelbar Beschäftigten hinaus kaum noch Unterstützung findet, wenn es gegen die Reform der überschuldeten Staatsbahn SNCF oder gegen die Kürzungen im öffentlichen Dienst geht. Sie spürt, dass sie alleine das Blatt nicht wenden kann und sucht die Nähe zum vermeintlich stärkeren Partner. Aber eine gemeinsame politische Plattform verbindet sie nicht, wenn die CGT ihre politische Unabhängigkeit aufgibt, die sie sich gegenüber der kommunistischen Partei in den 1990er Jahren erkämpft hatte.

Die CGT hat sich, trotz der widersprüchlichen Haltung von La France Insoumise zu den Gewerkschaften an der »Volkswelle« beteiligt, ohne sich von der Presse eine Diskussion aufzwingen zu lassen, wer denn nun die führende Kraft dabei sei. Die nächstgrößeren Gewerkschaftsbünde FO und CFDT sehen das anders und blieben den Kundgebungen und dem Aufruf fern.

Nach Angaben der CGT waren am 26. Mai landesweit 250.000 Menschen an dieser »Volkswelle« beteiligt, allein in Paris gingen demnach 80.000 Personen auf der Straße (laut Polizei waren es dort etwa 21.000). Slogans wie »Lasst uns die Regierung ins Wanken bringen« oder »Vernachlässigt, missachtet« waren auf den Schildern zu lesen, mit denen Menschen in Toulouse (5.000 bis 8.000), Nantes (3.000 bis 6.000), Montpellier (2.500 laut Polizei), Grenoble (1.900), Strasbourg (1.500) oder Lyon (1.200) für Gleichheit und Solidarität demonstrierten.

Der CGT-Vorsitzende Philippe Martinez hielt dem Präsidenten vor: »Egal welchen Score man bei Wahlen erreicht, muss man wenigstens ein Ohr (ein Ohr!) für die Lebenswirklichkeit der Bürger in diesem Land haben.« Und er empfahl seelenruhig als »Referenzpunkt für den Premierminister« den Blick auf das Jahr 1995, als der damalige Konservative Juppé ebenfalls davon sprach, die Regierung werde nicht nachgeben – um nur wenig später im Jahr in Neuwahlen unterzugehen.

Diese Äußerungen unterschätzen massiv die Realitäten im Lande. Der Staatspräsident ist entschlossen, Frankreich im Sinne der umliegenden Nationen neoliberal zu modernisieren. Daher kann es nicht darum gehen, dass Macron auf die Straße hört und seine Reformen zurücknimmt, wie dies seine Vorgänger Chirac und Sarkozy bei ihren Rentenreformen, den Ersteinstellungsverträgen usw. taten. Zudem unterschätzt der Gewerkschaftsvorsitzende ganz offensichtlich das Ausmaß der Erschütterungen des politischen Systems, die fast alle Parteien an den Rand der Einflusslosigkeit gebracht und instabile heterogene Bewegungen sowie den rechtspopulistischen Front National an die Schwelle der Macht geführt haben.

Der Staatspräsident selbst gab sich unbeeindruckt. Die Proteste würden ihn »nicht aufhalten«. Emmanuel Macron antwortete sinngemäß: Ihr werdet die Modernisierungsblockaden nicht mit euren Blockaden beseitigen können, danach würden die Züge wieder beschleunigen. Eine Karikatur zeigt den Staatspräsidenten am »Strand von Paris«, Le Touquet, wo er ein Haus besitzt, mit dem Satz »Und wenn die Flut vorbei ist, geh ich wieder Muscheln sammeln.« Das französische Sozialmodell ist allerdings auch nur noch so stabil wie eine Sandburg.

Ob Macron aber wirklich die Kraft hat, sie zu zerstören, werden die Europawahlen im nächsten Jahr zeigen. In den ersten Umfragen zu diesen, die auch in Frankreich als reine Verhältniswahl stattfinden, zeigt sich dass Macrons Bewegung zwar stärkste Kraft sein könnte, aber den Stimmenanteil nicht wirklich ausbauen kann: La Republique En Marche bekäme 28% (zusammen mit MoDem), Front National 15%, die Republikaner 13%, die PS liegt bei 8% und FI stagniert bei 12%. Diese zeigt, dass der EU-feindliche Nationalismus sich eher zum Front National orientiert und dass FI zwar sozialen Protest organisieren, aber keine eigene Konzeption einer sozialen Neugründung der produktiven Grundlagen der Wirtschaft (und das heißt immer auch der europäischen) vorstellen kann.

Zurück