2. Juni 2019 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke: Der Rückzug von Andrea Nahles

SPD: Es geht in der Tat »ums Ganze«!

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Die SPD-Chefin Andrea Nahles hat ihren Rücktritt als Partei- und Fraktionschefin angekündigt. Die innerparteiliche Diskussion nach den miserablen Ergebnissen der Europa- und der Landtagswahl in Bremen habe ihr gezeigt, dass der nötige Rückhalt zur Ausübung ihrer Ämter nicht mehr gegeben sei. Auch ihr Bundestagsmandat will sie niederlegen.

Eigentlich wollte die erste Frau an der Spitze der deutschen Sozialdemokratie im Rahmen ihrer herausgehobenen Verantwortung die auf den Weg gebrachte Erneuerung der Partei verstärkt weiter vorantreiben. Doch die interne Kritik und Zerrissenheit veranlasste sie, zunächst eine vorgezogene Wiederwahl zur Fraktionsvorsitzenden anzusetzen, um die Kritiker an ihrem Kurs zur offenen Debatte herauszufordern. Jetzt zieht sie nach längeren Diskussionen in den Gremien vor dieser Abstimmung die Reißleine und tritt von ihren Ämtern zurück.

SPD-Vizechef und Finanzminister Olaf Scholz hatte in den letzten Tagen sein Unbehagen über die Taktik der Partei- und Fraktionsvorsitzenden nicht unterdrückt. Nach dem Rücktritt lobt er deren Verdienste – »das Land und die SPD haben Andrea Nahles viel zu verdanken«. In schwierigen Zeiten habe sie die Verantwortung übernommen und den Erneuerungsprozess in der Partei begonnen. Zugleich unterstreicht er die zugespitzte Herausforderung: »Die SPD befindet sich nicht erst seit der Europawahl in einer schwierigen Lage – wichtig ist daher, dass wir zusammenbleiben und die nächsten Schritte gemeinsam gehen.«

Zuvor hatte Scholz in einem Interview mit dem Berliner Tagesspiegel am Tag vor dem Rücktritt seine Einschätzung zum Vertrauensverlust der Sozialdemokratie umrissen: »Wir sind zu lange als unstet wahrgenommen worden. Das versuchen wir seit Regierungsantritt zu verändern. Die Entscheidungen für unser Sozialstaatskonzept und für die Grundrente haben wir sehr sorgfältig vorbereitet. Man hat uns früher auch oft als taktisch wahrgenommen. Auch das ändern wir. Jeder muss verstehen, dass wir unser Anliegen aus tiefer politischer Überzeugung verfolgen. Drittens war es ein Fehler, in der vergangenen Legislaturperiode zu glauben, dass wir mit gutem Regieren alleine durchkommen. Wir mussten einsehen: Es reicht nicht.«

Und der stellvertretende SPD-Chef fügt hinzu: »Deshalb haben wir aus der Erfahrung den Schluss gezogen, dass wir gleichzeitig politische Perspektiven entwickeln, die über die konstruktive Zusammenarbeit in der Koalition hinausweisen. Offenbar hat die Zeit nicht gereicht… Wir sind bei einem historischen Tief angelangt. Jetzt müssen wir die Wahrhaftigkeit des Moments nutzen. Wir müssen mutig sein. Es geht ums Ganze.«

In der Tat geht es für die SPD um das Ganze. Inhaltlich steht nach wie vor eine Neuausrichtung der Partei zur Debatte. Mit dem Scheitern von Nahles bleibt allerdings der Ausgang der Richtungsauseinandersetzung in der Schwebe. Die Parteivorsitzende hat sich für eine Erneuerung der SPD stark gemacht, wollte die Deformationen beheben, die nach Meinung vieler in der SPD unter den früheren Parteivorsitzenden wie Gerhard Schröder, Sigmar Gabriel oder Martin Schulz angerichtet worden sind.

Im Zentrum der Erneuerung der SPD stand für Andrea Nahles eine Weiterentwicklung des Sozialstaates: »Es war der große Fehler, dass bei den Hartz-Reformen das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit verletzt wurde. Menschen, die 30 oder 40 Jahre gearbeitet haben, werden nach einem Jahr genauso behandelt, wie Menschen, die wenig oder gar nicht gearbeitet haben.« In der Tat verletzte die unter Schröder umgesetzte inhaltliche Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme den Grundgedanken der Leistungsgerechtigkeit. Aber die Leistungsgerechtigkeit ging eben nicht nur bei den Ansprüchen im Krisenfall flöten, sondern im gesamten Lohnsystem und in der sozialstaatlichen Umverteilung stimmten die Proportionen insgesamt nicht mehr.

Im Herbst 2019 sollte ein veränderter Grundgedanke sozialstaatlicher Entwicklung im Rahmen der Reformkonzeption von Nahles und anderen zur Leitlinie einer erneuerten Sozialdemokratie werden: Nach dem Vorschlag für eine Respekt-Rente hat sie eine Konzeption für eine Neuordnung der modernen Arbeitswelt und eine Stärkung des Werts der Lohnarbeit präsentiert. Bestandteile sind Zeitsouveränität, die Qualifizierung in einer digitalen Ökonomie, die Anerkennung von Arbeits- und Lebensleistung, eine Kindergrundsicherung und die Gestaltung eines sozialen Arbeitsmarktes.

Die Politik der Aufwertung der Lohnarbeit in einer digitalisierten kapitalistischen Ökonomie ist ein weiterführender Ansatz. Bis heute blieb offen, ob sich die Gesamtpartei hinter dieser Grundkonzeption vereinigen würde – was keineswegs eine Selbstverständlichkeit in der europäischen Sozialdemokratie wäre. Denn in dem aktuellen symbolischen Kampf um die Zivilisierung des vermögensgetriebenen Kapitalismus steht die Sozialdemokratie weitgehend allein. Die Unternehmer und ihre politisch-ideologischen Begleiter ahnen die Systemfrage: Der Kampf gegen die realexistierende Entwertung der Lohnarbeit wird als Systemwechsel interpretiert.

Deutschland hat nicht nur massive Defizite bei den unverzichtbaren Sozialtransfers und Alterseinkommen. Es hat einen der größten Niedriglohnsektoren unter den entwickelten kapitalistischen Hauptländern, der Anteil der Beschäftigten mit Niedriglöhnen hat sich mit 22,7% seit 2012 kaum verändert.

Rund 40% aller Lohnabhängigen haben zudem nichts von der glänzenden Lage der Kapitalakkumulation des letzten Jahrzehnts im Portemonnaie gespürt. Alter- und Kinderarmut sind die Konsequenz der Tendenz zur Entwertung der Lohnarbeit. Und die bereits auf den Weg gebrachten großen Transformationen im Unternehmensbereich wie Digitalisierung und Strukturwandel verschärfen Ungleichheit und Unsicherheit weiter.

Wir haben seit 2015 einen gesetzlichen Mindestlohn als Lohnuntergrenze. Bei reichlichen Problemen in der Durchsetzung hat sich die Situation der Arbeitnehmer im untersten Lohnsegment zwar verbessert, aber existenzsichernd ist dieser Mindestlohn nicht. Zugleich gibt es enorme Lücken bei dessen Durchsetzung, was an der seit Jahren abnehmenden Tarifbindung liegt.

Eine der zentralen Aufgaben in der Auseinandersetzung um die wachsende Wut gegen das Regime der Unsicherheit und Zukunftsängste besteht darin, die Position der Arbeitenden zu sichern und vor allem zu stärken. Faire Löhne und gute Arbeitsbedingungen sind der Schlüssel für ein selbstbestimmtes Leben. Sie waren und sind der Garant für soziale Teilhabe. Deshalb müssen Leiharbeit, Werkverträge, Minijobs und Formen neuer Erwerbsarbeit im Sinne des Respekts vor dem Wert der Lohnarbeit reguliert werden.

Schließlich müssen die Gewerkschaften in die Lage versetzt werden, sich gegen Tarifflucht zu wehren und es muss gelingen, Tarifverträge für ganze Branchen verbindlich zu machen. Dazu gehört, dass das Vetorecht der Unternehmer gegen Allgemeinverbindlicherklärungen von Tarifverträgen fallen muss. Die Sicherung des Werts der Arbeitskraft ist die Grundlage für Partizipation, Mitbestimmung und letztlich Demokratie in Betrieb, Unternehmen und der Gesellschaft.

Um Ungleichheit und Armut nachhaltig zu bekämpfen und den Zukunftsängsten vieler Bürger*innen zu begegnen, sind gesellschaftspolitische Maßnahmen erforderlich, die auf eine Neujustierung des Systems der sozialen Sicherheit hinauslaufen. Es geht um mehr als die Beseitigung von Deformationen unter dem Hartz IV Regime.

Der moderne Sozialstaat ist für entwickelte kapitalistische Gesellschaften unverzichtbar. Er ist kein reines Transfersystem mehr, sondern bietet auch für die sozioökonomische Reproduktion unverzichtbare Dienstleistungen wie Pflege und Erziehung mit einem hohen Wachstumspotenzial. Erforderlich ist ein sozialstaatliches Handeln, das Industrie-, Arbeitsmarkt-, Gesundheits- und Bildungspolitik zusammendenkt und koordiniert. Dies muss verbunden sein mit Initiativen zur Umstrukturierung der Wirtschaft und der Stabilisierung der Wertschöpfung. Dazu gehören dann auch umfangreiche staatliche Investitionen in die öffentliche Infrastruktur.

Ein Aspekt des Erneuerungsprozesses der SPD sollte sein, dass Leistungsgerechtigkeit wieder zur selbstverständlichen Norm wird. In den Debatten wurde zu Recht gefordert, dass diejenigen, die heute für die niedrigsten Löhne arbeiten, höhere Löhne erhalten. Zweitens ging es um Strukturreformen am Arbeitsmarkt mit der weiteren Ausdehnung eines sozialen Arbeitsmarkts, der wieder verlängerten Auszahlung von ALG I, einer deutlichen Erhöhung des Mindestlohns sowie der Abschaffung des Sanktionsregimes bei Hartz IV.

Drittens ging es um eine Verhinderung der weiteren Absenkung des Rentenniveaus, in der Perspektive um eine deutliche Anhebung und um armutsfeste Grundsicherungsleistungen, die den Betroffen ein sozial-kulturelles Minimum garantieren und ihre Teilhabe am gesellschaftlichen Leben sicherstellen. Dazu gehörte auch eine deutliche Anhebung des Wohngelds. Schließlich ging es um die Einführung einer Kindergrundsicherung, die den Skandal von Kinderarmut in einem reichen Land wie Deutschland beendet.

Mit dem Rücktritt von Andrea Nahles stockt die Erneuerung der SPD. Der Widerstand gegen die Partei- und Fraktionsvorsitzende liegt nicht nur in der Person begründet, sondern hat viel mit den unverzichtbaren Richtungsauseinandersetzungen zu tun. Ihr Misserfolg steht für die Tragödie der SPD, die sich wie viele sozialdemokratische Parteien weit von einem kritischen Verständnis des Kapitalismus entfernt hat und zwischen etlichen auf linke Reformen drängenden Strömungen und jenen Parteiangehörigen und -aktivisten gepalten ist, die die SPD als staatstragende bürgerliche Regierungspartei begreifen.

Die SPD muss endlich Klarheit schaffen, ob sie weiter der konservativen Strömung folgt und die neoliberale Agenda-Politik der Schröder-Ära verteidigt, oder ob sie sich ihrer linken Traditionen und einem Kapitalismusverständnis annähert und wieder zu einer die Zukunft gestaltenden Kraft zurückfindet.

Die neoliberale Gesellschaftskonzeption mit der Finanzkrise 2008 und der daraus resultierenden Krise der Europäischen Union krachend gescheitert. Sie war und ist eine Leitlinie, mit der die Umverteilung des Wohlstands von Unten nach Oben, die Verletzung der Leistungsgerechtigkeit und damit die soziale Spaltung der Gesellschaft umgesetzt wurde.

Eine zukunftsgerichtete Politik kann aber nur auf die Überwindung der tiefen sozialen Spaltung und dringend notwendige sozial-ökologischen Reformen zielen. Solange die Erneuerung in der politischen Schwebe bleibt, sind weitere Wahlniederlagen programmiert. Will sie ihre Gestaltungskraft nicht endgültig verlieren und den Weg etwa ihrer französischen Schwesterpartei in die Bedeutungslosigkeit vermeiden, muss die SPD einen modernen Sozialstaat für eine kapitalistische Gesellschaft des 21. Jahrhundert entwickeln und politisch durchsetzen helfen, in der Digitalisierung, Globalisierung und ökologische Wende viele Menschen tief verunsichern.

Nach dem Rücktritt der Partei- und Fraktionsvorsitzenden wird die SPD etliche Energie benötigen, eine neue Führung zu etablieren. Dabei werden die grundlegenden Probleme einer Erneuerung und damit der Frage, mit welcher inhaltlichen Ausrichtung eine Neuaufstellung gelingen könnte, nicht einfach außen vor bleiben können. Denn die Probleme liegen viel tiefer als nur beim Führungspersonal. Insofern ist eine schnelle Klärung über die Richtung der Erneuerung nicht zu erwarten.

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