30. November 2021 Otto König/Richard Detje: Präsidentschaftswahlen in Chile – Dämpfer für den Aufbruch

Stichwahl entscheidet über Barbarei oder Demokratie

Chile steht vor einem politischen Umbruch. Nach den sozialen Protesten auf den Straßen und Plätze arbeitet eine direkt gewählte Volksvertretung eine neue Verfassung für das südamerikanische Land aus.

Am 21. November waren 15 der 19 Millionen im Mutterland wohnhafte und rund 650.000 in der Emigration lebende Chilen:innen zur Wahl des Präsidenten, der Abgeordneten des Nationalkongresses und einem Teil der Senatoren aufgerufen. Der Epochenwechsel, der sich bei der Wahl zum Verfassungskonvent abzeichnete, führte beim Urnengang am 21. November jedoch nicht zu einem linken Wahlerfolg. Die Entscheidung, ob das Land sich wirklich verändert oder in alte Muster zurückfällt, ist noch offen.

Wie das Wahlamt mitteilte, kam der ultrarechte Kandidat José Antonio Kast (55) von der rechtsnationalistischen »Frente Social Cristiano« (Republikanischen Partei) auf rund 27,9% der Stimmen. Ihm folgt an zweiter Stelle mit knapp 25,8% der Linksreformist und Kandidat des Bündnisses »Apruebo Dignidad« (»Ich stimme für die Würde«)[1] Gabriel Boric. Auf Platz drei kam mit 13% Stimmen überraschend der libertäre Politiker und Wirtschaftswissenschaftler Franco Parisi, Kandidat einer bislang unbedeutenden politischen Bewegung, der seinen Wahlkampf per Zoom aus den USA steuerte, weil er Unterhaltsschulden hat und ihm in Chile Hausarrest droht.

Das Ergebnis offenbart die tiefe Spaltung und Polarisierung der Gesellschaft in dem südamerikanischen Land. Die traditionellen Parteien sind die großen Verlierer dieser Wahlen. Zum ersten Mal seit der Rückkehr zur Demokratie 1990 schafften es die Mitte-Links- und Mitte-Rechts-Parteien nicht einmal in die Stichwahl. Abgeschlagen auf den Plätzen vier und fünf folgen mit 12% der Stimmen Sebastián Sichel (44) vom Regierungsbündnis »Chile Vamos«, der für eine Fortführung des politischen Kurses der amtierenden Regierung von Sebastián Piñera steht, und die christdemokratische Senatorin Yasna Provost (51), die für die »Unidad Constituyente«, das Wahlbündnis der Parteien der ehemaligen Concertación kandidierte.

Bei den Parlamentswahlen sieht die Lage nicht besser aus: Die dominierenden Parteien der vergangenen 30 Jahre wurden deutlich abgestraft: Die Mitte-Links-Koalition, die von 1990 bis 2010 durchgehend regiert hat, erreichte nur 17% der Stimmen. Auch die Regierungskoalition von Präsident Sebastian Piñera erreichte nur 24%. Die Republikanische Partei von Kast holte auf Anhieb 15 der 155 Sitze im Abgeordnetenhaus. Positiv ist, dass einzelne linke Aktivist:innen den Sprung ins Parlament geschafft haben, wie Fabiola Campillai, deren Gesicht im November 2019 durch einen Gasgranatenschuss der Polizei entstellt wurde. Sie sitzt als erste blinde Person im chilenischen Senat.

Der bisherige Amtsinhaber, der Milliardär Sebastián Piñera (71), konnte nicht mehr antreten, bestimmte jedoch mitten im Wahlkampf die Schlagzeilen. Beim Leak der »Pandora Papers« kam ein fragwürdiger Bergbau-Deal aus seinem privaten Umfeld ans Licht. Der Präsident, der am Ende seiner Amtszeit von 80 Prozent der Chilen:innen abgelehnt wurde, entging nur knapp einem Amtsenthebungsverfahren. Es war ein Absturz, der die Konservativen entscheidend schwächte, und den der rechtsextreme Kast nutzen konnte, um die Regierungspartei rechts zu überholen.

Entscheidend für Kasts gutes Abschneiden ist seine traditionelle Wählerbasis unter den Pinochet-Sympathisanten am rechten Rand. Dass er in den letzten Wochen immer wieder positiv über den Diktator gesprochen hat, hat ihm nicht geschadet – im Gegenteil. Bei vielen Chilenen aus der Mittelschicht und der Wirtschaft ist der von den USA unterstützte rechtsextreme Putschist gegen Salvador Allende wegen seiner neoliberalen Wirtschaftsreformen bis heute populär.

Dieses Klientel bedient der Vertreter der Konterrevolution von rechts, den manche chilenische Medien als Faschisten einstufen, mit seinem Programm, das eine Mischung aus erzkonservativen Werten und neoliberaler Wirtschaftspolitik sowie einem Revival der ehemaligen Militärdiktatur darstellt. Zu den schockierendsten Maßnahmen gehört die angekündigte Begnadigung von inhaftierten Folterknechten und Massenmördern der Militärdiktatur.

Kasts Pinochet-Verehrung hat tiefe Nazi-Wurzeln. Die Familie stammt aus dem bayerischen Oberstaufen. Als Wehrmacht-Offizier, der eine Verhaftung durch die Alliierten fürchtete, tauchte sein Vater Michael Kast Schindele nach Kriegsende unter und kam mit falschem Rote-Kreuz-Pass nach Chile.

Kasts Positionen stehen den gesellschaftlichen Entwicklungen der letzten zwei Jahre in Chile komplett entgegen. Bei den monatelangen sozialen Protesten in 2019, bei denen Hunderttausende auf die Straße gingen, manifestierte sich eine Bewegung, die sich gegen die neoliberale Politik der vergangenen 30 Jahre und die daraus resultierende extreme soziale Ungleichheit richtete. Die Schere zwischen Arm und Reich in Chile war schon vor der Corona-Pandemie riesig. In der Pandemie konnten die Reichsten der Reichen ihre ohnehin schon üppigen Vermögen noch weiter vergrößern, während Tausende Familien in die Armut abstürzten. Die Demonstranten forderten einen besseren Zugang zu Gesundheitsversorgung und kostenlose Bildung sowie eine Abkehr vom neoliberalen Wirtschaftssystem.

Mit einer ihrer Hauptforderungen konnten sie sich schließlich durchsetzen. Präsident Sebastián Piñera ließ nach dem massiven Protest ein Referendum darüber abhalten, ob die Verfassung aus Pinochets Zeiten abgelöst werden soll. Rund 80% stimmten schließlich für die Abschaffung der neoliberalen Verfassung. Die linke Mehrheit im Verfassungskonvent ist nun dabei, die erste fortschrittlich-ökologische Verfassung des 21. Jahrhunderts zu schreiben. Sollte die neue Verfassung in einem Referendum angenommen werden, ist es an den Parlamentariern, die darin vorgesehenen politischen und sozialen Reformen auch umzusetzen.

Gabriel Boric, ein Repräsentant der chilenischen Protestbewegung, warb im Wahlkampf für den Ausbau des Sozialstaats, Klimaschutz und Frauenrechte. Kernpunkte des Programms der Koalitionäre von »Apruebo Dignidad« sind tiefgreifende Veränderungen im Steuersystem, im Gesundheits-, Renten- und Bildungswesen. Die geplanten Reformen sollen den durch massive neoliberal inspirierte Privatisierungen geschwächten Staat wieder stärken. Der Ausbau der Territorialrechte und der Kulturschutz der indigenen Völker, die mit rund zwei Millionen Menschen mehr als zehn Prozent der Bevölkerung ausmachen, stehen im Vordergrund des Programms.

Nachdem keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die notwendige absolute Mehrheit erreicht hat, müssen José Antonio Kast und Gabriel Boric am 19. Dezember in einer Stichwahl gegeneinander antreten. Die kommunistische Parlamentarierin Camila Vallejo, die nicht zur Wiederwahl antrat, twitterte: Dies ist eine Entscheidung zwischen »Barbarei oder Demokratie«.

Die Angst vor Destabilisierung und Gewalt ist der größte Trumpf von Kast. Deshalb hat er am Wahlabend abermals seine Slogans von Ordnung, Frieden und der harten Hand gegen Kriminalität wiederholt. Es gehe um »Freiheit statt Kommunismus« – eine Parole, die schon Ex-Diktator Augusto Pinochet verwandte. Diesen Ängsten muss Boric entgegenwirken. »Unser Kreuzzug in dieser zweiten Phase wird sein, dass in ganz Chile die Hoffnung die Angst besiegt. Wir sind stolz darauf, dass eine neue Generation sagt: Chile kann ein anderes, ein gerechteres, ein würdiges Land für alle sein«, sagte er am Wahlabend.

Chiles Linke bis hin zur linken Mitte sind nun gefordert. Sie muss für die Stichwahl mobilisieren, was das Zeug hält. Nur dann hat Boric gute Chancen, Chiles nächster Präsident zu werden. Voraussetzung ist eine »Allianz der Demokraten gegen die extreme Rechte«. Mittlerweile machten alle Kandidat:innen der politischen Mitte und der Linken klar, Boric in der zweiten Runde unterstützen zu wollen. Der Präsident der Sozialistischen Partei, die die Christdemokratin Yasna Provoste unterstützte, sprach von einer sofortigen Unterstützung »ohne Verhandlungen«. Marco Enríquez-Ominami, Vorsitzender der Progressiven Partei, fordert die Bildung eines Bündnisses, »um gemeinsam die extreme Rechte zu besiegen«.

Gabriel Boric hat im Wahlkampf die mutige Ansage gemacht: »Chile war die Wiege des Neoliberalismus, es wird auch sein Grab sein, aber ein Grab, auf dem die Blumen blühen.« In der Stichwahl am 19. Dezember haben die Chilen:innen die Möglichkeit, mit ihrer Stimme einen entscheidenden Beitrag dazu zu leisten.

Anmerkung

[1] Das Parteienbündnis besteht aus drei Parteien: der »Frente Amplio« (»Breite Front«) sowie aus der Kommunistischen Partei (PC) und zwei weiteren Parteien des Wahlbündnisses »Chile Digno« (»Würdiges Chile«). Es bezeichnet sich als »anti-neoliberale Einheit für ein neues Chile« und wurde im Vorfeld der Wahlen zur verfassunggebenden Versammlung im Januar 2021 gegründet.

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