7. September 2024 Joachim Bischoff: Erneut »kranker Mann« oder »zweites Wirtschaftswunder«?
Stagnation und das politische Elend der Konjunkturförderung
Die deutsche Wirtschaft schwächelt weiter. Während in anderen Ländern die Ökonomien leicht zulegen, steckt die deutsche Wirtschaft in einer Stagnation fest. Das Deutsche Institut für Wirtschaftsforschung (DIW) hat seine Konjunkturprognose für 2024 nach unten korrigiert. Statt eines minimalen Wachstums des Bruttoinlandprodukts von 0,4% erwarten die Wirtschaftsforscher*innen nun eine Stagnation.
»Die erhofften Erholungen aus der Industrie, die wir zu Beginn des Jahres hatten, die haben sich nicht materialisiert«, sagte DIW-Konjunkturchefin Geraldine Dany-Knedlik. Auch der private Konsum sei schwächer ausgefallen, als das DIW zunächst erwartet hatte. Verbraucher*innen sind bei den Konsumausgaben weiter zurückhaltend. Die aktuelle Sparquote liegt bei 10,8%.
Auch andere Forschungsinstitute haben ihre Prognosen deutlich gesenkt. Das Münchner Ifo-Institut und das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung Halle (IWH) rechnen für dieses Jahr ebenfalls mit null Wirtschaftswachstum, das Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung in Essen (RWI) mit 0,1%.
Im Juni wurde von Kieler Institut für Weltwirtschaft (IfW Kiel) noch ein Wachstum von 0,2% vorausgesagt, nachdem Europas größte Volkswirtschaft 2023 um 0,3% geschrumpft ist. »Die deutsche Wirtschaft kommt nicht in die Gänge«, lautet das Fazit der Kieler Ökonomen Für das kommende Jahr senkte das IfW die Prognose noch kräftiger – von 1,1 auf 0,5%.
»Das Verarbeitende Gewerbe befindet sich in der Rezession und die privaten Haushalte halten sich trotz steigender Realeinkommen beim Konsum zurück«, nannte das IfW die Gründe für die pessimistischere Einschätzung. Zugleich litten die Investitionen weiter unter der hohen Unsicherheit und schwierigen Finanzierungsbedingungen.
Dagegen schätzt das DIW die Entwicklung leicht günstiger ein. Der wirtschaftliche Aufschwung sei nicht aufgehoben, sondern nur aufgeschoben, betonte das DIW. Schon für das kommende Jahr rechnet das Institut wieder mit einem Wachstum von 0,9% und für 2026 mit 1,4%.
Politisch wird vor allem von den Unions-Parteien CDU und CSU – gleichsam im Chor verstärkt von der AfD und dem Bündnis Sahra Wagenknecht (BSW) – in der Öffentlichkeit erneut das Bild von der roten Schlusslaterne beschworen. Als den »kranken Mann« des europäischen Währungsraums hatte das britische Wirtschaftsmagazin »Economist« Deutschland im ersten Jahrzehnt des 21. Jahrhunderts angeprangert. Die Bundesrepublik sei wirtschaftlich von ihren Nachbarn abgehängt worden. Erst mit der Agenda 2010, den »Reformen des Arbeitsmarktes« und des Sozialsystems habe später eine ökonomische Aufholjagd begonnen – und die deutsche Wirtschaft wurde anschließend vom selben Magazin gelobt.
Wiederholt sich die Geschichte? Für den CDU-Generalsekretär Carsten Linnemann ist diese Konstellation erneut gegeben. Er hat die Bundesregierung aufgerufen, Deutschlands Wirtschaft mit umfassenden Reformen international wettbewerbsfähiger zu machen: »Es bringt jetzt nichts, hier und da mal Abschreibungsregeln zu verbessern. Unser Land braucht jetzt ein Gesamtkonzept, eine Agenda 2030.« Es gehe darum, dass Leistung sich wieder lohne, dass Fördern und Fordern wieder stattfänden, damit der Staat insbesondere die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen in Gang brächte.
»Wir sind nicht nur der kranke Mann Europas, sondern laut Internationalem Währungsfonds der kranke Mann der Welt«, findet der CDU-General. Der IWF habe prognostiziert, dass die Bundesrepublik unter den großen Industriestaaten weltweit das einzige Land sei, dessen Wirtschaft in diesem Jahr schrumpfen werde. »Alle anderen Länder wachsen.« Die Union habe bereits ein Sofortprogramm in Gestalt eines Fünf-Punkte-Planes vorgelegt. »Das reicht aber noch nicht aus. Es braucht ein Gesamtkonzept und das werden wir in den nächsten Wochen vorlegen.«
Die CDU bietet die Agenda 2010 mit ihren sozialen Verwerfungen wieder als Blaupause an. Was schon damals eine konfliktreiche Aufkündigung des sozialen Friedens einleitete, und letztlich eine massive Ausweitung des Niedriglohnsektors zur Folge hatte, soll heute wiederholt werden. Propagiert wird ein politisches Rezept im Interesse des Kapitals, das auf das Kurzzeitgedächtnis von großen Teilen der arbeitenden Bevölkerung setzt. Die dringend erforderliche ökologische Transformation der Ökonomie hat keine Chance.
In der Tat fehlt es der deutschen Wirtschaft an Wachstumsdynamik. Viele wichtige Konjunkturdaten weisen nach unten. Auch in anderen kapitalistischen Hauptländern sind wir mit nur geringen Wachstumsraten konfrontiert. Wegen der angespannten wirtschaftlichen Lage in Deutschland fordern auch die Wirtschaftsverbände ein Entlastungspaket für Unternehmen.
Die Aussichten für die deutsche Wirtschaft im zweiten Halbjahr sind ernüchternd – gemessen an den zuvor von der Ampel-Regierung verkündeten Wachstumsprognosen. Von einer beschleunigten Frühjahrs- und Sommererholung kann nicht die Rede sein. Im zweiten Quartal stagnierte das Wachstum. Zwar ist die befürchtete Winterrezession aufgrund der von Russland verstärkten Energiekrise erstaunlich gut überstanden worden, doch ein Aufschwung zeichnet sich nicht ab.
Die wirtschaftlichen Zuwachsraten sind bereits seit längerem deutlich geschrumpft. Während die deutsche Wirtschaft seit 1950 pro Jahr im Schnitt um 3,1% gewachsen ist, legte im 21. Jahrhundert die Wirtschaftsleistung viel verhaltener zu als in den 50 Jahren vor der Jahrtausendwende. Dadurch wachsen die Sorgen vor einem wirtschaftlichen Niedergang.
Das hat viele Gründe, zentral sind u.a.: Immer weniger arbeitende Menschen tragen die gesellschaftliche Wertschöpfung, geopolitische Konflikte erschweren den Export, der starke Anstieg der Preise für Energie und Lebensmittel dämpft den inländischen Verbrauch, notwendiger, aber teurer Klimaschutz belastet die Transformation und Unternehmen werden von den USA mit Subventionen und Steuervergünstigungen zur Verlagerung der Produktionsstandorte motiviert. Trotzdem sprach Bundeskanzler Olaf Scholz (SPD) kürzlich von den Möglichkeiten eines neuen Wirtschaftswunders. Die anstehende Dekarbonisierung erfordere massive Investitionen, die in der Wirtschaft einen Wachstumsboom auslösen könnten.
Die meisten Ökonom*innen allerdings sind nicht davon überzeugt, dass ein »neues Wirtschaftswunder« –Wachstumsraten von 4% bis 6% – auf absehbare Zeit realistisch ist. »Leider wird dieses Wunder ausbleiben wegen der vielfältigen Belastungen durch dauerhaft höhere Energiepreise und Außenhandelsfriktionen, wegen der Schrumpfung der Erwerbsbevölkerung«, argumentierte Clemens Fuest, Präsident des ifo-Instituts. Allerdings habe die Politik Möglichkeiten, dazu beizutragen, dass ein wirtschaftlicher Niedergang verhindert wird. So könnte Deutschland könnte durchaus von Dekarbonisierung und Klimaschutz profitieren.
Trotz aller Sorgen aus der Wirtschaft sieht der Bundeskanzler Deutschland für die Zukunft gut aufgestellt. Es existierten »die besten Voraussetzungen dafür, dass wir auch in zehn, 20 und in 30 Jahren technologisch in der Spitzenliga spielen«. Die vor Monaten verkündete Aussicht auf einen Boom in der anlaufenden ökologischen Transformation wiederholt der Kanzler zwar nicht, wehrt sich aber gegen die negativen Einschätzungen: »Wir dürfen den Wirtschaftsstandort Deutschland nicht schlechtreden.«
Gleichwohl ist die Ampelregierung wegen des Festhaltens an der Schuldenbremse und an den Unterstützungszahlungen für die Ukraine politisch blockiert, ein wirksames Konjunkturförderungsprogramm aufzulegen und die Transformation in eine neue kapitalistische Betriebsweise der Nachhaltigkeit zu fördern. Es wurden zwar in der letzten Kabinettssitzung vor den Ferien noch erste Steuermaßnahmen zur Belebung der Wirtschaft beschlossen. Das jährliche Entlastungsvolumen des »Steuerfortentwicklungsgesetzes« erhöhte sich dadurch noch einmal deutlich: nämlich von 12,8 Mrd. Euro auf 20,9 Mrd. Euro. Der Gesetzentwurf muss allerdings in den kommenden Monaten vom Bundestag und vor allem dem Bundesrat erst noch verabschiedet werden. Und da sind Zweifel angebracht, ob die Investitionsanreize für Unternehmen tatsächlich so üppig ausfallen.
Bei den Wirtschaftsverbänden hat man nicht vergessen, dass vor einem Jahr schon einmal ein milliardenschwerer Gesetzentwurf zum Wohle der lahmenden Konjunktur vom Kabinett beschlossen worden war. Mit einem Volumen von sieben Mrd. Euro war das Gesetz mit dem wohlklingenden Namen »Wachstumschancengesetz« gestartet, nach wochenlangen Verhandlungen zwischen Bund und Ländern schrumpfte die Anstrengung zu höherem Wachstum auf 3,2 Mrd. Euro. Ein wirksames Konjunktur- und Wachstumspaket sieht anders aus.
Auch die fünf Wirtschaftsweisen hatten ihre Prognose für 2023 angehoben, nachdem sie im November 2022 noch einen Rückgang des BIP um 0,2% geschätzt hatten. Durch die stabilisierte Energieversorgungslage und gesunkene Großhandelspreise habe sich die Wirtschaftsentwicklung leicht gebessert. Der Sachverständigenrat zur Begutachtung der gesamtwirtschaftlichen Entwicklung (SVR) erwartete ein Wachstum des deutschen Bruttoinlandsprodukts (BIP) von 0,2% Jahr 2023 und von 1,3% in 2024.
Der kurzfristige Ausblick habe sich gegenüber dem Herbst 2022 leicht verbessert, die Lage bleibt aber angespannt, so der SVR damals, denn die »hohe Inflation stellt in diesem Jahr weiterhin eine große Belastung für die Konjunktur dar. Sie ist der größte Belastungsfaktor für die deutsche Wirtschaft in diesem Jahr und dämpft den privaten Konsum. Zudem belasten die steigenden Zinsen die Investitionen.« Die Inflation dürfte nach der damaligen Prognose im Jahresverlauf zwar rückläufig, aber noch deutlich erhöht bleiben und für 2023 durchschnittlich 6,6% betragen. Für das kommende Jahr erwartet der Sachverständigenrat einen Rückgang auf 3,0%.
Entscheidend für eine Korrektur der Wachstumsprognose wäre eine Aufhellung der weltwirtschaftlichen Rahmenbedingungen. Das schwache Wachstum war durch die Stagnation der chinesischen Wirtschaft und das geringe Wachstum der fortgeschrittenen Volkswirtschaften bedingt. Auf diese Aspekte, die vor allem die langfristigen Entwicklungsperspektiven der deutschen Ökonomie beeinflussen, und damit auf die Frage, ob wir es nicht insgesamt mit einer »säkularen Stagnation« zu tun haben, werde ich in einem nächsten Beitrag eingehen.