20. August 2021 Hasko Hüning: GDL kündigt neue Streiks an

Tarifkonflikt Deutsche Bahn versus GDL – ein politisches Dilemma

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Im derzeitigen Tarifstreit Deutsche Bahn AG (DB AG) versus Gewerkschaft Deutscher Lokomotivführer (GDL) zeichnet sich nicht nur keine Lösung ab, sondern er wird sich ausweiten und wohl auch eskalieren. GDL-Chef Claus Weselsky hat heute neue Streiks im Personenverkehr für Montag bis Mittwoch angekündigt.

Eines kann aber schon gesagt werden: Die handelnden Personen sind im Tarifstreit nie unwichtig, aber in diesem Falle hilft eine Personalisierung bei der Darstellung und Einordnung des Konflikts kaum weiter.


»Wertschätzung und Anerkennung«

Wenn sich die DB AG aus Sicht der Gewerkschaft weiterhin so ablehnend gegenüber den Forderungen der GDL verhält, werden die gewerblichen und privaten Kund*innen der Bahn nach dem ersten sehr überraschenden 48-Stunden-Streik mit weiteren Arbeitsniederlegungen rechnen müssen – und das auf unbestimmte Zeit und mit zunehmender Intensität. Der Eindruck der GDL-Spitze und auch der Mitglieder, die mit 95% für den Streik gestimmt haben, ist, dass die Bahn zunächst versuchen wird, wie schon in der einige Monate dauernden Auseinandersetzung 2015/2016, den Tarifstreit auszusitzen, statt ein für die Lokführer:innen, die Zugbegleiter:innen und das Bistropersonal substanziell verbessertes Angebot zu unterbreiten.

Dabei liegen die Positionen von DB AG und GDL auf den ersten Blick gar nicht so weit auseinander: Die Gewerkschaft orientiert sich seit den ersten Gesprächen im Herbst des vergangenen Jahres, und nach einer gescheiterten Schlichtung im November 2020, am Rahmen der Einkommensverbesserungen, die für den öffentlichen Dienst erzielt wurden. Auch sei – so sagen beide Seiten inzwischen – die unmittelbare Höhe der GDL-Forderung von 3,2% nicht strittig, sondern die Laufzeit des Tarifvertrages. Die Gewerkschaft plädiert für 28 Monate, die Bahn hatte zuletzt 40 Monate angeboten. »Entscheidend ist doch Beginn und Laufzeit eines Tarifvertrages. Ließen wir uns auf das Angebot ein, würden wir faktisch einer Nullrunde zustimmen. Das tun wir nicht, denn die Beschäftigten haben Wertschätzung und Anerkennung verdient, wir brauchen ein neues Angebot der Bahn«, so Claus Weselsky, der Vorsitzende der GDL in einem Interview (SZ v. 18.8.2021, S. 17). In diesem neuen Angebot erwartet die Gewerkschaft zudem die Zahlung einer Corona-Prämie (600 Euro) sowie den Verzicht der Bahn auf die angekündigte Absenkung der Betriebsrenten.

Allerdings ist die unternehmenspolitische Gemengelage dieser Tarifrunde zwischen GDL und Bahn äußerst komplex; dem soll nun mit drei knappen Überlegungen nachgegangen werden.


Tarifeinheitsgesetz

Sollte sich die Bahn – was so schnell nicht zu erwarten ist – mit einem Kompromissangebot den Erwartungen der GDL annähern, würde das die GDL-Konkurrenz, die Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft (EVG) mit ihrem corona-bedingten moderaten Tarifabschluss von 1,9%, nicht gerade erfolgreich aussehen lassen. Und dies unter den Auspizien des von der Bundesregierung im Jahre 2015 verabschiedeten Tarifeinheitsgesetzes, das zum Ziel hat, in der gesellschaftlichen Auseinandersetzung das Gewicht von sogenannten Spartengewerkschaften, zu denen auch die GDL gezählt wird, zu begrenzen. Damit wird innerbetrieblich nicht einfach nur das Spannungspotenzial zwischen den in einem Unternehmen konkurrierenden Gewerkschaften erhöht, sondern es droht, wie im Fall der Deutschen Bahn, der kleineren Gewerkschaft GDL ein nicht zu unterschätzender Bedeutungsverlust.

Denn dies Gesetz sieht vor, dass in einem Betrieb nur der Tarifvertrag der Gewerkschaft gelten soll, die dort mehr Mitglieder hat. Sollte sich also die Unternehmensführung nicht in der Lage sehen, zwischen den Interessen der verschiedenen Berufsgruppen und ihren Vertretungen einen akzeptablen Ausgleich zu schaffen, wird mit diesem Gesetz bei jeder neuerlichen Tarifrunde ein (Macht-) Kampf um Zustimmung provoziert.

Sollte sich nun die GDL mit einem deutlich besseren Tarifabschluss gegenüber der EVG als durchsetzungsfähiger erweisen, könnte das Auswirkungen auf die Mitgliederbewegung haben. In den Worten von Claus Weselsky: »Wir haben nicht mit dem Streit angefangen. Es ist die Bahn, die die GDL über das Tarifeinheitsgesetz verdrängen will. Spartengewerkschaften haben sich gebildet …, weil die großen Branchengewerkschaften unsolidarischen Abschlüssen zustimmten … Wir streiken nicht für mehr Mitglieder, sondern gegen ungerechte Verteilung, gegen die Abschaffung der Zusatzversorgung. … Möglich allerdings, dass das viele EVG-Mitglieder zum Wechsel motiviert. Wenn jeder GDLer nur einen Kollegen überzeugt, sind wir bei den aktiven schon vorn.« (ebd.)

Unter diesem Blickwinkel ist es nicht ganz verwunderlich, dass sich die Bahn im Tarifkonflikt mit der GDL so spröde abweisend zeigt und in der Öffentlichkeit vehement ihre Position und Meinungsführerschaft zu behaupten sucht. Das Management der Bahn ist nämlich, so ließe sich zugespitzt formulieren, in einigen Organisations- und unternehmenspolitischen Fragen durchaus auch auf die gewerkschaftliche Mehrheitsmacht und Nähe der EVG wenn nicht angewiesen, so kann sie doch auf Basis langjähriger Erfahrung auf deren strategische Unterstützung setzen.


Bahnreform 2.0

Damit können kommen wir auf ein weiteres Feld, auf dem die GDL mit der Unternehmensführung der Bahn, oder besser, die Führung der Bahn mit der GDL über Kreuz liegt. Die Deutsche Bahn AG nennt sich selbstbewusst einen »integrierten Konzern«. Sie betreibt Bahnhöfe und Stromnetzte, sie baut und wartet ein rund 33.000 Kilometer weites Schienennetz in Deutschland, sie erstellt Fahrpläne und verteilt an ca. 400 Eisenbahnverkehrsunternehmen Streckentrassen. Sie zeichnet für die komplette bauliche und technische Infrastruktur rund um die Schiene verantwortlich und hat insbesondere im lukrativen Personenfernverkehr (das »Brot- und Buttergeschäft« der Bahn, so der ehemalige Vorstandsvorsitzende Rüdiger Grube) eine Quasi-Monopolisten-Stellung inne. Das »System Bahn« vereint den Betrieb und die (Schienen-) Infrastruktur unter einem Dach. Die EVG trägt diese unternehmenspolitische Ausrichtung des Konzerns seit langem und nahezu vorbehaltlos mit.

Bahnkritiker:innen ist die Alles-unter-einem-Dach-Strategie der Bahn ein Dorn im Auge. Ihnen zufolge passt das Konzept eines integrierten Konzerns nicht mehr in die modern Verkehrs- und Mobilitätswelt, und sie fordern, die undurchsichtige Verknüpfung von Schienennetz und Betrieb müsse ein Ende haben. Schon seit Jahren, im Kern schon seit der Bahnreform von 1994, läuft diese Diskussion unter dem Label »Trennung von Netz und Betrieb«. Doch dafür hat es bisher in der Berliner Politik keine Mehrheiten gegeben. Das kann sich womöglich nach der Bundestagswahl 2021 ändern.

In einem Positionspapier »Bahnreform 2.0« wird neuerlich eine grundlegende Strukturreform des deutschen Bahnwesens eingefordert. Der Staat müsse die Schieneninfrastruktur langfristig erhalten und ausbauen, und die Finanzierungssicherheit gewährleisten, um so die Basis für einen starken und fairen betrieblichen Wettbewerb auf der Schiene zu fördern und die Zufriedenheit der Kund:innen zu erhöhen. Die Unterzeichner dieses Positionspapiers plädieren für die Gründung und Aufsicht eines eigenständigen Bundesinfrastrukturunternehmens, »damit das Infrastrukturmanagement sowohl am Gemeinwohl als auch an den bundesweiten Netznotwendigkeiten ausgerichtet werden« kann (Thiemo Heeg 2021: Breites Bündnis für »neue Bahn«. In: FAZ v. 2.8. 2021, S. 19).

Zu den Unterzeichnern gehören Kunden- und Konkurrentenverbände der Bahn, Verbraucherverbände, der Hauptverband der deutschen Bauindustrie und viele mehr, und auch die Lokführergewerkschaft GDL: »Wir brauchen einen grundlegenden Neuanfang in der Bahnpolitik. Kernstück ist die Trennung von Netz und Betrieb«, wird Claus Weselsky zitiert (ebd.). Er vertritt damit eine konträre Ansicht nicht nur zur Unternehmensführung der Bahn, sondern auch zur EVG, die seit der Bahnreform 1994 in diesen Fragen die Position des Top-Managements der Bahn stützt.


Gewinn- oder Gemeinwohlorientierung

Die seit Jahren anhaltende und nahezu regelmäßig zu den Bundestagswahlen aufkommende Debatte und Suche nach einer veränderten strategischen Ausrichtung des DB-Konzerns ist in ein grundlegendes Spannungsverhältnis eingebettet: Seit der Bahnreform von 1994 ist die Deutsche Bahn AG ein privatrechtlich organisiertes Unternehmen in Form einer Aktiengesellschaft. Sowohl seine internen Abläufe und Strukturen wie auch seine nach außen gerichteten Aktivitäten sind nach unternehmerischen Prinzipien gestaltet. Dazu gehört für die Unternehmensführung unbestritten die gewinnorientierte Ausrichtung aller geschäftlichen Belange. Zugleich ist die Deutsche Bahn AG nach wie vor ein herausragender Teil der öffentlichen Daseinsvorsorge im Bereich von Mobilität und Logistik.

Diese beiden widersprechenden Anforderungen – unternehmerische Ausrichtung auf der einen, öffentliche Daseinsvorsorge auf der anderen Seite – begleiten seit nun schon bald drei Jahrzehnten die Suche nach einer strategischen Orientierung und erleichtern diese nicht gerade. Den Spagat zwischen Rendite- und Versorgungsauftrag hat der Konzern seit der Bahnreform 1994 nicht geschafft. Auch durch die weitreichende Transformationsstrategie des Top-Managements nach der Zäsur 2008/2009 – gemeint sind das Scheitern der Bahnprivatisierung mit dem Ziel der Börsenfähigkeit 2008 sowie eine offenbar werdende Krise der betrieblichen Integration und Partizipation 2009 durch massiven Personalabbau, durch  beschleunigte Prozesse marktförmiger Steuerung und durch die Zentralisierung von Macht an der Konzernspitze – konnte nicht transparent gemacht werden, wie das Spannungsverhältnis von Gewinn- und Gemeinwohlorientierung aufgelöst werden kann.

Die Beschäftigten sind in ihrem betrieblichen Handeln von diesem sie beständig berührenden Identitätskonflikt tangiert[1] Er erzeugt in der Belegschaft ein beständiges Maß an Ungewissheit über Sinn und Zweck des Unternehmenshandelns und über die normativen Maßstäbe im kollegialen Umgang miteinander. Bis in die Gegenwart hinein besteht für die Führungskräfte, für die betrieblichen Interessenvertretungen und für die Beschäftigten auf allen Ebenen die tagtägliche Herausforderung, einen gangbaren Weg zwischen Gewinn- und Gemeinwohlorientierung zu finden. Damit ist die inhaltliche Ausrichtung des je konkreten Arbeitshandelns, also die gebrauchswertseitige Qualität der durch die Bahn angebotenen Mobilitätsdienstleistungen und die damit verknüpften Ansprüche an »gute Arbeit«, verbunden.

Das gilt im Falle der Bahn insbesondere auch deswegen, weil es sich um ein Unternehmen und um ein Marktumfeld handelt, das nach wie vor in hohem Maße durch politische Regulierungen und öffentliche Finanzierungsmittel geprägt ist. So richten sich die kritischen Erwartungen z.T. weniger auf die Konzernführung als vielmehr auf Staat und Politik. Die Repräsentanten der politischen Sphäre erscheinen vielen als Verursacher und zugleich auch als potenzielle Löser der Probleme. Dennoch wird die Politik im öffentlichen Diskurs als legitime Adressatin und Akteurin der Veränderung gesehen.

Ob damit eine Chance besteht, die im DB-Konzern schon seit langem umstrittene Doppelrolle der Politik als Marktteilnehmer (100-Prozent-Eigentümer der DB AG) einerseits und als Rahmengestalter bundesdeutscher Verkehrspolitik (Regulierer) andererseits, aufzulösen, ist heute ebenso ungewiss wie es die Finanzierungsfragen der angestrebten Modernisierungsstrategien sind.

 

Anmerkung

[1] Zur Neuausrichtung der Konzernstrategie und zum Identitätskonflikt ausführlicher: Hildegard M. Nickel/Hasko Hüning/Michael Frey/Max Lill 2021: Reproduktion. Partizipation. Sozialbeziehungen. Fach- und Führungskräfte in der betrieblichen Transformation [der deutschen Bahn AG], Weinheim Basel, S. 39-94.

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