28. Juli 2021 Otto König/Richard Detje: Fünfter Jahrestag des gescheiterten Militärputsches und Gegenputsches des Autokraten Erdoğan

Start des radikalen Umbaus der Türkei

Fünf Jahre ist es her, dass Teile des Militärs, angeführt von einem »Rat für Frieden in der Heimat«, in der Nacht vom 15. auf den 16. Juli 2016 gegen Recep Tayyip Erdoğan und sein islamisch-konservatives AKP-Regime putschten. 251 Menschen starben und mehr als 2000 wurden verletzt.

Der »Aufstand« scheiterte, wichtige Teile der Armee stellten sich hinter den türkischen Präsidenten. Drei echte und einen »kalten« Putsch hat die Türkei in den zurückliegenden Jahrzehnten erlebt. Aber keiner war derart unprofessionell ausgeführt wie der letzte. Das bot immer wieder Stoff für zahlreiche Spekulationen.

Für den türkischen Präsidenten stand schon während des Putschversuches fest, wer die Hintermänner sind: die Bewegung seines früheren Weggefährten und heute in den USA lebenden Predigers Fethullah Gülen. Die islamitisch, ultranationalistische AKP/MHP-Regierung verhinderte jedoch bis auf dem heutigen Tag eine Aufarbeitung der Hintergründe der Putschnacht. Alle darauf bezogenen parlamentarischen Schritte der Opposition wurden abgeblockt.

Eine Untersuchungskommission, die klären sollte, wer wann was zu welchem Zeitpunkt wusste, wurde nach knapp fünfmonatiger Arbeit von Präsident Erdoğan per Dekret kurzerhand aufgelöst. Wichtige Zeugen wie die Chefs von Geheimdienst und Generalstab, Hakan Fidan und Hulusi Akar, wurden ebenso wenig befragt wie der Regierungschef, der Staatspräsident sowie inhaftierte Militärs. Die Aufarbeitung des Putsches wurde der gesäuberten Justiz übertragen.[1]

Noch in der Putschnacht verkündete Erdoğan: »Dieser Aufstand und diese Bewegung sind ein Geschenk Gottes für uns«. Warum er das tat, wurde schnell klar. Nur sechs Tage danach wurde der Ausnahmezustand ausgerufen, der sieben Mal verlängert wurde und erst im Juli 2018 endete. In dieser Zeit regierten Präsident und AKP mit Dekreten am Parlament vorbei.

»Wir glauben, dass sich das parlamentarische System in diesem Land überlebt hat«, erklärte Erdoğan und kündigte an: »Wir bauen die ›Neue Türkei‹ auf, und wir glauben, dass wir eine neue Verfassung und ein exekutives Präsidialsystem brauchen.« Dieser neuen Verfassung haben im April 2017 knapp 51% der Wähler:innen zugestimmt und Erdoğan mit einer bis dahin beispiellosen Machtfülle ausgestattet.[2] »Nachdem der Militärputsch abgewendet worden war, begann eine Art ziviler Putsch«, so der Journalist Bülent Mumay.

Das »Geschenk Gottes« nahm der Autokrat zum Anlass für einen radikalen Umbau des Staates. Es war der Auftakt einer großen Säuberung: »Zehntausende – Militärs, Richter, Staatsanwälte, Beamte, Akademiker – verloren grundlos ihre Jobs und wurden durch unerfahrene Partei-Treue ersetzt. Journalisten, Autorinnen und Mitglieder der Zivilgesellschaft landeten im Gefängnis – ohne Aussicht, jemals wieder freizukommen. Seine Gegner unter den Politikern waren schon zuvor inhaftiert worden. In den fünf Jahren seit dem Putsch erklärte er jeden zum Terroristen oder zum ausländischen Agenten, der ihm in die Quere kam«, so die Journalistin Banu Güven.

Nicht nur die Streitkräfte wurden »gesäubert«. Mittels Dekret wurden 126.000 Staatsbedienstete aus dem Dienst entfernt.[3] Neben mutmaßlichen Gülen-Anhänger:innen traf es vorrangig Linke, kurdische und alevitische Bürger:innen. Der gängigste Vorwurf lautet: Unterstützung einer terroristischen Vereinigung. Gleichzeitig wurde der Ausnahmezustand genutzt, um eine kritische Berichtserstattung zu unterbinden. 179 Medien sind seitdem geschlossen worden, rund 150 Journalisten wurden inhaftiert. Auf diesem Wege sicherte sich die Regierung die Kontrolle über die Presse.

Die demokratische und linke Opposition, die sich zu keinem Zeitpunkt auf die Seite der Putschisten gestellt hatte – auch deshalb, weil die Erfahrung lehrt, dass Militärputsche immer mit Terror gegen oppositionelle Aktivist:innen verbunden sind–, charakterisiert die Massenentlassungen und Massenverhaftungen zu Recht als »Hexenjagd gegen Regierungskritiker«. Der damalige Regierungschef Binali Yildirim hatte schon unmittelbar nach der Putschnacht eingeräumt, dass es bereits vor dem Putschversuch Listen gegeben habe, auf denen aufgelistet war, gegen wen strafrechtlich vorgegangen werden sollte. Mittlerweile sind die Gefängnisse mit politischen Gefangenen überfüllt. Mit aller Härte geht die türkische Staatsmacht weiterhin gegen Oppositionelle vor, religiöse Minderheiten werden gedemütigt und verfolgt. Durch die Islamisierung ist die Zahl der Femizide stark angestiegen: Allein im Jahr 2020 gab es über 300 Frauenmorde. Viele Demokraten leben mittlerweile in westeuropäischen Ländern im Exil.

Noch immer finden fast täglich Prozesse gegen Journalist:innen oder Twitter-Aktivist:innen wegen Präsidentenbeleidigung oder angeblicher Terror-Propaganda statt. Beobachter schätzen, dass seit 2016 mutmaßlich ein Drittel der Richter und Staatsanwälte aus dem Staatsdienst entfernt worden ist. Die Entlassungen, Neueinstellungen und Umbesetzungen im Justizapparat haben dazu geführt, so der türkische Menschenrechtsverein IHD, dass sich an den Hochschulen und in den Kammern, in der Verwaltung und an den Gerichten Jurist:innen etabliert haben, für die ihr Beruf »keine Sache von Rechtsstaatlichkeit ist, sondern ein Instrument der Machtpolitik«.

So verwundert es nicht, dass allein im Jahr 2020 beim Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) 11.750 Beschwerden aus der Türkei eingegangen sind. Wegen 85 Verstößen ermahnte das Gericht die türkische Regierung: In 31 Fällen sei gegen die Meinungsfreiheit verstoßen worden, 21-mal wurde das Recht auf ein faires Verfahren und 16-mal das Recht auf Sicherheit und Freiheit missachtet. Obwohl am 22. Dezember 2020 der EGMR die türkische Regierung aufforderte, den ehemaligen Co-Vorsitzenden der HDP, Selahattin Demirtas, der seit mehr als vier Jahren als politischer Gefangener Erdoğans im Hochsicherheits-Gefängnis Erdine inhaftiert ist, unverzüglich freizulassen, ist nichts passiert.

Auch der seit Oktober 2017 inhaftierte Unternehmer und Kulturmäzen Osman Kavala, dem die Unterstützung der Istanbuler Gezi-Proteste in 2013 zur Last gelegt wird, befindet sich trotz einer Beschwerde des EGMR weiterhin in Haft (DW 15.7.2021). Obwohl die Türkei Mitglied des Europarates ist, ignoriert Ankara die Urteile des EGMR und die EU-Staats- und Regierungschefs lassen Erdoğan gewähren. Im Rechtsstaatlichkeits-Index des World Justice Project vom vergangenen Jahr belegt die Türkei den 107. Platz von 128 Ländern.

Auch beim Globalen Rechtsindex 2020 des Internationalen Gewerkschafsbundes (IGB)[4] zählt die Türkei seit dem Putschversuch zu den gewerkschaftsfeindlichsten Ländern der Welt. Die türkischen Sicherheitsbehörden gehen mit äußerster Härte gegen unabhängige Gewerkschaften vor. »In einem Klima der Angst und angesichts ständig drohender Vergeltungsmaßnahmen haben die Beschäftigten große Probleme, sich zusammenzuschließen und Gewerkschaften zu gründen«, heißt es in dem Bericht.

Die Gründungen werden erschwert, indem die Arbeitgeber gezielt »gewerkschaftsfeindliche Taktiken« anwenden und Gewerkschaftsorganisator:innen entlassen. Führende Gewerkschafter:innen werden mit Verhaftung und Strafverfolgung bedroht, um sie zum Schweigen zu bringen.

Der türkische Präsident stilisierte die Abwehr des Putschversuchs zum Mythos, doch dessen Strahlkraft wird schwächer. Das Narrativ vom geeinten Widerstand des Volkes gegen die Putschisten kann die Empörung vieler Türk:innen über die wachsende Repression und Korruption nicht überdecken. Die Kommunalwahlen vor zwei Jahren, bei denen Erdoğans Partei AKP die Macht u.a. in Istanbul und Ankara verlor, waren ein Zeichen dafür, dass sich vor allem die junge Wähler:innen in den großen Städten von der neoosmanischen »Partei für Gerechtigkeit und Entwicklung« abwenden.[5]

Zu dieser ersten Wahlniederlage des autokratischen Präsidenten und seiner Vasallen hatte auch die Strategie der linken »Demokratischen Partei der Völker« (HDP) beigetragen, die aussichtsreichen CHP-Kandidaten zu unterstützen. Seither erhöhen der Hausherr im »1000-Zimmer-Palast« in Ankara und sein rechtsextremer Bündnispartner, der MHP-Vorsitzende Devlet Bahceli, den Druck auf die linksgerichtete Partei. Aus der von der HDP-Führung im Dezember 2020 vorgelegten »Zwischenbilanz« geht hervor, dass seit Sommer 2015 16.490 HDP-Mitglieder, Abgeordnete, Kreisvorsitzende und einfache Parteimitglieder festgenommen und 3.695 HDP-Mitglieder verhaftet wurden.

Im Bericht des »Ausschusses für Kommunalverwaltungen« der HDP über die »Folgen der Zwangsverwaltung von Kommunen in Nordkurdistan« heißt es: 48 Gemeinden, darunter drei Metropolregionen, fünf Provinzen und 33 Distrikte wurden unter Zwangsverwaltung gestellt. 72 Bürgermeister:innen wurden festgenommen und 37 von ihnen, darunter 19 Frauen, inhaftiert. Sieben Bürgermeister:innen wurden unter Hausarrest gestellt, sechs von ihnen sind seit zehn Monaten im Hausarrest (ANF-News, 24.2.2021).

Fünf Jahre nach dem Putsch will die AKP/MHP-Allianz die HDP, die drittstärkste Kraft im Parlament, verbieten lassen, um sie für die Parlamentswahl 2023 auszuschalten. Das türkische Verfassungsgericht eröffnete jüngst einstimmig ein Verbotsverfahren gegen die HDP. Die Begründung lautet, Mitglieder der Partei hätten mit ihren Aussagen und Handlungen beabsichtigt, die Integrität des Staates zu untergraben. Zudem seien sie an terroristischen Aktivitäten beteiligt gewesen. In fast allen Fällen ist die Beweislast dürftig und willkürlich. Der Verbotsantrag beinhaltet auch ein fünfjähriges politisches Betätigungsverbot für 451 HDP-Politiker:innen.

Erdoğans Versuche, seine Popularitätsverluste mit aggressiven außenpolitischen Aktionen im Mittelmeer sowie Angriffskriegen in Nord-Syrien zu stoppen und so seinen nationalistisch-islamistischen Anhang hinter sich zu versammeln, ist nicht gerade von Erfolg gekrönt. Die neuesten Umfragen zeigen, dass er die Präsidentschaftswahl derzeit nicht gewinnen könnte.

Obwohl die Corona-Pandemie zum Anstieg der Armut beigetragen hat, ist die wirtschaftliche Krise das deutlichste Zeichen für das Versagen der Präsidialherrschaft von Recep Tayyip Erdoğan. Seit die türkische Lira in den letzten eineinhalb Jahren dramatisch an Wert verloren hat, sind die Preise für Grundnahrungsmittel, Strom und Gas in die Höhe geschossen. Die offizielle Inflationsrate beträgt 18%, viele Lebensmittelpreise sind sogar um 60% innerhalb eines Jahres gestiegen. Höhere Lebenshaltungskosten gehen einher mit steigender Arbeitslosigkeit, die fast die Hälfte der jungen Leute betrifft. Die Wirtschaftspolitik der Regierung sei eine Katastrophe, stellte der linke Gewerkschaftsdachverband DISK bereits vor einigen Monaten fest.

Zudem erschüttern seit einigen Wochen Enthüllungen des Mafiapaten Sedat Peker das Land. Aus Dubai klagt er per Videobotschaften auf YouTube namhafte Regierungspolitiker an: Sie seien in Mord, Vergewaltigung, Drogenschmuggel, Machtmissbrauch und viele weitere kriminelle Machenschaften verwickelt. »Nach Umfragen halten selbst die Mehrheit der AKP-Wähler den Mafia-Boss für glaubhafter als die müden Dementis der Regierung«, schreibt die Tageszeitung (15.7.2021).

Es gibt auch Zeichen der Hoffnung: Nicht nur, dass die HDP-Anhänger:innen trotz aller Repression unermüdlich weiterkämpfen, auch die Zivilgesellschaft wird wieder mutiger. Ein Zeichen haben die Student:innen der Bogazici-Universität in Istanbul gesetzt, die seit Anfang des Jahres ununterbrochen gegen die Einsetzung eines neuen Rektors durch Erdoğan protestieren. Nun knickte der Autokrat ausgerechnet im Umfeld des fünften Jahrestages des versuchten Militärputsches ein und zog den von ihm per Dekret installierten Melih Bulu als Rektor der Bosporus-Universität zurück. Ein mehr als nur symbolischer Erfolg.

Anmerkungen

[1] Laut der türkischen Nachrichtenagentur Anadolu waren Anfang Juli 275 der 289 sogenannten Fetö-Prozesse abgeschlossen, 14 würden weiterhin verhandelt. 4.130 Angeklagte seien verurteilt worden, davon 2.332 zu lebenslanger Haft (Kurier at, 14.7.2021).
[2] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Die Türkei nach dem Verfassungsreferendum. Die gespaltene Nation, Sozialismus.deAktuell vom 17.4.2017.
[3] 2017 wurde eine Kommission ins Leben gerufen, die die Entlassung der Staatsbediensteten untersucht. Betroffene können bei ihr eine Prüfung veranlassen. Laut Medienberichten von Anfang Juli haben 126.000 Menschen Beschwerde bei der Kommission eingereicht. 96.000 seien abgelehnt worden, 12.200 hätten ihre Jobs im Staatsdienst wieder aufnehmen können (Kurier at, 14.7.2021).
[4] Siehe auch: DER GLOBALE RECHTSINDEX DES IGB 2020 – Die schlimmsten Länder der Welt für erwerbstätige Menschen, Bericht des Internationalen Gewerkschaftsbundes (IGB), Brüssel 2021.
[5] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: Der zweite Sieg der Opposition in Istanbul. Erdoğans Machtsystem wankt, Sozialismus.deAktuell vom 26.6.2019.

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