20. März 2022 Bernhard Sander: Die Kommunalwahl in den Niederlanden

Streiflichter auf ein zerfallendes System

Die Wahlen zu den niederländischen Gemeinderäten fanden unter ökonomisch vorteilhaften Rahmenbedingungen statt. Die Regierung Rutte IV[1] aus Rechtsliberalen (VVD), Linksliberalen (D 66), Christdemokraten (CDA) und Calvinisten (CU) war im Januar gerade erst vereidigt worden und sollte einen Neuanfang darstellen.

Der Mindestlohn soll um 7,5% angehoben werden, 100.000 Wohnungen sollen gebaut werden (die Immobilienpreise sind im vergangenen Jahr um fast 20%gestiegen), die AKW-Laufzeiten und die Erdgasproduktion in Groningen, die zu immer mehr Erdbeben in der Region führt, sollen verlängert werden. Und dennoch zerbröselt das Parteiensystem in Vertretung gruppenbezogener Einzelinteressen, und die politische Linke kämpft mit dem Bedeutungsverlust. 19 Parteien sitzen im Parlament (150 Sitze), bei den Kommunalwahlen Mitte März stimmten ein Drittel der Wähler*innen für lokale Parteien. Die Regierungsparteien erhielten einen Dämpfer.

Die Sozialistische Partei, die in einem harten internen Kampf entschieden hat, sich auf die unmittelbaren Alltagsinteressen im Sozialstaat zu konzentrieren,[2] verlor nochmals von 4,0% auf 2,7% der landesweit abgegebenen Stimmen. Parteichefin Lilianne Marijnissen führte das auf den fehlenden Fokus auf lokale Probleme zurück und auf den »totalen Vertrauensverlust in die Politik«.

Der Krieg in der Ukraine wirkte sich auf die Themen aus, die den Menschen wichtig sind. Vor einem Monat waren Themen wie Pflege und Erhalt von Einrichtungen für viele Wähler*innen bei den Kommunalwahlen noch wichtig. Diese wurden nun durch die Themen Energie und Armut ersetzt. Viele Menschen sind zutiefst besorgt über die finanziellen Folgen des Krieges für sich selbst, insbesondere wegen der gestiegenen Preise für Kraftstoff und Energie. »Das kontrolliert mein Leben im Moment und es gibt Wahlen, also werde ich das berücksichtigen«, schreibt jemand.

Wohnen ist auch bei dieser Wahl das wichtigste Thema in Städten und Gemeinden, gefolgt von den Themen Natur und Sicherheit und Kriminalität. »Wie auch immer man es betrachtet, der Mangel an Wohnraum ist ein großes Problem. Und es wird sich erst verschärfen, wenn Tausende zusätzliche Flüchtlinge hierherkommen.«

Aber keine Partei ist offenbar mehr in der Lage, die Themen und Interessen, eigenen Forderungen und Programme in eine schlüssige Zeitdiagnose einzubinden, die Problem und Entwicklungen einordnet.

Die Wahlbeteiligung fiel landesweit auf 50,3%, in Rotterdam gar auf 39%. In der Hafenstadt, die bisher von einer seltsamen Koalition aus sechs Parteien regiert wird (VVD, GroenLinks, D66, PvdA, CDA und die calvinistische ChristenUnie), stimmten 21% für die rechte örtliche Liste »Lebenswertes Rotterdam«, in Utrecht 36% für eine Lokalpartei – das sind jeweils mehr als dreimal soviel wie die rechtsliberale VVD von Ministerpräsident Marc Rutte. Zwar bleibt seine Partei mit 11,5% stärkste kommunale Kraft, verlor aber 2% gegenüber den letzten Kommunalwahlen. Ähnlich erging es den mitregierenden ehemaligen Christdemokraten, die bei 11,2% landeten. Ihnen waren noch stärkere Verluste vorausgesagt worden, da sie im Zentrum des Beihilfeskandals standen.

Die sozialdemokratische Partei der Arbeit (PvdA) blieb in etwa stabil, buchte aber Rekordgewinne in Amsterdam, wo eine linke Stadtregierung unter Führung von Grünlinks, linksliberalen D66 (die gleichstark bei 14% in der Stadt einkamen) und SP die öffentlichen Angelegenheiten verwaltet. Hier stieg PvdA von der viertstärksten Kraft zur stärksten auf, was bei 17% Stimmanteil allerdings zu relativieren ist und wird wohl die SP aus der Stadtregierung verdrängen.

Grünlinks kann eine gemischte Bilanz vorzeigen, hielt sich in einzelnen Universitätsstädten als größte Partei, aber hat mit Studentenparteien, der Tierschutzpartei, Volt und den Identitätsorientierten BIJ1 einen beträchtlichen Satelliten-Schwarm.

Auf der extremen Rechten konnte die PVV (Freiheitspartei) von Geert Wilders sich bei leichten Verlusten halten. Das »Forum für Demokratie«, dessen charismatischer Führer Thierry Baudet sich für die Unterstützung der bewaffneten Intervention Russlands ausgesprochen hatte, verlor hingegen und blieb landesweit unter 3%, obwohl in den Umfragen vor Kriegsausbruch deutlich mehr prognostiziert worden war. Beiden hat ihre Unterstützung der teils gewalttätigen »Corona-Proteste« nicht viel gebracht.

Die Beliebigkeit, die die schillernden lokalen Koalitionen auszeichnet, mag Besonderheiten geschuldet sein, doch erweckt sie den Eindruck, dass es den Parteien nur ums eigene Wohl geht. Die Brüchigkeit des demokratischen Systems, das sich neuerlich offenbart, wird sich angesichts des wirtschaftlichen Aufschwungs vorläufig nicht weiter auswirken. Das nationale Planbüro rechnet damit, dass der durch Pandemie und die politischen Reaktionen darauf induzierte massive Konjunktureinbruch überwunden sind und eine allgemeine Erholung Platz greift.

Die derzeit wichtigste wirtschaftliche Konsequenz des Ukraine-Konflikts für die Niederlande ist ein noch höherer Energiepreis. Zum gegenwärtigen Zeitpunkt sind alle anderen Auswirkungen, wie z.B. auf den Handel, die Finanzmärkte und (über Vertrauenseffekte) auf Investitionen und Konsum noch begrenzt. Der zusätzliche Anstieg der Energiepreise kommt zu einer bereits hohen Inflationsrate hinzu, die zum Teil auf die wirtschaftlichen Schocks der COVID-19-Pandemie zurückzuführen ist.

In seinem kurz vor der Wahl veröffentlichten Zentralen Wirtschaftsplan (CEP) prognostiziert das CPB Netherlands Bureau for Economic Policy Analysis eine Inflation von 5,2% für 2022. Um den Grad der Sensibilität zu verdeutlichen, werden in dem Bericht auch die Konsequenzen einbezogen, wenn die Energiepreise über einen längeren Zeitraum hoch bleiben und in diesem Sommer auf das Niveau von 2019 zurückkehren würden. In diesen beiden Varianten würde die Inflation im Jahr 2022 auf 6,0% bzw. 3,0% kommen.

Die Ergebnisse der Kommunalwahlen dokumentieren die Zerstörung des politischen Systems in den Niederlanden. Solange die wirtschaftlichen Rahmenbedingungen gut sind, wie dies die volkswirtschaftlichen Kennziffern zum Ausdruck bringen (siehe Tabelle), hat dies allerdings keine weiteren Konsequenzen und bleibt die »Regierbarkeit« mit unterschiedlichen politischen Konstellationen erhalten.

Anmerkung

[1] Siehe hierzu Bernhard Sander, Regierungsbildung, Virus-Krise und Wirtschaftsdogmatik, Sozialismus.deAktuell vom 28. Dezember 2021.
[2] Vgl. Bernhard Sander, Weiterer Rechtsruck, Sozialismus.deAktuell vom 19. März 2021.

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