29. August 2024 Peter Wahl: Zum Antikriegstag 2024
Über das Gedenkritual hinaus
1966 beschloss der DGB zur Erinnerung an den Überfall Nazi-Deutschlands auf Polen am 1. September 1939 den 1. September zum Antikriegstag zu erklären. Noch in den 1980er-Jahren, als es in Westdeutschland eine Massenbewegung gegen die Stationierung von Mittelstreckenraketen gab, war der Tag über die Gewerkschaften hinaus ein Kristallisationspunkt für Aktionen einer starken Friedensbewegung.
Nach dem Ende des Kalten Krieges war jedoch nur noch der harte Kern der Friedensaktivisten am 1. September auf der Straße. Es gab Entspannung, Raketen wurden verschrottet, die Rüstungsausgaben sanken, die Wehrpflicht wurde abgeschafft. Friedensbewegung erschien überflüssig.
Zwar gab es dann mehrere Kriege des Westens – die NATO incl. Bundeswehr gegen Jugoslawien 1999, der Krieg der »Koalition der Willigen« (darunter übrigens auch die Ukraine mit dem sechstgrößten Truppenkontingent der 36 Koalitionäre) 2003 gegen den Irak, ab 2012 gegen Libyen, Syrien, und Afghanistan. Aber abgesehen von der Demo mit 300.000 Teilnehmern gegen den Irakkrieg, konnte von einer wirklichen Friedensbewegung all die Jahre keine Rede sein.
Auch die Eskalation der Konfrontation mit Russland, die 2007 mit dem Beginn der Verhandlungen zum EU-Assoziierungsvertrag mit Kiew begann und sich mit dem NATO-Beschluss zur Aufnahme der Ukraine und Georgiens 2008 beschleunigte, beschäftigte nur die alten Kader aus der traditionellen Friedensbewegung. Selbst der Beginn des Ukrainekrieges im April 2014 mit dem Angriff Kiews auf die zu Terroristen erklärten Separatisten im Donbass änderte daran nichts.
Eine der wichtigsten Ursachen für die gegenwärtige Schwäche der Friedensbewegung dürfte sein, dass selbst Teile der Linken das Konzept des »gerechten Krieges« geschluckt haben. Das war schon 1999 spürbar, als Joschka Fischer den völkerrechtswidrigen Angriffskrieg mit dem Argument verkaufte, »ein neues Auschwitz« zu verhindern. Es wehte fortan der Geist von 1914 in postmodernem Gewand. Gäbe es den Kaiser noch, würde er wohl sagen: »Ich kenne keine Parteien mehr, ich kenne nur noch Antifaschisten.«
Als dann Russland seinen völkerrechtswidrigen Einmarsch in die Ukraine ebenfalls damit rechtfertigte, »den Faschismus in der Ukraine« beseitigen zu wollen, hatte die Antifa à la Joschka ein illustres Mitglied mehr.
Aber offenbar ist das mit dem »gerechten Krieg« nicht so einfach. Schon ein Linker aus früheren Zeiten, Robespierre, hatte ein Problem damit, wenn französische Revolutionstruppen den Export von liberté, égalité und fraternité zu Kriegszielen erklärten: »Niemand liebt die bewaffneten Missionare; der erste Rat, den die Natur und die Klugheit geben, ist der, sie als Feinde zurückzuschlagen.«
Wenige Jahre nach Robespierre hat Heinrich von Kleist in seinem Michael Kohlhaas die moralischen Widersprüche des »gerechten Krieges« literarisch dargestellt: dem Pferdehändler Kohlhaas werden widerrechtlich zwei Pferde weggenommen. Nach dem er in mehreren gerichtlichen Instanzen scheitert, bildet er eine Bande und startet Raubzüge mit Mord und Totschlag. Er wird geschnappt, bekommt seine zwei Pferde und wird aber wegen Mordbrennerei gehängt. »Fiat iustitia, et pereat mundi« so hieß seit dem 16. Jahrhundert jenes Rechtsverständnis, dem auch Kohlhaas verfallen war: »Es werde Gerechtigkeit, und wenn die Welt untergeht.«
Das moderne Recht sieht das kritisch und setzt das Prinzip der Verhältnismäßigkeit dagegen. Das hat auch für den Nahostkrieg zu gelten, wo inzwischen über 40.000 Zivilisten in Gaza das Massaker der Hamas mit ihrem Leben bezahlt haben. Und selbstredend gilt Verhältnismäßigkeit erst recht für Krieg im Zeitalter der Atombombe.
Das verkürzte Verständnis von »gerechtem Krieg« ist nicht das einzige Modul im intellektuellen Betriebssystem eines linken Bellizismus. Inzwischen haben sich auch manche dem Dogma der alten Römer angeschlossen: »Wenn du den Frieden willst, bereite den Krieg vor!« Heute nennt man das »Abschreckung«. Dabei wird aber der grundlegende Defekt dieser scheinbar so plausiblen Logik unterschlagen: Die Gegenseite denkt genauso, und prompt wird so die Spirale der Konfrontation immer wieder angetrieben.
Es braucht wieder mehr intellektuelle Widerstandkraft gegen den Mainstream in der gesellschaftlichen Linken, wenn der Marsch in Militarismus und Großmachtwahn gestoppt werden soll. Dabei geht es nicht nur um die militärische Hardware, die rabiate Aufrüstung und die Profite von Rheinmetall und Co. Die Rechnung bezahlen wie immer die Subalternen in Form von sozialer Austeritätspolitik. Kanonen statt Butter hieß das früher.
Auch der mentalen Umpolung auf gesinnungstreuen Konformismus, Kriegsfähigkeit und den Kitsch des (Euro-)Patriotismus gilt es entgegenzutreten, sowie der immer primitiver werdenden Feindbildproduktion gegen Russland und inzwischen auch gegen China. Die Initiative Nein zu Kriegen, die schon im November letzten Jahres in Berlin eine Demonstration mit immerhin 20.000 Teilnehmern organisiert hatte, versucht die Debatte über diese Fragen anzustoßen, so jüngst mit dem lesenswerten Diskussionspapier »Friedenspolitik für die Welt des 21. Jahrhunderts«.
Die Stationierung von Mittelstreckenraketen auf deutschem Boden treibt die Eskalation in der Konfrontation mit Russland weiter. Mit der unterwürfigen Hinnahme der bereits seit 2021 geplanten Stationierung wird das – ganz in der Logik von Abschreckung und Gegenabschreckung – Deutschland zum bevorzugten Ziel russischer Raketen machen. Wie immer in solchen Fällen, wird die Eskalation zur Defensivmaßnahme erklärt, mit der eine »Sicherheitslücke«, geschlossen würde. Zwar hat Russland tatsächlich ab 2018 Iskander Raketen in Kaliningrad stationiert, mit nach russischen Angaben einer Reichweite von nicht ganz 500 km. Das wäre genug, um Kreuzberg in Schutt und Asche zu legen.
Die Bundesregierung unterschlägt allerdings zum einen, dass die USA schon 2016 in Rumänien und 2018 in Polen das Raketenabwehrsystem AEGIS/SM-3 installierten – angeblich um Europa vor iranischen Raketen zu schützen –, was Moskau nicht ganz zu Unrecht als Beeinträchtigung des strategischen Gleichgewichts betrachtet. Zum anderen erteilte Washington dem russischen Vorschlag einer gegenseitigen Verifikation von Iskander und AEGIS/SM-3 eine Absage.
Der 1. September ist am Ende der Ferienzeit nicht gerade ideal für große Aktionen. Aber für dieses Jahr es gibt eine interessante Aktionsperspektive: Am 3. Oktober wird in Berlin eine bundesweite Demonstration stattfinden. Initiiert von der genannten Initiative Nein zu Kriegen, haben sich inzwischen zahlreiche Organisationen und Personen dem Aufruf angeschlossen, darunter das Forum Demokratische Linke 21 (DL 21) in der SPD und viele lokale Friedensbündnisse, sowie Prominente wie Günter Verheugen, Dietmar Bartsch, Gesine Lötzsch und Michael Brie von der Linkspartei, der Vorsitzende der Rosa-Luxemburg-Stiftung Heinz Bierbaum, Peter Brandt, Birgit Mahnkopf, Wolfgang Streeck und Sahra Wagenknecht.
Aus gut unterrichteten Kreisen heißt es, dass auch der Parteivorstand der Linkspartei zu der Aktion aufrufen könnte. Offenbar hat man aus dem Fehler mit der Kundgebung von Wagenknecht-Schwarzer im Februar 2023 gelernt, an der die Partei nicht nur nicht teilnahm, sondern sie als »nach rechts offen« diffamierte.
Für die Aktion am 3. Oktober gibt es international wie innenpolitisch Rückenwind. Im Ukrainekrieg gerät Kiew immer mehr in die Defensive. Wie selbst pro-ukrainische Militärexperten sagen, ändert der Vorstoß in die russische Region Kursk nichts daran. Von einem ukrainischen Sieg ist nur noch in Selenskijs Propaganda die Rede. Die Ungewissheit über den Ausgang der US-Wahlen kommt hinzu, sodass der Druck zu Verhandlungen an allen Ecken und Enden zunimmt.
Auch für den Nahen Osten ist die Mehrheit der Deutschen für eine Beendigung des Krieges. Allzu offensichtlich ist die Doppelmoral im Umgang mit dem Krieg in der Ukraine und dem in Gaza. Inzwischen hat mehr als die Hälfte der Bevölkerung kein Vertrauen mehr in die Nahost-Berichterstattung der Medien.
Auch das Ergebnis der Landtagswahlen im Osten wird die Kluft zwischen Mehrheit der Bevölkerung und der Ampel einmal mehr offenlegen. Hinzu kommt, dass die Raketenstationierung Umfragen zufolge ebenfalls von einer Mehrheit abgelehnt wird.
Könnte sein, dass der Wind sich zu drehen beginnt und vielleicht doch noch eine starke Friedensbewegung entsteht.
Peter Wahl war lange Jahr in der NGO »Weltwirtschaft, Ökologie & Entwicklung – WEED« aktiv, 2000 gehörte er maßgeblich zu den Gründern des globalisierungskritischen Netzwerks Attac in Deutschland. Inzwischen ist er Mitorganisator der Initiative »Nie wieder Krieg – Die Waffen nieder«. 2023 erschien bei VSA: seine Flugschrift Der Krieg und die Linken. Bellizistische Narrative, Kriegsschuld-Debatten und Kompromiss-Frieden.