2. Juni 2024 Redaktion Sozialismus.de: Ohne die Teilnahme Russlands und Chinas wird es keinen Frieden geben

Ukraine-Konferenz in der Schweiz

Die Schweiz organisiert Mitte Juni eine große Konferenz zum Schlüsselproblem des anhaltenden Ukraine-Krieges. Laut dem ukrainischen Präsidenten Wolodymyr Selenskyj hätten bisher 106 Länder und Organisationen ihre Teilnahme zugesagt. Auf der Konferenz sollen Optionen für einen Frieden in dem gut zwei Jahre andauernden Krieg diskutiert werden.

Selenskyj warb auf einer Sicherheitskonferenz in Singapur erneut bei verschiedenen Staatsoberhäuptern für die Unterstützung der Ukraine. Er wollte vor allem die Staaten im asiatisch-pazifischen Raum zu einer Teilnahme bewegen und habe sich deshalb mit dem indonesischen Präsidenten Prabowo Subianto, einer Delegation des US-Kongresses und dem Präsidenten von Timor-Leste, Jose Ramos-Horta, getroffen: »Wir zählen fest darauf, dass Sie diesen Gipfel unterstützen und in der Schweiz anwesend sein werden […] Russland will den Krieg nicht beenden. Deshalb müssen wir mit der ganzen Welt zusammenarbeiten, um dem Frieden näher zu kommen«.

Die Volksrepublik China stellte sich auf der Konferenz in Singapur als neutrale Partei dar, weshalb westliche Verbündete der Ukraine Peking vorwerfen, den russischen Angriff nicht verurteilt zu haben. Eine Teilnahme ihres Landes an der Schweizer Friedenskonferenz hatte die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Mao Ning, zuvor wegen der »Beschaffenheit des Treffens« als »schwierig« bezeichnet.

Die »Beschaffenheit« hängt mit einer der Zielsetzungen zusammen, dass Russland als Aggressor identifiziert werden soll. Insofern ist der Bauplan der Friedenskonferenz wenig überzeugend. Denn Russland ist zu dem Treffen am 15. und 16. Juni nahe Luzern nicht eingeladen und will auch nicht teilnehmen. Ob auch US-Präsident Joe Biden in die Schweiz reist, den Selenskyj um persönliche Teilnahme gebeten hatte, steht wegen wichtiger Wahlkampftermine noch nicht fest.

Die Schweiz organisiert die Konferenz auf Wunsch der Ukraine. Das Ziel ist es, einen möglichen Friedensprozess »anzustoßen«, also bestenfalls mit den eingeladenen Staaten über Schritte in die Richtung einer kompetenteren Friedenskonferenz zu diskutieren. Kiew schwebte zunächst vor, möglichst breite Unterstützung für die ukrainische Friedensformel und einen 10-Punkte-Katalog ihres Präsidenten zu finden, der u.a. den Abzug der russischen Truppen und die Rückgabe eroberter Territorien sowie die Errichtung eines Sondertribunals vorsieht. Allerdings konnte die ukrainische Führung diese einseitige Ausrichtung nicht durchsetzen.

Jetzt zeichnet sich ab, dass der Fokus auf Themen liegen soll, von denen eine Vielzahl von Staaten betroffen sind, darunter die nukleare Sicherheit, die freie Schifffahrt, die Ernährungssicherheit und humanitäre Aspekte. Um das Kernkraftwerk Saporischja kommt es immer wieder zu Kämpfen und die Ukraine spielt weltweit zudem im Getreideexport eine wichtige Rolle, wozu sichere Transportwege zu den Empfängerländern gehören.

Auch die angestrebte Mitgliedschaft der Ukraine in der NATO soll ein Verhandlungsthema sein, die nach Angaben von Generalsekretär Jens Stoltenberg forciert wird. Die Allianz sei entschlossen, den Weg des Landes hin zu einem Beitritt abzukürzen, sagte er zum Abschluss von Beratungen der Außenminister*innen der 32 NATO-Staaten in Prag.

Stoltenberg begrüßte am Rande des Treffens die Entscheidung der USA, Beschränkungen für den Einsatz von amerikanischen Waffen gegen Ziele auf russischem Gebiet zu lockern. Diese Tatsache sei umso wichtiger, da Russland eine neue Front eröffnet habe und vom Norden die Region Charkiw angreife, sagte er.

Auf dem kommenden NATO-Gipfel im Juli in Washington soll u.a. beschlossen werden, Aufgaben zur Unterstützung der Ukraine, die bisher von den USA übernommenen wurden, auf das Bündnis zu übertragen. Hintergrund dabei ist auch das Szenario einer möglichen Rückkehr von Donald Trump in das Präsidentenamt der Vereinigten Staaten.


NATO-Mitgliedschaft der Ukraine?

Die Ukraine soll NATO-Mitglied werden, zugleich seien sich laut Stoltenberg alle bisherigen Mitglieder jedoch einig, dass das mitten im Krieg nicht möglich ist. Aber die Ukraine sei »dabei, das System für die Beschaffung von Verteidigungsgütern einzurichten und – in enger Abstimmung mit der NATO – auch ihre Geheimdienste zu modernisieren«. Das seien nur ein paar Beispiele dafür, wie sich die Ukraine tatsächlich verändere, »indem sie sich anpasst und verstärkt«.

Seit Jahren steckt die NATO in dieser Frage in einem Dilemma: Einerseits möchte sie eine Politik der offenen Tür beibehalten, andererseits schreckt sie vor einer Provokation Russlands zurück und eröffnet ehemaligen Republiken der Sowjetunion keine konkrete Mitgliedschaftsperspektive. Denn schon die Grundsatzdokumente der OSZE, die das Ende des Kalten Krieges besiegelt haben, enthalten einen Widerspruch: Das Prinzip der Bündnisfreiheit steht der Unteilbarkeit der Sicherheit gegenüber. Jedes Land kann seine Bündnisse und außenpolitische Orientierung frei wählen, jedoch mit Rücksicht auf die Sicherheitsbedenken der Nachbarn.

Dies lässt einen großen Raum für Interpretation und eröffnet Tür und Tor für Konflikte. Russland hat mit Verweis auf das eigene Sicherheitsinteresse jahrelang die bereits erfolgten NATO-Osterweiterung beklagt, und gar als Rechtfertigung für den Beginn des Einmarschs in die Ukraine genutzt. Allerdings verkennt dieser Blick auf Einflusssphären, dass die NATO-Erweiterung dem aktiven Beitrittsgesuch von entsprechenden Staaten folgt.

Das gilt natürlich auch für die Ukraine, deren Beitrittsperspektive jedoch nur unter zwei Voraussetzungen realistisch ist: Die erste ist das – bisher nicht absehbare – Ende des Krieges und die Erreichung eines halbwegs stabilen Zustands zwischen der Ukraine und Russland. Die zweite ist das Votum der Bündnismitglieder, was insbesondere eine politische Frage ist. Dabei spielt eine wichtige Rolle, ob die NATO durch den Beitritt der Ukraine sicherer wird oder nicht.

Hinzu kommen innenpolitische Debattenfelder. Das Veto Ungarns und der Türkei bezüglich des schwedischen Beitritts lässt die Problematik deutlich erkennen. Bei allen Erweiterungsrunden der NATO waren zudem die Einhaltung demokratischer Mindeststandards und die Achtung der Menschenrechte zumindest zentrale Themen. Zudem sind die bisherigen NATO-Mitglieder daran interessiert, dass die Aufnahme neuer Mitglieder nicht die eigene Lage verschlechtert. Insofern galt die ungeschriebene Regel, dass kein Staat beitreten kann, der ungelöste territoriale Konflikte mit einem Nachbarstaat hat.

Die Ukraine hat aus ihrer Sicht zwar Fortschritte erzielt, weist aber noch signifikante Defizite auf. Eine Regelung des Territorialkonflikts über die Krim und die Ostukraine ist nicht in Sicht. Da alle NATO-Mitglieder einer Erweiterung zustimmen müssen, ist die Unterstützung des ukrainischen Wunsches insbesondere durch Polen und die Balten nicht hinreichend. Eine schnelle ukrainische NATO-Mitgliedschaft ist trotz des Drängens von Selenskyj und Stoltenberg aktuell nicht zu erwarten, auch wenn es auf Grundlage der NATO-Ukraine-Charta bereits seit Juli 1997 eine institutionalisierte Zusammenarbeit in einer entsprechenden Kommission gibt.

Es bringt vielen Mitgliedsstaaten wenig, wenn die NATO Sicherheitsgarantien abgibt, die sie weder einhalten kann noch will. Mit einer Mitgliedschaft der Ukraine (oder Georgiens) würde das Bündnis sich überfordern, zu einer weiteren Eskalation beitragen und die Gefahr eines Krieges verstärken, der dann nicht mehr nur ein »kalter« wäre.

Stand heute gilt also: Die meisten NATO-Länder halten einen schnellen Beitritt der Ukraine zum Bündnis für unrealistisch. Deutschland und Amerika gelten als Bremser. Andererseits müsste eine belastbare Formel für die Sicherheitsinteressen der Ukraine gefunden werden, wenn an einer spätere NATO-Mitgliedschaft festgehalten wird. Diese Problematik könnte ein Verhandlungsthema auf der Schweizer Konferenz sein.

Ein weiteres Problem liegt darin, dass kaum ein NATO-Land noch mit der Rückgewinnung aller Gebiete rechnet, worauf die Ukraine besteht. Kiew beharrt zwar noch auf seinem Anspruch, Russlands Invasionstruppen aus allen besetzten Gebieten einschließlich der Krim zu vertreiben. Auch hier haben Teilnehmer*innen der Konferenz in der Schweiz die vorsichtige Hoffnung, dass für die Formel Land gegen Frieden eine konkrete Bewegung gefunden werden könnte.

China dringt auf eine Friedenskonferenz, an der sowohl Russland als auch die Ukraine teilnehmen. Die Sprecherin des chinesischen Außenministeriums, Mao Ning, sagte, diese Forderung sei fair und unparteiisch. Chinas Haltung richte sich nicht gegen irgendeine Partei. Es bestehe eine deutliche Lücke zwischen der Gestaltung der Konferenz und den Anforderungen Chinas sowie den allgemeinen Erwartungen der internationalen Gemeinschaft, was es ihrem Land erschwere, daran teilzunehmen, auch wenn man seit Anfang dieses Jahres mit der Schweizer Seite und anderen Beteiligten Parteien zusammenarbeite.

Die Aussichten für einen erfolgreichen Verlauf der Schweizer Friedenskonferenz sind begrenzt: Welcher Staat am Ende mit welchen Repräsentanten teilnimmt, wird erst kurz vor der Konferenz klar sein. Die Einigung in einigen Themenbereichen wie der nuklearen Sicherheit oder der Ernährungssicherheit ist möglich. Ob es für mehr reicht, bleibt offen. Klar ist aber, dass es ohne Moskau keinen Friedensprozess geben kann.

Zurück