21. Dezember 2017 Otto König/Richard Detje: Türkei – Aufruf zu Friedensgesprächen als »Verbrechen« verfolgt

»Staatsfeind« durch eine Unterschrift

Foto: dpa

Nach siebeneinhalb Monaten wurde Mesale Tolu am 18. Dezember aus dem Frauengefängnis Bakirköy entlassen – gemeinsam mit fünf Mitangeklagten. Die Auflagen: Sie darf die Türkei nicht verlassen und muss sich jeden Montag bei der Polizei melden. Die Anklage ist nicht aufgehoben – der Prozess soll im April fortgesetzt werden.

Zuvor war im Oktober der Berliner Menschenrechtler Peter Steudtner freigekommen und auch der Journalist Suat Corlu, der Ehemann von Mesale Tolu, kam Ende November aus der Haft. All dies sind Hoffnungszeichen, dass anhaltender öffentlicher Druck auch gegenüber dem autokratischen Regime in Ankara Wirkung zeigen kann. Doch mehr vorerst nicht. Denn parallel ist eine neue Prozesswelle angelaufen:

»Wir, die Akademiker und Wissenschaftler dieses Landes, werden an diesem Verbrechen nicht teilhaben!« Mit diesem Satz hatten 1.128 türkische Akademiker_innen Anfang 2016 die »Vernichtungs- und Vertreibungspolitik« der konservativ-islamistischen AKP-Regierung gegenüber der kurdischen Bevölkerung angeprangert. Die Unterzeichner_innen forderten die Beendigung der »kriegsartigen Zustände« im Südosten des Landes und riefen die politisch Verantwortlichen dazu auf, zum Dialog und zu Friedensgesprächen zurückzukehren

Es war die Zeit, als türkische Sicherheitskräfte kurdische Städte wie Cizre und Nusaybin sowie die Altstadt von Diyarbakir mit schweren Waffen angriffen und die Einwohner durch wochenlange Ausgangssperren »zum Verhungern und Verdursten« verurteilt wurden.[1] Rund eine halbe Million Kurden flohen in andere Teile der Türkei. Tausende HDP-Funktionäre wurden festgenommen, Hunderte angeklagt – darunter auch der Vorsitzende Selahattin Demirtas und die Ko-Vorsitzende der Partei, Figen Yüksekdag, sowie sieben weitere HDP-Abgeordnete.

Den ersten zehn »Akademikern für den Frieden« wird seit Anfang Dezember im Istanbuler Justizpalast Caglayan der Prozess gemacht; der erste in einer Reihe von Prozessen gegen insgesamt 146 Wissenschaftler_innen, die in den kommenden Monaten beginnen werden. In der Anklageschrift heißt es, der »sogenannte Friedens-Aufruf« trage »den Charakter der offenen Propaganda für die Terrororganisation PKK«. Für den zuständigen Oberstaatsanwalt steht fest, dass die Unterzeichner den türkischen Staat als »illegitime, zerstörende Kraft« darstellen sowie Gewalt durch die PKK legitimieren.

Den »Terrorhelfern«, so Präsident Recep Tayyip Erdogan, drohen bis zu siebeneinhalb Jahre Haft. Es mag Zufall sein, dass zum gleichen Zeitpunkt der Prozess gegen den einzigen Oppositionspolitiker begann, der Erdogan wirklich gefährlich werden könnte. Dem HDP-Vorsitzenden Selahattin Demirtas legt die Staatsanwaltschaft Verbindungen zur PKK zur Last und fordert 142 Jahre Haft – mehrmals lebenslänglich.

Es geht um die Kriminalisierung aller oppositionellen Aktivitäten. Die Unterschrift unter den »Friedensappell« ließ die Akademiker nach AKP-Lesart zu »Staatsfeinden« werden, sie stehen seitdem unter schwerem politischen, juristischen und sozialen Druck. Die türkische Journalistin Uzay Bulut schreibt: »Offenbar besteht der einzige Weg, ein ›türkischer Patriot‹ oder ein ›guter Staatsbürger der Türkei‹ zu sein, darin, offen die Morde an Kurden zu unterstützen – oder zumindest dazu zu schweigen«.

Kurze Zeit nach der Veröffentlichung der Petition setzte die staatlich gelenkte Einschüchterungs-kampagne ein. Der Rat der höheren Bildung der Türkei (YÖK) forderte die Universitäten und Institute auf, gegen die Unterzeichner zu ermitteln. Namen und Fotos derjenigen, die eine Unterschrift geleistet hatten, wurden von regierungsfreundlichen Zeitungen veröffentlicht. In den sozialen Medien wurde eine Kampagne gegen die als Terroristen beschimpften Hochschullehrer_innen gestartet – sie wurden als »Hurensöhne«, »perverse Lesben« und »PKK-Liebhaber« diffamiert. Sedat Peker, ein bekannter Mafia-Boss mit rechtsextremer Gesinnung, sprach ohne rechtliche Folgen wortwörtlich davon, »im Blut der Akademiker für den Frieden baden zu wollen«.

In der Folgezeit verloren über 370 Wisenschaftler_innen, die den Aufruf unterzeichnet hatten, ihren Arbeitsplatz an den Universität, viele wurden festgenommen und inhaftiert, einige konnten sich ins Ausland absetzen. Hunderte von ihnen sind heute ohne Einkommen, dürfen das Land nicht verlassen. Sie wurden Teil der Säuberungswelle gegen Oppositionelle und Kritiker des autoritären AKP-Regimes, die erst nach dem »gescheiterten« Putschversuch und der Ausrufung des Ausnahmezustandes ihre volle Wucht entwickelte.

Per Notstandsdekrete wurden seit Juli 2016 in der Türkei mehr als 138.000 Staatsbedienstete wegen angeblicher »Mitgliedschaft in einer Terrororganisation« oder »Terrorpropaganda« entlassen, darunter über 30.0000 Lehrer_innen, fast 8.000 Wissenschaftler_innen, viele einfache Beamte und Angestellte.[2] Die Entlassenen sind nicht nur mit einem Berufsverbot im Staatsdienst belegt, sondern de fakto auch mit einem allgemeinen Berufsverbot.

Denn die Namen der Entlassenen werden im staatlichen Amtsblatt der Türkei veröffentlicht, sodass potenzielle Arbeitgeber abgeschreckt werden, diese als »Terroristen« und »Putschisten« denunzierten Menschen einzustellen. Tausende Familienangehörige der entlassenen Staatsbediensteten stehen ohne Einkommen vor dem materiellen Ruin. »Zehntausende Menschen vom Arbeitsmarkt abzuschneiden kommt einer professionellen und massenhaften Ausschaltung gleich. Es ist ganz klar Teil des aktuellen politischen Vorgehens, das deklarierte Kritiker und Oppositionelle oder die, die von der Regierung als solche wahrgenommen werden, treffen soll«, sagt Andrew Gardner, Researcher von Amnesty International für die Türkei.

Zwei von tausenden Akademiker_innen, die per Notstandsdekret (KHK) ihre Arbeit verloren haben, sind die Literaturwissenschaftlerin Nuriye Gülmen und der Lehrer Semih Özakça, die sich seit dem 9. März im Hungerstreik befinden.[3] Die türkische Justiz erklärte sie zu Terroristen und ließ sie am 23. Mai wegen Mitgliedschaft in der verbotenen DHKP-C verhaften. Ihr Protest sollte nicht weiter in der Öffentlichkeit sichtbar sein. »Wir wollen unseren Hungerstreik so lange fortsetzen, bis unsere Forderungen erfüllt sind: Wir wollen nur unsere Arbeit zurück. Mehr verlangen wir nicht«, sagte Gülmen.[4] Ein türkisches Gericht hat zwischenzeitlich die Freilassung von Nuriye Gülmen angeordnet; zuvor war Semih Özakça vorläufig auf freien Fuß gesetzt worden.

Um der Willkür des Erdogan-Regimes zu entfliehen, habe Intellektuelle versucht, die Türkei in Richtung Europa, Amerika und Kanada verlassen. Deutschland ist im vergangenen Jahr zum Hauptzielland für geflohene Wissenschaftler_innen geworden. Täglich erreichen die Professorin Kader Konuk, Direktorin des Instituts für Turkistik an der Universität Duisburg/Essen, per Mail Anfragen von Wissenschaftlern, die in der Türkei mit einem Berufsverbot belegt sind und wegen ihrer regimekritischen Haltung kriminalisiert werden. Die türkischstämmige Literaturwissenschaftlerin ist Initiatorin der »Akademie im Exil« mit Standorten in Essen und Berlin, die vom Kulturwissenschaftlichen Institut (KWI) an der Universität Duisburg/Essen und dem Forum Transregionale Studien in Berlin (Forum) unterstützt wird. Die Volkswagenstiftung hat einem Förderantrag stattgegeben und gewährt 900.000 Euro über eine Laufzeit von drei Jahren. Auf diese Weise sollen jährlich bis zu zehn Stipendiaten unterstützt werden.

Die »Akademie im Exil« will bestehende Angebote wie die »Philipp-Schwartz-Initiative« der Alexander-von-Humboldt-Stiftung und andere Stipendienprogramme für gefährdete Wissenschaftler ergänzen. Es gibt auch lobenswerte Privatinitiativen wie beispielsweise die des Bielefelder Konfliktforschers Andreas Zick, der sein Preisgeld in Höhe von 50.000 Euro für den Communicator-Preis der Deutschen Forschungsgemeinschaft der Universität Bielefeld spendete, die den Betrag verdoppelte und damit den Gastaufenthalt eines bedrohten Forschers aus der Türkei ermöglicht.

Die Solidarität für die verfolgten Wissenschaftler_innen wird international breit getragen. Sie gilt vor allem jenen, die das Land nicht verlassen können, weil ihnen u.a. die Reisepässe entzogen wurden. Viele von ihnen engagieren sich zum Beispiel in sechs Städten in »Solidaritäts-Akademien«, in denen sie unter freiem Himmel, meist in öffentlichen Parks, den Unterricht für ihre Studenten fortsetzen.

Der Schriftsteller Cetin Altan, der selbst oft genug unter den Repressalien der Herrschenden gelitten hat und dessen Söhne Ahmet und Mehmet Altan wegen ihrer Schriften im Gefängnis sitzen, schrieb im Oktober 2015: »Um den verwundeten Riesen (Türkei) wieder auf die Beine zu stellen, haben wir ihn Generationen über Generationen auf unseren Rücken getragen. Eines Tages wird dieses Land auf seinen Beinen stehen. Auch wenn ihr euer Ziel nicht erreicht, auch wenn ihr dieses Ziel an die nächsten Generationen weitergeben müsst – wenn ihr den Kampf nicht aufgebt, dann werdet ihr einmal sagen können: ›Auch wir haben gar nicht so schlecht gekämpft für eine bessere Welt.‹«

[1] Bei den Parlamentswahlen im Juni 2015 überwand die HDP die Zehn-Prozent-Hürde. Die AKP-Regierung verlor die absolute Mehrheit. Erdogan, der mit einem »Friedensprozess« versucht hatte, kurdische Wähler auf seine Seite zu ziehen, vollzog eine radikale Kehrtwende in der Kurdenpolitik. Er ließ Neuwahlen ansetzen und es begann ein im Ausland kaum verurteilter Krieg gegen die kurdische Bevölkerung.
[2] Amnesty International: NO END IN SIGHT PURGED PUBLIC SECTOR WORKERS DENIED A FUTURE IN TURKEY, 2017.
[3] Otto König/Richard Detje: Türkei – Hexenjagd gegen Schriftsteller, Journalisten und Akademiker. »Gedankenfreiheit existiert nicht mehr« (Orhan Pamuk), Sozialismus Aktuell, 29.6.2017.
[4] »Über unsere Zukunft entscheidet der Weg des Widerstands«, TAZ gazete, 13.12.2017

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