27. Januar 2022 Otto König/Richard Detje: 50 Jahre »Radikalenerlass« – ein nicht aufgearbeitetes Kapitel

Staatliche Gesinnungsschnüffelei

Bild: SR / Hermann G. Abmayr

Am 28. Januar 1972 verabschiedeten die Ministerpräsidenten der Länder gemeinsam mit Bundeskanzler Willy Brandt (SPD) »Grundsätze zur Frage der verfassungsfeindlichen Kräfte im öffentlichen Dienst«.

Gemeint war die gesamte Linke, von Kommunist*innen über Jusos bis hin zu kritischen Gewerkschafter*innen, die eine Beschäftigung im öffentlichen Dienst suchten oder dort bereits tätig waren, und denen durch den Inlandsgeheimdienst mit der Verfassung nicht vereinbare Aktivitäten zur Last gelegt wurden. In der Folge wurde eine ganze Generation junger Menschen mit der Androhung von Berufsverboten traktiert. »Der Radikalen-Erlass ist ein Wahnsinnsakt der Demokratie, die sich ihrer eigenen Stärke nicht bewusst ist. Was sie aber nicht verträgt, ist eine verbrämte Aufforderung zur Denunzierung«, kommentierte der Literaturnobelpreisträger Günter Grass die staatliche Gesinnungsschnüffelei.

Der Erlass bestand nur aus ein paar dürren Grundsätzen über die Einstellung in den Öffentlichen Dienst, die es gleichwohl in sich hatten: »Ein Bewerber, der verfassungsfeindliche Aktivitäten entwickelt«, so der Wortlaut, »wird nicht in den öffentlichen Dienst eingestellt. Gehört ein Bewerber einer Organisation an, die verfassungsfeindliche Ziele verfolgt, so begründet diese Mitgliedschaft Zweifel daran, ob er jederzeit für die freiheitliche demokratische Grundordnung eintreten wird. Diese Zweifel rechtfertigen eine Ablehnung.« Damit wurden willkürliche politische Entlassungen institutionalisiert.

Vorreiter für die »Hexenjagd« gegen Linke war die Freie und Hansestadt Hamburg, die bereits ein halbes Jahr zuvor die Verfassungstreue von Bewerber*innen für den öffentlichen Dienst überprüfen ließ. »Es genügt hinsichtlich der Nicht-Einstellung der ernsthafte Zweifel daran«, so der damalige Hamburger Bürgermeister Peter Schulz (SPD), »dass der Bewerber sich nicht für unsere demokratische Grundordnung einsetzt«. Der Hamburger Senat teilte im November 1971 der Lehrerin Heike Gohl mit, dass er ihre Entlassung wegen der »politischen Betätigung für die SDAJ Sozialistische Deutsche Arbeiterjugend (SDAJ) und die Deutsche Kommunistische Partei (DKP)« betreiben werde. Es war der erste von Tausenden Fällen, die folgen sollten.

Im Klima des Kalten Kriegs war der Radikalenerlass eine Reaktion der Herrschenden auf das Erstarken der neuen Linken – auf eine aufbegehrende Studentenbewegung unter Führung des Sozialistischen Deutschen Studentenbunds (SDS), auf zunehmende gesellschaftskritische Aktivitäten der APO sowie Rudi Dutschkes Aufruf zum »Marsch durch die Institutionen«. Es sollte verhindert werden, dass linke Intellektuelle, kommunistische Funktionäre, kämpferische Gewerkschafter*innen, die in die sozial- und infrastrukturell relevanten Berufe vom Lehrer bis zum Lokführer arbeiten wollten, in den staatlichen Institutionen an Einfluss gewannen. Es traf Menschen, die sich für eine entschiedene Aufarbeitung der NS-Vergangenheit, die Demokratisierung der Hochschulen oder die Sozialisierung von Schlüsselindustrien wie der Stahlindustrie einsetzten.

»Nach konservativem Verständnis gehörten Akademiker zur Elite, und 1968 waren Teile von ihr desertiert und sollten nun durch Drohungen wieder in den Pferch zurückgetrieben werden.« (Georg Fülberth) Mitglieder der 1968 zugelassenen, also legalen Deutschen Kommunistischen Partei (DKP) sowie des sozialistischen Jugendverbandes SDAJ waren die am stärksten Betroffenen.[1] Es reichte aber auch schon aus, in einer Organisation aktiv zu sein, in der auch Kommunisten engagiert waren oder die mit Kommunisten zusammenarbeiteten – etwa im Sozialistischen Hochschulbund (SHB), in der VVN-BdA, der Deutschen Friedensgesellschaft (DFG-VK), den Freidenkern, den Naturfreunden bzw. der Vereinigung Demokratischer Juristinnen und Juristen (VDJ).

Im Nachgang des Beschlusses vom 28. Januar 1972 wurde die »Regelanfrage« bei den Ämtern für Verfassungsschutz eingeführt, d.h. die Überprüfung aller Bewerber*innen für den Staatsdienst mithilfe der Datenbanken des Inlandsgeheimdienstes – ein »Blankoscheck zur Gesinnungsschnüffelei«. Das heißt, wer in den Staatsdienst wollte, wurde vorher vom Verfassungsschutz gecheckt, von einer Behörde, die seit ihrer Gründung »auf dem rechten Auge blind« sowie bis in die jüngste Zeit durch Skandale wie Lauschangriffe auf Politiker*innen und Aktivist*innen geprägt ist und marodierende Mörder des NSU unterstützte. Der Inlandsgeheimdienst entwickelte sich faktisch zur Auswahl- und Einstellungsbehörde für den öffentlichen Dienst.

Mithilfe der Regelanfrage wurden 3,5 Millionen Bewerber*innen durchleuchtet. »Verdächtige« wurden zum Teil über Jahre hinweg vom Verfassungsschutz beobachtet. Alle Lebensbereiche wurden bespitzelt, der Arbeitsplatz genauso wie politische Aktivitäten und persönliche Beziehungen. Nach Angaben der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) wurden 11.000 Berufsverbotsverfahren eingeleitet, 2.200 Disziplinarverfahren gegen mutmaßliche Verfassungsfeinde angestrengt. Mindestens 1.250 Bewerbungen wurden abgelehnt und 265 Angestellte entlassen. »Wir haben in der Bundesrepublik Deutschland ein politisches Überwachungssystem, wie es in dieser Perfektion und in diesem Umfang in keiner anderen bürgerlichen Demokratie besteht, noch nicht einmal in den Vereinigten Staaten, etwa in der Zeit des Kalten Krieges«, stellte der Marburger Politologe Wolfgang Abendroth auf der »Internationalen Konferenz gegen die Berufsverbote« 1979 in Darmstadt fest.

Diese Berufsverbotspolitik hatte ihren Vorlauf in den 1950er- und 1960er-Jahren. Bereits zu Beginn der 1950er Jahre konzentrierte sich der neu installierte Inlandsgeheimdienst auf die Bekämpfung des »Linksextremismus«. Zu den Kernaufgaben gehörte die geheimdienstliche Beobachtung und Durchdringung der Kommunistischen Partei Deutschlands (KPD). Mit dem sogenannten Adenauer-Erlass von 1950 wurde der öffentliche Dienst von »kommunistischen Elementen« gesäubert – es gab die ersten Berufsverbote in der Bundesrepublik.

Umgekehrt hatten Nazibeamte nach Art 131 GG Anspruch auf vorrangige Einstellung.[2] Viele ehemals leitende Gestapo-Beamte, Angehörige der SS- und SA sowie der deutschen Wehrmacht setzten ihre Karriere im Staatsdienst – bei der Justiz, Polizei und Geheimdiensten – fort. Diese Politik gegen Linke gipfelte 1956 im Verbot der KPD durch das Bundesverfassungsgericht und führte zu knapp 8.000 Haftstrafen gegen Kommunist*innen, parteilose Unterstützer*innen und aktive Aufrüstungsgegner*innen.

Strafrechtlich verfolgt wurden Menschen, die »keine politischen Morde, keine Aufstandsversuche, keinerlei Gewalttaten« begangen hatten, wie der Anwalt und frühere NRW-Justizminister Diether Posser in seinem 1991 erschienenen Buch »Anwalt im Kalten Krieg« hervorhob.[3] Das tief verwurzelte Feindbild des Kommunismus führte zu einer Lähmung bis hinein in SPD und Gewerkschaften. Letztere versuchten sich mit »Unvereinbarkeitsbeschlüssen« vor allem gegen K-Gruppen abzuschotten.

In den 1970er- und 1980er-Jahren kam es wiederholt im In- und Ausland zu starken Protesten gegen Berufsverbote. Der deutsch-französische Soziologe Alfred Grosser skandalisierte die bundesdeutsche Radikalenverfolgung in seiner Friedenspreis-Rede 1975. Er hob den Fall der Lehrerin Silvia Gingold hervor, deren jüdisch-kommunistische Eltern während des Nationalsozialismus nach Frankreich emigrieren mussten und in der Résistance gekämpft hatten. Nun sollte die Tochter ihren Beruf nicht ausüben dürfen.[4] Ihr wurde die Teilnahme an Demonstrationen gegen den Krieg in Vietnam, an Veranstaltungen der DKP, der SDAJ, an wissenschaftlichen Tagungen des Instituts für Marxistische Studien und Forschungen sowie Reisen in die DDR zur Last gelegt. Drei Jahre später wurde die Bundesrepublik wegen ihrer Berufsverbotspraxis vom 3. Internationalen Russell-Tribunal symbolisch verurteilt, und auch die Internationale Arbeitsorganisation (ILO) rügte mehrfach die Praxis der Berufsverbote.

Das Bundesverfassungsgericht hatte in seinem »Radikalenbeschluss von 1975« diese Praxis grundsätzlich als verfassungskonform abgesegnet. Die Karlsruher Richter entschieden: Die Eignung eines Bewerbers hänge nicht von der Mitgliedschaft in Organisationen, sondern von seinem Verhalten und seiner Persönlichkeit ab. Daraufhin legte die sozial-liberale Bundesregierung 1976 neue Richtlinien zum Radikalen-Erlass fest. Einzelne Regelungen wurden im Sinne der Bewerber*innen verbessert, so hatten sie nun das Recht, einen Anwalt einzuschalten. In Einzelfällen sollte der zuständige Minister entscheiden. Bundeskanzler Helmut Schmidt (SPD) räumte 1978 ein, man habe »mit Kanonen auf Spatzen« geschossen, und sein Vorgänger Willy Brandt, der sein Amt 1969 mit dem Slogan »mehr Demokratie wagen« angetreten hatte, bewertete den Radikalenerlass rückblickend als »Irrtum« seiner Regierung.

Die Berufsverbotspraxis währte zwei Jahrzehnte: Der Beschluss vom 28. Januar 1972 wurde nie offiziell für ungültig erklärt. Der Bund verabschiedete sich 1979 von dieser Praxis, ab 1980 wurde zunächst in den sozialdemokratisch regierten, dann in allen anderen Ländern, zuletzt 1991 in Bayern, die Regelanfrage abgeschafft, »Bedarfsanfragen« aber bleiben bis heute möglich. In Niedersachsen gab es Anfang der 1980er Jahre noch besonders harte Berufsverbote. Das Land musste der Studienrätin Dorothea Voigt aus Jever Schadensersatz zahlen, nachdem der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte festgestellt hatte, dass ihre Entlassung 1987 wegen DKP-Mitgliedschaft gegen die Europäische Menschenrechtskonvention verstoße. Es war das erste Mal, dass sich die Bundesrepublik in der jahrzehntelangen Auseinandersetzung um Berufsverbote vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte verantworten musste und bescheinigt bekam, sich Menschenrechtsverletzungen schuldig gemacht zu haben.

Radikalenerlass und Berufsverbote sind ein bis heute nicht aufgearbeitetes Kapitel bundesdeutscher Geschichte. In einigen Bundesländern wurden den Betroffenen zwar wieder adäquate Stellen im öffentlichen Dienst angeboten. Doch mit der Wiedereinstellung waren weder Rehabilitierung noch Entschädigungen verbunden – also kein Schadensersatz in Höhe der entgangenen Einnahmen und keine Rentenanpassung.[5] Die herrschende Meinung geht nach wie vor davon aus, dass die seinerzeitigen Berufsverbotsverfahren rechtmäßig und rechtsstaatlich durchgeführt worden seien.

Anmerkungen

[1] Zum Vergleich: Als 1967 rund 1.200 NPD-Mitglieder im Staatsapparat gezählt wurden – etwa gleich viele, wie es dort fünf Jahre später DKP-Mitglieder gegeben haben soll –, blieben die Innenminister und Regierungschefs untätig. Auch für extreme Parteien gelte das sogenannte Parteienprivileg, d.h. die Parteien und ihre Mitglieder seien vor politischer Diskriminierung geschützt, solange die Partei nicht verboten wurde. (Der Radikalenerlass wird 50, RosaLux 1_2022).
[2] Der Vater eines der Autoren, Mitglied in der KPD, wurde aufgrund des Adenauer-Erlasses aus dem Polizeidienst entfernt, während dessen Bruder, Offizier der deutschen Wehrmacht, mithilfe des Art 131 GG in den Staatsdienst eingestellt wurde.
[3] Von 1951 bis 1968 gab es Ermittlungsverfahren gegen 150.000 bis 200.000 Personen. Mehr als doppelt so viele – etwa eine halbe Million – waren direkt oder indirekt von Ermittlungsmaßnahmen betroffen. Selbst gewaltlose Proteste gegen die Wiederaufrüstung und Atombewaffnung wurden als kriminelle Delikte verfolgt, weil sie als »kommunistisch gesteuert« galten. Menschen wurden wegen »Staatsgefährdung« oder »Geheimbündelei« bestraft, weil sie für ein entmilitarisiertes und neutrales Gesamtdeutschland eintraten oder deutsch-deutsche Kontakte pflegten (Rolf Gössner »Feindstrafrecht«, jungeWelt vom 3.12.2020).
[4] Silvia Gingold wurde nach internationalen Protesten als Angestellte wieder eingestellt und arbeitete bis zu ihrem Ruhestand 2008 als Lehrerin im hessischen Schuldienst.
[5] Baden-Württembergs Ministerpräsident Winfried Kretschmann (Grüne), in den späten 1970er Jahren als Mitglied des Kommunistischen Bundes Westdeutschland (KBW) selbst vom Berufsverbot betroffen, bezeichnet den Radikalenerlass als »keine Erfolgsgeschichte«, schließt Entschuldigungen bei denen, die von ihm betroffen waren, nicht aus und setzt auf eine politische Aufarbeitung der staatlichen Gesinnungsschnüffelei. Der Journalist Hermann G. Abmayr interviewte Kretschmann für die TV-Dokumentation »Jagd auf Verfassungsfeinde – Der Radikalenerlass und seine Opfer«. Erstsendung war in der ARD am 17. Januar 2022 und ist jetzt noch bis zum 17.1.2023 in der ARD-Mediathek abrufbar.

 

 

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