6. Januar 2023 Ulrich Bochum: Hintergründe der Konflikte an den Grenzübergängen

Spannungen zwischen Serbien und dem Kosovo

Die vorweihnachtlichen Spannungen an den Grenzübergängen zwischen Serbien und Kosovo waren der Höhepunkt einer sich über das ganze Jahr 2022 hinstreckenden Auseinandersetzung über eine scheinbar banale Angelegenheit: Autokennzeichen.

Der Konflikt zeigt jedoch vor allem eines: Der serbische Präsident Aleksandar Vučić steuert das Verhalten der serbischen Minderheit im Kosovo nach Belieben. Auf dem Höhepunkt des Konfliktes versetzte er die serbische Armee in Alarmbereitschaft und drohte mit der Entsendung von serbischen Truppen in den Kosovo.

Hintergrund dieses Konfliktes ist die Tatsache, dass die serbische Minderheit im Norden des Kosovo und insbesondere in der Stadt Mitrovica[1] sich durch die kosovarische Regierung in ihren Rechten eingeschränkt fühlt, weil sie ab 2023 ihre Fahrzeuge nur noch mit kosovarischen Nummernschildern ausrüsten darf. Bisher fuhren die Serben im Kosovo mit serbischen Kennzeichen durch die Gegend und demonstrierten so, dass sie sich der kosovarischen Verwaltung und Staatlichkeit nicht unterwerfen wollen.[2]

Aufgrund des Protestes der serbischen Einwohner*innen wurde die Einführung der neuen Kennzeichen mehrfach verschoben und eine Deadline gesetzt, bei Verstoß sollte ein Bußgeld von 150 Euro erhoben werden. Der Streit eskalierte und wurde insbesondere durch serbisch-nationalistische Kräfte angeheizt, es kam zum Einsatz von Schusswaffen und Sprengsätzen, Straßenblockaden wurden an den Grenzen zu Serbien errichtet.

In der Folge verließen serbische Bürgermeister im Nordkosovo und Stadträte der Partei Srpska Lista (serbische Liste) die politischen kosovarischen Institutionen. Ein ähnlicher Rückzug serbischer Vertreter fand vor Kurzem auch in Bosnien-Herzegowina statt. Der Rückzug der serbischen Vertreter aus den Institutionen führt dazu, dass verfassungsgemäß Neuwahlen abgehalten werden müssten, damit die Institutionen wieder funktionieren können.

Serbien hat die Unabhängigkeit des Kosovo nie anerkannt, beansprucht dessen Staatsgebiet für sich und unterstützt offen jene Kosovo-Serben, die gegen die Amtshoheit der kosovarischen Regierung Widerstand leisten. Dazu zählen auch kriminelle Banden, die etwa die Autos jener wenigen Kosovo-Serben in Brand setzen, die ihr Fahrzeug umgemeldet haben.

Zur Erinnerung: In der jugoslawischen Verfassung von 1974 besaß der Kosovo den Status einer autonomen Provinz und war den anderen sechs Teilrepubliken politisch nahezu gleichgestellt. Unter Slobodan Milošević wurde diese Autonomie aufgehoben und in der Folge kam es zu massiven Repressionen gegen die albanische Bevölkerung des Kosovo, was letztlich zur NATO-Intervention führte.

Die EU-Diplomatie schaltete sich in den Kennzeichen-Konflikt ein und versuchte, eine Kompromisslösung zu finden. Fatal ist dabei allerdings die Tatsache, dass der EU-Außenbeauftrage Josep Borrell Spanier ist und Spanien den Kosovo nicht anerkennt (neben der Slowakei, Griechenland, Rumänien und Zypern). Er drängte den Kosovo dazu, Zugeständnisse hinsichtlich der Zulassung und Gründung eines serbischen Gemeindeverbandes innerhalb des Kosovo zu machen, und drohte die angekündigte Visa-Liberalisierung zurück zu ziehen, was wiederum zu der Kritik führte, die EU stelle sich zu sehr auf die Seite Serbiens. Das deutsche Auswärtige Amt intervenierte ebenfalls und ermahnte Serbien, sich konstruktiv in den EU-Dialog einzubringen, die Barrikaden an den Grenzübergängen abzubauen und in die Institutionen zurückzukehren.

An dem Streit über Kennzeichen zeigt sich, dass das Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo einer grundsätzlichen Lösung zugeführt werden muss, sonst wird es immer wieder zu derartigen Konfliktsituationen kommen. Im Hintergrund spielt die Befürchtung der EU, Serbien könne sich zu einem Brückenkopf Russlands in Südosteuropa entwickeln und weitere Konflikte befördern, eine Hauptrolle.

Deutschland und Frankreich arbeiten an einem Plan, der das Verhältnis zwischen Serbien und Kosovo auf eine vertragliche Grundlage stellen soll. Angeblich dient dazu der Grundlagenvertrag zwischen der DDR und BRD als Vorlage. Der Entwurf konzentriert sich auf die Normalisierung der Beziehungen aus der Perspektive einer gemeinsamen EU-Zukunft, wobei das kritischste Element der Austausch von ständigen Missionen ist, ähnlich wie Botschaften, aber auf einer niedrigeren Ebene.[3]

Das Vertrauen in die EU-Politik auf dem Westbalkan ist allerdings gründlich erschüttert, weil seit Jahren keine Fortschritte erzielt werden. Abkommen werden nicht umgesetzt oder verschieden interpretiert, weil keine Texte vorliegen. Das Brüsseler Abkommen aus dem Jahr 2013 wurde von der EU nie veröffentlicht. Dabei geht es um die Gründung eines Verbandes von serbischen Gemeinden im Kosovo. Vučić will einen Gemeindeverbund nach öffentlichem Recht, der auch exekutive Aufgaben übernehmen kann. Dies wird von der kosovarischen Seite abgelehnt. Da nicht transparent ist, was in dem Abkommen vereinbart ist, kommt es zu unterschiedlichen Interpretationen und Auslegungen.

Man kann sich fragen, warum die serbische Führung immer wieder die Kosovo-Frage eskaliert. In diesem Zusammenhang ist die Auffassung wichtig, dass die »serbische Welt« auf eine kulturelle und sprachliche Einheit aller Serben ziele. Auf die politische Ebene bezogen heißt das, die einzige »Möglichkeit, dass der Balkan stabil bleibt, darin bsteht, dass die Serben in einem Staat leben. Alle Konflikte auf dem Balkan beginnen mit der Diskriminierung der Serben. Dort, wo man die Rechte der Serben achtet, gibt es kein Problem mit der serbischen Welt.«[4] Insofern solle sich Präsident Vučić als Präsident aller Serben verstehen.

Dass sich Wladimir Putin und Vučić gut verstehen, ist bekannt. Putin hat sich in seiner Haltung gegenüber der Ukraine immer wieder auf das Beispiel Kosovo bezogen, er hat die russische Krim wieder nach Hause geholt: »Krim ist Russland und Kosovo ist Serbien«, lauteten die Parolen an den Häuserwänden in Serbien.

Dennoch kann die Positionierung der serbischen Regierung zu Russland als ambivalent bezeichnet werden. Einige Regierungsmitglieder treten offen für Russland ein, so der zitierte Vulin, andere nehmen eine weniger offene Pro-Russland-Position ein, ebenso gibt es offene Kritiker Russlands, die sich für eine NATO-Annäherung einsetzen.

Für Florian Bieber, Leiter des Südosteuropa Zentrums an der Universität Graz, ist dieser Pluralismus oberflächlich. Die Regierungspartei und die Regierung werden von Vučić dominiert, und die unterschiedlichen Positionen zu Russland reflektieren stärker eine von oben verordnete Ambivalenz als einen genuinen Pluralismus. Vorbehaltlose Russland-Kritiker oder Befürworter sind in der Minderheit gegenüber der pro-russischen Ambivalenz, die von Vučić selbst gepflegt wird.[5]

Wie Balkanexperte Bieber hervorhebt, dient die inszenierte pro-russische Ambivalenz einerseits dazu, dass sich Vučić als Staatsmann von Welt darstellen kann, und andererseits kann er sich als gemäßigt agierender Politiker gegenüber den radikalen rechtsnationalistischen Kräften profilieren. Er sieht eine Symmetrie zu den guten Beziehungen, die Vučić mit der EU und einigen ihrer Mitgliedstaaten, wie Deutschland und in den letzten Jahren Ungarn und auch Frankreich, unterhält.

»Diese werden offen gefeiert und dienen als Schutz vor Kritik an fehlender Rechtsstaatlichkeit und Demokratie. Die außenpolitische Ambivalenz Vučićs hat somit auch innenpolitische Gründe und erlaubt es dem Präsidenten und seiner Partei, eine breite Unterstützung in der Bevölkerung abzusichern. Gegenüber externen Kritikern kann wiederum die öffentliche Meinung als Grund für seine Ambivalenz angegeben werden. Dieser Drahtseilakt ist somit nicht ein Dilemma, in welches der Präsident Serbiens durch Zufall oder fehlendes Geschick geraten ist, sondern vielmehr eine zentrale Säule seiner Herrschaft.«[6]

Anmerkungen

[1] Die Stadt Mitrovica im Norden des Kosovo ist praktisch in einen serbischen und in einen albanischen Teil geteilt.
[2] Vgl. dazu die Berichterstattung in der Wiener Zeitung »Der Standard«.
[3] www.euractiv.de/section/eu-aussenpolitik/news/leak-deutsch-franzoesischer-plan-zur-konfliktbeilegung-zwischen-kosovo-und-serbien/
[4] So Aleksandar Vulin, Verteidigungs- und Innenminister Serbiens jetzt Chef des Sicherheitsdienstes, ein nationalistischer Sozialist, zitiert in: Thomas Brey 2022: Staatsziel Revisionismus. Die Jugoslawienkriege und Russlands Angriff auf die Ukraine, in: Südosteuropa Mitteilungen 4/2022, S. 38.
[5] Florian Bieber 2022: Zwischen Russland und dem Westen. Serbiens inszenierte Gratwanderung, in: Südosteuropa Mitteilungen 4/2022, S. 54.
[6] Ebd. S. 55

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