27. März 2018 Redaktion Sozialismus: Moishe Postone verstorben

Über Kapitalismusanalyse und Antisemitismus

Am 19. März 2018 verstarb der kanadische Historiker und Marxist Moishe Postone. Geboren am 17. April 1942 als Sohn eines orthodoxen Rabbiners im kanadischen Edmonton lebte er von 1972 bis 1982 in Frankfurt am Main und promovierte 1983 an der Johann Wolfgang Goethe-Universität.

Später lehrte er am Department of History der University of Chicago. Bekannt wurde er in Deutschland durch seinen zuerst 1979 erschienen Artikel »Antisemitismus und Nationalsozialismus« (neu veröffentlicht in dem Band »Deutschland, die Linke und der Holocaust – Politische Interventionen«, Freiburg 2005). Sein Standardwerk »Zeit, Arbeit und gesellschaftliche Herrschaft. Eine neue Interpretation der kritischen Theorie von Marx« (erschienen 2003 im Ça ira Verlag, Freiburg) würdigten Joachim Bischoff, Fritz Fiehler und Christoph Lieber in der Ausgabe 6-2004 von Sozialismus unter dem Titel »Neue kritische Theorie? Moishe Postones Vorschlag für die Erneuerung des Marxismus«. Im Supplement von Heft 2-2008 der Zeitschrift veröffentlichten wir seinen Beitrag »Kritische Kapitalismustheorie heute. Brenner, Arrighi, Harvey und antikapitalistische Strategie«. Wir dokumentieren aus Anlass seines Todes das Gespräch »Über Kapitalismus und Antisemitismus«, das Fritz Fiehler und Christoph Lieber für Sozialismus in Heft 9/2000 mit ihm führten.


Über Kapitalismusanalyse und Antisemitismus

Gespräch mit Moishe Postone

 

Sozialismus: Ihr 1993 in den USA erschienenes Buch »Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory«, das Sie schon in den 80er Jahren in seinen Grundzügen fertiggestellt hatten, wird demnächst in deutscher Übersetzung im Freiburger ça ira-Verlag erscheinen. Ihre darin vorgenommene Reinterpretation der Marxschen Theorie hat bislang in den kapitalismuskritischen Analysen hierzulande kaum eine Rolle gespielt. Den inneren Zusammenhang Ihrer Arbeiten sehen wir darin, dass Sie in Ihrer werttheoretischen Rekonstruktion ein großes Gewicht auf die Dimension der Mystifikation und sozialen Dynamik des Kapitals legen. Wie ordnen Sie selber Ihre Arbeit über den Marxschen Wertbegriff in das Spektrum der zeitgenössischen Kapitalismusanalysen ein?

Postone: Ich habe in meiner Rekonstruktion der Marxschen Kritik der politischen Ökonomie versucht, die Fixiertheit der Kapitalismuskritik im traditionellen Marxismus auf Privateigentum und Markt zu lösen. Eine solche Kapitalismuskritik konnte die Veränderungen und Dynamik des modernen Kapitalismus, wie sie mit dem Fordismus, der ja keine reine Marktgesellschaft darstellt, gegeben sind, schon lange nicht mehr angemessen erfassen.

Aber auch angesichts einer anderen Tendenz gegenwärtiger Gesellschaftskritik in Westeuropa ist eine Rekonstruktion des Marxschen Kapitalbegriffs aktuell: Es tut mir leid, aber gerade die Diskussion in Deutschland um »Moderne« hinkt immer mehrere Jahre hinter dem Weltgeschehen zurück. Im atlantischen Raum ist es unmöglich, dass man in den Gegenwartsdiagnosen das Wort »Kapitalismus« vermeidet. Die Kaprizierung auf das »Moderne« wird den Entwicklungstendenzen des Fordismus, der ab Mitte der 70er Jahre brüchig wurde, nicht gerecht. Ein solches »Moderne«-Konzept blieb auf frühe fordistische Synthesen fixiert und erwies sich schon in den 70er und 80er Jahren als illusionär. Jetzt, wo sich der Fordismus zu einem neoliberalen »global capitalism« entwickelt hat, ist es unmöglich, den Kapitalbegriff einfach zu vermeiden. In den USA und in Großbritannien wird er auch gar nicht mehr vermieden. Der »Moderne-Diskurs« in Deutschland kann nur eine Übergangserscheinung sein.

Und: Man kann Probleme des Gegenwartskapitalismus nicht einfach auf Fragen der Verteilungsgerechtigkeit reduzieren, damit bleiben zu viele Erscheinungen in der Welt des gegenwärtigen Kapitalismus unbegriffen. In den USA zentrieren sich die meisten Diskussionen um den globalen Kapitalismus; jeder nimmt dies so wahr, außer vielleicht einige postmarxistische Intellektuelle in ihrem akademischen Milieu. In der öffentlichen Publizistik, beispielsweise in der »New York Times«, gibt es z.T. mehr kapitalismuskritische Beiträge als an manchen universitären Fachbereichen.

In den letzten Jahren war der Moderne-Diskurs dominant, denken wir an Autoren wie Ulrich Beck oder Anthony Giddens. Diskussionen um Marxsche Werttheorie und Kapitalbegriff fanden in den 70er Jahren eine gewisse Resonanz. Jetzt könnten Ihre werttheoretischen Arbeiten zu Marx aus den 80er Jahren vielleicht auch zu einer breiteren Wiederaufnahme von Fragestellungen der Kritik der politischen Ökonomie beitragen. Dem Moderne-Diskurs hierzulande stehen aber auch Kapitalismuskritiken und Krisenszenarien aus dem bürgerlichen Lager gegenüber, die sich in Übersetzungen aus dem Amerikanischen manifestieren, wie z.B. die Bücher von Soros, Thurow und Krugman.

... eben. Gerade wenn Paul Krugman fast jeden zweiten Tag seine Spalte in der New York Times hat, und Thomas Friedman immer wieder öffentlich den globalen Kapitalismus amerikanischer Prägung befürwortet, zeigt dies: Man redet ständig über Kapitalismus. Dies geschieht natürlich oft in affirmativer Weise. Aber es gibt hierbei fast niemanden, der so naiv ist zu behaupten, wir lebten außerhalb des Kapitalismus, in postkapitalistischen Welten.

Am weitreichendsten innerhalb der Linken erwiesen sich die Diskussionen um Formations- und Regulationstheorie. Relativ breite Übereinstimmung besteht darin, die Periode zwischen 1945 und 1975 als Fordismus zu fassen; gestritten wird darüber, wie die Krisen-, Transformations- und Restrukturierungsprozesse des Kapitalismus seit 1975 kapitalismustheoretisch einzuordnen sind. Wie stehen Sie zu diesen formations- und regulationstheoretischen Debatten und Periodisierungsversuchen?

... gespalten. Was ich richtig und gut finde, ist die Betonung von Stadien oder Epochen des Kapitalismus. Die gegenwärtige Diskussion um Fordismus und Postfordismus zur Erfassung der Entwicklung des Kapitalismus seit ca. 1973 gibt ihrerseits den Blick frei auf den Charakter der Kapitalismusanalysen vor 1973. Jene Analysen vorher waren aus meiner Sicht fälschlicherweise zu linear angelegt. Was meine ich damit? Man kannte in der Geschichte des Kapitalismus einen großen historischen Übergang vom sog. freien Marktkapitalismus des 19. Jahrhunderts zum staatlich gelenkten Kapitalismus seit Ende des 1. Weltkrieges. Dabei wurde unterstellt, dass in diesem Transformationsprozess bestimmte ökonomische und soziale Probleme des Frühkapitalismus überwunden seien; ja, man ging sogar soweit, einen Terrainwechsel von ökonomischen Problemen hin zu politischer Steuerung anzunehmen. Dafür standen beispielsweise das ganze »post-industrial-society«-Denken eines Daniel Bell, aber auch die gesellschaftstheoretischen Revisionen von Jürgen Habermas. Dies hatte auch im linken Denken den Ansatz von Max Weber immer plausibler gemacht: Man fasste die Entwicklung des Kapitalismus nur als stetigen Rationalisierungsprozess. Und diese Auffassung wurde befördert durch gewisse Tendenzen von »Verstaatlichung«.

Seit 1973 gibt es nun eigentlich eine Umkehrung dieser Entwicklung. Es wird zunehmend deutlicher, dass es immer noch eine vom Kapital getriebene historische Entwicklung gibt, die nicht mehr vom Staat aufgefangen werden kann – die einfach nicht mehr linear verläuft. Heutzutage sind wir mit Erscheinungen konfrontiert, die wie eine Rückkehr zum Kapitalismus des 19. Jhdts. anmuten, was sie natürlich nicht sind. Der Staat spielt heute eine untergeordnetere Rolle. Der Kapitalismus ist gegenwärtig internationaler, globaler. Das Auseinanderdriften der Gesellschaften in reich und arm nimmt zu. Das war während der fordistischen Epoche nicht der Fall. Damals konnte man sagen: »a rising tide lifts all boats« (»das auflaufende Wasser hebt alle Boote«). Heute würde niemand so reden. Und dies macht nun den Kapitalismusbegriff wieder aktuell.

Das Problematische an der Regulationstheorie in diesem Zusammenhang sehe ich darin, dass ihr Kapitalismusverständnis meines Erachtens noch zu verengt und traditionell ist, um genügend differenziert und sensibel für Periodisierungen zu sein, die ja gerade einem linearen Modernisierungs- und Rationalisierungsdiskurs entgegenstehen. Außerdem befasst sie sich nicht mit der historischen Erzeugung von Bedürfnissen und widersprüchlichen und oppositionellen Bewusstseinsformen, die sich wiederum in dem Maße ändern, wie sich der Kapitalismus selbst verändert.

Schon Marx betonte im Vorwort zum Kapital, dass »die jetzige Gesellschaft kein fester Kristall, sondern ein umwandlungsfähiger und beständig im Prozess der Umwandlung begriffener Organismus ist«. Ließen sich die Schwächen einer linearen Modernisierungstheorie und zu statischen Regulationstheorie mit einem Ansatz überwinden, der zunächst den Entwicklungsgrad der historisch ausgebildeten Totalität des Kapitalismus zu bestimmen versucht?

Ja, aber auch Entwicklungsgrad darf hierbei nicht quantitativ verstanden werden. Wenn man von heute aus – sehr oberflächlich gesehen – zweihundert Jahre zurückblickt, ergibt sich folgendes Bild: Der Kapitalismus hat sich von einer merkantilistischen Form zu einer Form des freien Marktes, und nach einer staatlich geregelten Form wieder zu einer neuen Art von freiem Markt entwickelt. Diese verschiedenen Formen sind mehr als bloß wechselnde Erscheinungsformen des Kapitals, es sind jeweils spezifische Konfigurationen des Kapitals selbst. Verständlicherweise bestand nun in jeder Epoche die Versuchung, an ihr das Wesen des Kapitals festzumachen. Aber rückblickend kann man sehen, dass diese Perioden Konfigurationen von etwas anderem darstellen, dass in ihnen der Kapitalbegriff sich nicht erschöpft. Der Begriff des Kapitals geht nicht auf in einem liberalen Kapitalismus des 19. oder in einem staatlich regulierten des 20. Jahrhunderts, ebensowenig wie im gegenwärtigen neoliberalen »global capitalism«. Das heißt, wir haben es mit einer sich totalisierenden historischen Entwicklung des Kapitals zu tun, und ich möchte dabei das Moment der Entwicklung, insbesondere das der Dynamik des Kapitals betonen.

Der Dynamik des Kapitalismus Rechnung zu tragen, erweist sich also als Knackpunkt bei der genaueren Erfassung von historisch bestimmten Transformationsprozessen des Kapitals. Mit Eric Hobsbawm lassen sich für das 20. Jahrhundert zwei zentrale Transformationsprozesse benennen: In der Zwischenkriegszeit der Übergang zur fordistischen Entwicklungsetappe, die erst nach dem 2. Weltkrieg voll zum Tragen kam. Und Mitte der 70er Jahre der Beginn vom Ende dieser fordistischen Betriebsweise und ihre bis heute anhaltenden Erosionskrisen und Strukturbrüche. Eine Stärke der »Kritischen Theorie« war immer, sich diesen Qualitätsveränderungen im Kapitalismus theoretisch zu stellen. In Ihrer Kritik an Friedrich Pollocks und Max Horkheimers Thesen zum Staatskapitalismus zu Beginn der 40er Jahre führen Sie den überzeugenden Nachweis, dass die Kritische Theorie selbst noch den unzulänglichen Grundannahmen des traditionellen Marxismus verhaftet bleibt. Und auch die noch weitergehenden Revisionen von Jürgen Habermas münden in die systemtheoretisch verengten und statischen Kategorien der beiden Medien »Geld« und »Macht«, die die geschichtlichen Umwälzungen und die derzeitige Dynamik des Kapitalismus nicht zu erhellen vermögen. Was ist für Sie die Nagelprobe ihrer werttheoretischen Rekonstruktion des Kapitalbegriffs? 

In meinem Buch »Time, Labor and Social Domination« habe ich versucht, für die Kapitalismusanalyse eine Widerspruchsstruktur zu entfalten, die nicht zwischen industrieller Produktion und Privateigentum oder zwischen industrieller Produktion und Markt besteht. Dies wäre zu statisch gedacht. Widerspruch und Dynamik hängen aber aufs engste zusammen. Daher war mein Anliegen, auf eine andere Art und Weise Widerspruch und Dynamik aus dem Marxschen Kapitalbegriff zu rekonstruieren, die die traditionell verstandene Widerspruchsstruktur zwischen Produktivkräften und Produktionsverhältnissen überwindet. Dies erschöpft sich nicht einfach in einer Handvoll Gesichtspunkten, die ich hier nur aufzählen müsste, sondern besteht in einer breiteren theoretischen Entfaltung, die ich in diesem Text versucht habe.

Könnten Sie auf einen Gesichtspunkt näher eingehen, der im Buchtitel selbst anklingt: die Zeit? Dies müsste selbst für jede aktuelle Kapitalanalyse ein wichtiger Bezugspunkt sein. Die Aktualität des zweiten Bandes des »Kapital« – Stichworte Verdichtung von Zirkulationszeit, Vernichtung von Raum und Zeit etc. – springt ja angesichts von Kapitalstrukturen der »New Economy« ins Auge.

Ja genau. Ich habe schon für den ersten Band des »Kapital« versucht, dieses Zeitmoment hervorzuheben und dabei den Begriff des Mehrwerts neu zu denken. »Mehrwert« bedeutet nicht einfach »mehr« Wert im Sinne einer Kategorie der Ausbeutung; sondern dass »Mehrwert« mehr »Wert« darstellt, bedeutet das Surplus einer ganz eigenartigen Form der Reichtumsproduktion, die wesentlich an die Form der Zeit selbst gebunden ist. Und genau diese Zeitgebundenheit der Wertproduktion markiert die differentia specifica des Kapitals und nur darüber lässt sich die spezifische Dynamik des Kapitals auch verstehen.

Meines Erachtens gibt es mehrere Dynamiken des Kapitals: eine zeitliche und räumliche, die zwar zusammenhängen, aber analytisch getrennt werden können. Der zweite Band des Kapitals geht mehr über die raum-zeitliche, der erste mehr über die historisch-zeitliche Dimension der Verwertung des Werts. Das heißt, die Fragen der Beschleunigung der Zeit und die damit einhergehenden Veränderungen im Produktionsprozess bis hin zu ökologischen Folgewirkungen dieser spezifischen Surplusproduktion sind zentral. Das Wort »Wachstum«, kann diese Dynamik nicht adäquat erfassen. Denn wendet man sich gegen »Wachstum« manövriert man sich in eine ziemlich unglückliche Antinomie zwischen Wachstum oder romantischer Askese. Andere Formen des Wachstums lassen sich aber nur von dem eben skizzierten Wertbegriff her verstehen. Und solange man nur von Ausbeutung sowie ihrer Abschaffung durch die Aufhebung von Privateigentum und Markt redet, kann man auch hierzu nicht differenziert Stellung beziehen.

Wir teilen diese Kritik an der politischen Konzeption eines traditionellen Marxismus, in der Sozialismus und eine neue Qualität von Wachstum lediglich in der Beseitigung von Privateigentum und Marktverhältnissen vorgestellt wird. Sie selber verorten die große Leerstelle einer solchen Konzeption darin, dass damit die Wert- und Kapitalmystifikation in der Wertproduktion noch nicht behoben ist und noch keine neue Qualität und Transparenz in den sozialen Beziehungen zwischen den gesellschaftlichen Individuen etabliert ist. Hinzu kommt die Unterbelichtung der sehr differenzierten Struktur der Verteilung von Wert in Markt- und Kreditverhältnissen, was dadurch befördert wird, dass sich eine Stufenfolge von näheren Bestimmungen des Marktes nur implizit im Marxschen Kapital findet. Welchen Stellenwert hat der Markt in ihrer Rekonstruktion der Marxschen Werttheorie? Ausgehend von Ihrer Kritik an der Sozialismuskonzeption im traditionellen Marxismus ließe sich auch argumentieren: Man kann begründet für einen marktsozialistischen Entwicklungsweg plädieren, da Markt als Verteilungselement sinnvoll ist, Individualität und Differenzierung erlaubt; zentrale Herausforderung bleibt hingegen die Veränderung im Verhältnis der Subjekte zu ihren sozialen Produktivkräften, mithin die Aufhebung der Kapitalmystifikation.

Ich bin mir in dieser Frage nicht sicher. Beziehen wir uns beispielsweise auf Friedrich Pollocks Analyse des »Staatskapitalismus« als einer Form der Aufhebung von Marktverhältnissen durch politische Planung und Regulierung – ein interessantes Gedankenexperiment, wie ich finde –, so geht daraus hervor, dass damit keineswegs das Kapitalverhältnis selbst abgeschafft wäre. Pollock hat richtig gesehen, dass sich dadurch am Wesentlichen – dem Austausch zwischen toter und lebendiger Arbeit – nichts geändert hat. Die ganze Produktionssphäre bleibt in ihrer kapitaldominierten Struktur bestehen, und damit auch eine spezifische Form des Wachstums. Von daher gesehen machen die Existenz oder das Verschwinden von Marktverhältnissen nicht das Wesentliche aus. In dem Sinne kann man also eine Art von Marktsozialismus für denkbar halten.

Aber dann kommt es m.E. ganz entscheidend darauf an, ob eine solche Form von Marktverteilung jenseits der Wertkategorie existieren könnte, d.h. nicht eingebettet und durchdrungen durch den Akkumulationszwang des Kapitals. Denn mein Problem mit den meisten Diskussionen um Marktsozialismus besteht darin, dass dabei der Markt politökonomisch verkürzt nur unter den Kategorien des Gleichgewichts oder der Verteilung gedacht wird, aber die ganzen Verhältnisse des Akkumulationszwangs und der sozialen Dynamik, die auf den Markt einwirken, ausgeblendet bleiben.

Die für mich wichtige Frage besteht also in der nach einem Marktsystem von Verteilung, ohne dass dieses System unter dem Akkumulationszwang des Kapitals stehen würde. Im Unterschied zu einer bestimmten Richtung im Marxismus, aber nicht nur im Marxismus, die einfach gegenüber der Idee des Marktes ablehnend bis feindlich eingestellt ist, steht für mich nicht die Feindseligkeit gegenüber dem Markt, sondern die Frage der Kapitaldynamik im Zentrum.

Die einfache Vorstellung von der Vermachtung der Märkte in Form der Monopoltheorie hat großen Einfluss innerhalb der marxistischen Theoriebildung gehabt. Spuren davon finden sich ja auch in Pollocks Theoretisierung des Staatskapitalismus. Wäre also zur Überwindung der Schwächen des traditionellen Marxismus neben Ihrer Rekonstruktion des Wertbegriffs nicht auch die Rekonstruktion eines differenzierten Begriffes von Markt angesagt?

Nicht unbedingt. Mein Interesse war ein anderes. Ich habe versucht zu argumentieren, dass der Wertbegriff nicht unmittelbar mit dem Begriff des Marktes zusammenhängt, d.h. aus Sicht der historischen Genesis schon, nicht aber unter dem Aspekt der historischen Geltung. Und Pollock hat nun beide Begriffe in ganz traditioneller Weise gleich verstanden, so dass für ihn die effektive Aufhebung des Marktes zugleich die Aufhebung des Werts bedeutete. Damit hat er keine werttheoretische Begrifflichkeit mehr für die neue Herrschaftsform des Staatskapitalismus gehabt. Begrifflich konnte er sich nicht verteidigen, dass er sie Staatskapitalismus genannt hat. Wenn Wert also einfach ein Marktbegriff ist, reicht die Aufhebung des Marktes hin, den Wert aufzuheben. Und dies hat der Stalinismus positiv gesehen, Pollock negativ.

Ich sehe das natürlich nicht so, dass mit der Aufhebung des Marktes der Wert aufgehoben ist. Aber meinerseits bin ich mir über den Stellenwert einer differenzierten Rekonstruktion des Marktbegriffs für eine entwickelte Werttheorie noch nicht im Klaren. Für mich steht nach wie vor die Frage im Vordergrund: Gibt es eine Marktgesellschaft, in der Kapital keine Rolle spielt? Denn die eigentliche Frage ist die nach der sozialen Dynamik des Kapitals, nicht nach Verteilung; und deshalb rede ich vom Zwang zur Akkumulation. Der eigentliche Markt heutzutage in den USA ist der »Kapitalmarkt«, alles andere ist zweitrangig. Den gilt es aufzuheben. Ich sehe nur die Möglichkeit, Wert zu denken ohne Markt. Auf eure Frage, Markt zu denken ohne Wert, habe ich noch keine Antwort. Es wäre durchaus vorstellbar, den Markt einfach als sensiblere Verteilungsform für die individuelle Bedürfnisbefriedigung beizubehalten; und dennoch können sich hinter dem Rücken der gesellschaftlichen Individuen Strukturen etablieren, in denen sich das Kapital einen institutionellen Rahmen für seine Dynamik und Akkumulation verschafft. Deshalb möchte ich in dieser Frage »agnostisch« bleiben.

Im Zusammenhang unserer Diskussion um Marktsozialismus eine weitere werttheoretische Überlegung. Gegenwärtig erleben wir eine Dynamik des Kapitals, immer mehr Bereiche gesellschaftlicher Arbeit dem Zwang zur Verwertung zu unterwerfen. Aus unserer Sicht lässt sich der dritte Band des Kapitals von Marx so lesen, dass zum einen gezeigt wird, wie sich dieser Zwang selber historisch entwickelt, dass aber andererseits ökonomische Strukturen denkbar wären, in denen durch gesellschaftliche Eingriffe für verschiedene gesellschaftliche Bereiche unterschiedliche Produktivitätsniveaus und Profitraten zugelassen werden könnten, aber eben nur durch soziale Vorkehr, Einsicht und Steuerung. Das hieße, ganz in Ihrem Sinne, diesen Zwang zur Produktivität in der fetischisierten Form der Profitratenmaximierung zurückzunehmen.

Es kommt dabei darauf an, was unter Profit verstanden wird. Wenn ich Profit als die entscheidende Durchsetzungsform des blinden Zwangs zur Umverteilung von Mehrwert auf gesamtgesellschaftlicher Ebene auffasse, dann bin ich auch mit Marx der Überzeugung, dass diese Form abgeschafft werden soll. Profit als Surplus ist davon zu unterscheiden. Unterschiedliche Surplusraten in verschiedenen Bereichen sind durchaus denkbar, dann sollte man sie innerhalb der Marxschen Terminologie aber nicht mehr als Profitraten bezeichnen. Denn Profit und Profitrate drücken gerade diesen Zwang der kapitalistischen Akkumulationsdynamik aus. Und dabei steht heutzutage nicht so sehr der Zwang, alle gesellschaftlichen Bereiche der Verwertung zur Durchschnittsprofitrate zu unterwerfen, im Vordergrund, sondern es gibt riesigen Druck, permanent das Niveau der Durchschnittsprofitrate nach oben zu drücken. Gerade bei dem heute erreichten Grad an Flexibilität bewirken schon kleinere Größenunterschiede in den Durchschnittsprofitraten Kapitalwanderungen. Dazu kommt das Gewicht der Börse, die den Verteilungsmechanismus von Kapital jetzt mit prägt und den Zwang zu immer höheren Profitraten noch steigert.

Ihr Insistieren auf Wert als mystifiziertem sozialen Prozess leitet uns über zu dem anderen Komplex Ihrer theoretischen Arbeit, dem Zusammenhang von Antisemitismus und Nationalsozialismus. Sie rücken Ihre Analyse des Antisemitismus sehr stark in den Kontext der Kapitalmystifikationen und der Fetischisierungen des modernen Kapitalismus. Grundzüge Ihrer Argumentation haben Sie schon zu Beginn der 80er Jahre skizziert, zu einem Zeitpunkt, an dem die Linke sich noch nicht so sensibel und selbstkritisch dem Zusammenhang von Faschismus und Judenvernichtung stellte, im Unterschied zu heute, wo in den meisten Faschismusstudien die Geschichte der Judenvernichtung breiten Raum einnimmt. Wie ordnen Sie von heute aus, auch unter Berücksichtigung der Goldhagen-Diskussion, Ihren damaligen Untersuchungsansatz ein?

Auch wenn ich die Diskussion um die Thesen Goldhagens nicht in allen Einzelheiten kenne, bin ich zunächst einmal mit seiner Problemstellung des »eliminatorischen Antisemitismus« einverstanden. Nicht gut finde ich, wie er dies dann ausgeführt hat, als quasi ontologische Bestimmung der Deutschen bis 1945, die er dann nach 1945 nicht mehr gegeben sah. Für eine adäquate Erfassung des Nationalsozialismus halte ich aber den Tatbestand eines auf »Ausrottung« gerichteten Antisemitismus nach wie vor für zentral, worauf meine Thesen ebenfalls abzielen. Im Begriff des Faschismus war dies z.T. verdeckt, und gerade in Osteuropa trifft man immer noch zu selten auf Denkmäler, die die vernichteten Juden als Juden benennen. Vornehmlich werden die ermordeten Juden aufgelöst in Antifaschisten oder in ihre Nationalitäten als Polen, Russen, Litauer, Weißrussen, Letten oder Ukrainer; ihrer wird nicht als Juden gedacht.

Für dieses Begreifen der Judenvernichtung im Nationalsozialismus sprengt Goldhagens Intention, ohne dass er dies vielleicht beabsichtigte, den herkömmlichen Rahmen von funktionalistischen und intentionalistischen Forschungsansätzen. Obwohl gerade die Funktionalisten hervorragende historische Arbeiten für die Erforschung des Nationalsozialismus geleistet haben, eine Hauptfrage haben sie nie gestellt: Sie beantworten die Frage, wie es zur Vernichtung der Juden kam, nicht aber, wie es dazu kommen konnte. Was meine ich damit? Ausrottung ist kein Vorgang, der einfach aus »Platzmangel«, wirtschaftlichen Schwierigkeiten oder Engpässen in der Versorgung entsteht. Man verschleppt Juden nicht von Norwegen oder Rhodos nach Auschwitz, weil man ökonomische Probleme im Generalgouvernement Polen hat. Das heißt, die Funktionalisten haben sich der Ausrottungspolitik der Nationalsozialisten nie wirklich als historischem Problem gestellt. Sie unterscheiden nicht zwischen Massenmord und »Ausrottung«. Und was den Holocaust ausmacht, ist Ausrottung. Ich habe nun versucht, gerade diese Bewusstseinsformen und Dispositionen zur Ausrottung materialistisch zu erklären. Und deshalb war ich bemüht, mich von Positionen zu entfernen, die die Juden einfach als »Sündenböcke« verstehen. Man rottet Sündenböcke nicht aus, man vertreibt oder tötet sie.

In Ihren Thesen setzen Sie sich von zwei Positionen ab, die sie als unzureichende Erklärungsansätze des Antisemitismus charakterisieren. Zum einen hatte ja auch das Frankfurter Institut für Sozialforschung im New Yorker Exil 1941 ein – auch von heute aus gesehen immer noch uneingelöstes – Programm zur Erforschung des Antisemitismus skizziert, in welchem der Umschlag eines gesellschaftsgeschichtlich und sozialpsychologisch latenten Antisemitismus in offenen Antisemitismus durch ökonomische Krisen im Mittelpunkt steht. Sie sehen darin eine zu starke Fixierung des Antisemitismus auf die Zirkulationssphäre, im Sinne einer Kritik eines unterstellten »Parasiten- und Schmarotzertums« der Juden. Zum anderen beziehen Sie sich auf George Mosses Thesen zum antimodernen Protest und romantischen Antikapitalismus während der Weimarer Republik und des Faschismus. Dieser ideologische Komplex »moderner Antimodernität« hat in den letzten Jahren durch Zygmunt Baumans Buch »Dialektik der Ordnung. Die Moderne und der Holocaust« Eingang in viele Untersuchungen zum Zusammenhang von Nationalsozialismus, Antisemitismus und Judenvernichtung gefunden. Hier wird nun mit einem Moderne-Begriff argumentiert, der von Ihnen wohl nicht geteilt werden dürfte.

Richtig. Wenn wir an dieser Stelle unseres Gesprächs kurz zurückkehren zur Diskussion um Fordismus/Postfordismus und die dort benutzten Begrifflichkeiten Moderne/Postmoderne, so erscheint der Fordismus als modern, der Postfordismus als postmodern. Es ist nun interessant zu beobachten, dass während der Blütezeit der Moderne, des Hochfordismus der 50er und 60er Jahre, eine Auffassung des Nationalsozialismus als antimodern ziemlich weit verbreitet war. In den 80er Jahren nun mutiert der Nationalsozialismus zum Inbegriff des Modernen. Daran kann man sehen, dass jede Epoche sich ein anderes Bild vom Nationalsozialismus entwirft. Und die Einseitigkeit des jeweiligen Begriffs vom Nationalsozialismus spiegelt die Einseitigkeit des Selbstverständnisses der Epoche.

Selbstverständlich wird Zygmunt Baumans Auffassung mit offenen Armen begrüßt, wenn derzeit alles nur ein Problem der Moderne ist. Ich finde dies sehr einseitig und habe versucht zu argumentieren, wie inadäquat sowohl der Begriff des Modernen wie der des Antimodernen zur Erfassung des Nationalsozialismus sind. Wenn man diese Worte dennoch zur Kennzeichnung benutzt, kommt es auf die Mischung und Akzeptanz verschiedener Aspekte an, die in diesem Sprachgebrauch enthalten sind. Dazu muss man die Muster verstehen, in denen unterschiedliche Elemente von Modernität und antimodernen Ressentiments homogenisiert und synthetisiert werden. Und dies leistet in meinen Augen die ganze Dimension der Fetischisierung im Wertbegriff bei Marx, der in der Gegenüberstellung und dem Ineinanderreflektieren von abstrakten und konkreten Bestimmungen diese Muster besser aufgreift, entschlüsselt und verstehbar macht.

In diesem Sinne formulieren Sie ja auch zum Ende Ihres Aufsatzes: »Die Realität der Abstraktheit, die nicht nur die Wertdimension in ihrer Unmittelbarkeit kennzeichnet, sondern auch mittelbar den bürgerlichen Staat und das Recht, wurde genau mit den Juden identifiziert. In einer Periode, in der das Konkrete gegenüber dem Abstrakten, dem ›Kapitalismus‹ und dem bürgerlichen Staat verklärt wurde, entstand daraus eine fatale Verbindung: Die Juden wurden als wurzellos, international und abstrakt angesehen.« Das heißt, der Antisemitismus synthetisierte im auszurottenden Feindbild des Juden diese kapitalistischen wie antikapitalistischen Strukturen. Diese Thesenstruktur hat große Ähnlichkeit mit Pierre Bourdieus Analyse der politischen Funktion Martin Heideggers als philosophischem Orchestrator von romantisch-antikapitalistischen wie modernen Strömungen im Feld der Intellektuellen zu Beginn des Faschismus.

Ohne Bourdieus Arbeit über die »politische Ontologie Heideggers« jetzt im einzelnen zu kennen, sind mir diese Thesen durchaus sympathisch.

In Ihrem Antisemitismus-Aufsatz ist noch eine sehr aktuelle These enthalten, indem Sie die Mächtigkeit des Antisemitismus damals an den Übergang von liberalem zu postliberalem Kapitalismus in der Zwischenkriegszeit koppeln. Sagen Sie damit, dass solche ideologischen Verdichtungen und Verwerfungen hauptsächlich in Transformationsperioden des Kapitalismus auftreten? Sehen Sie dies für heute ähnlich und würden Sie Erscheinungen wie Fremdenfeindlichkeit, Rassismus, Rechtsradikalismus und Antisemitismus hier in Deutschland der gegenwärtigen Transformationskrise des Kapitalismus anlasten?

Ich bin versucht, mit ja zu antworten. Aber es kommt darauf an, wie im ideologischen Bereich heute die Synthesen aussehen könnten. Rückbli­ckend auf den Übergang zum Fordismus zu Beginn der 50er Jahre kann man sagen, dass dieser für relativ große Teile der Bevölkerung in den kapitalistischen Metropolen eine Anhebung des Lebensstandards mit sich gebracht hat und es insofern wirklich zu gelungenen Synthesen im gesellschaftlichen Lebensprozess gekommen ist – ideologisch überhöht im Slogan vom »Ende der Ideologien«. Für heute kann ich mir nicht vorstellen, dass sich aus Erscheinungen wie Fremdenhass u.ä. neue ideologische und gesellschaftlich lebbare Synthesen herauskristallisieren. Fremdenfeindlichkeit kann allerdings eine der Funktionen des Antisemitismus bedienen, nämlich Unzufriedenheit mit negativen Auswirkungen des globalen Kapitalismus so zu verschieben, dass diese Ausgrenzungsmechanismen unangetastet bleiben.

Moishe Postone, geboren 1942 in Edmonton, Kanada. Associate Professor of History an der Universität von Chicago. Veröffentlichungen: Time, Labor and Social Domination: A Reinterpretation of Marx’s Critical Theory (1993), Bourdieu: Critical Perspectives (Hrsg. 1993 mit Craig Calhoun und Edward LiPuma) Deutsche Übersetzungen: Kritischer Pessimismus und die Grenzen des traditionellen Marxismus, zus. mit Barbara Brick, in: Sozialforschung als Kritik. Zum sozialwissenschaftlichen Potential der Kritischen Theorie, Hrsg. von Wolfgang Bonß und Axel Honneth, Frankfurt/M. 1982; Nationalsozialismus und Antisemitismus. Ein theoretischer Versuch, in: Antisemitismus und Gesellschaft. Zur Diskussion um Auschwitz, Kulturindustrie und Gewalt, Hrsg. von Michael Werz, Frankfurt/M. 1995.

Für Sozialismus diskutierten Fritz Fiehler (Schobüll) und Christoph Lieber (Hamburg).

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