16. November 2020 Joachim Bischoff/Gerd Siebecke

Ulf Kadritzke (21.3.1943 – 14.11.2020)

Foto: Birgit Mahnkopf

Am 14.11. verstarb überraschend Ulf Kadritzke in Berlin. Ulf ist durch die 68er-Bewegung in Westberlin entscheidend geprägt worden. Ein Romantisieren über diese frühe Protestbewegung lag ihm jedoch fern.

Als studentischer Aktivist kannte er die Strukturen der damaligen Universitäten sehr gut: »Die Universität der BRD war noch in der ersten Hälfte der 1960er Jahre ein Ort für die extreme Minderheit eines Geburtsjahrgangs. 1967 waren es noch etwa 10%; 2013 sind es über 55%. Für diese Bildungselite traten Anspruch und Wirklichkeit der Bildung durch Schule und Universität in der Nachkriegszeit schon früh auseinander.« Er sah in seinen Kommilitonen Studierende, »die nicht (nur) auf die Karriere, sondern auf Bildung durch Aufklärung bedacht waren, die Erwartungen ans Studium noch nicht mit jenen sozialen Zukunftsängsten verknüpft, die heute (teils zu Recht, teils zu Unrecht) viele empfinden.«

Ulf war damals mittendrin: Die Institution reagierte auf die »Proteste, die von der enttäuschten Liebe herrührten, hilflos und vor allem repressiv – mit Raumverboten, Kürzungen des AStA-Etats, der angedrohten Entlassung eines Assistenten, Sanktionen gegen den SDS, Disziplinarverfahren gegen Studentenvertreter*innen und der Zensur des studentischen FU-Spiegels.«

In diesen Auseinandersetzungen bildete sich seine Grundüberzeugung heraus. »Was also zählt, sind nicht vergangene Illusionen, sondern die stets von neuem erzeugte Sehnsucht nach anderen Verhältnissen. In einem der Kultfilme aus jener Zeit, Il Mercenario von Sergio Corbucci (1968), ermahnt am Schluss der zynische, aber fachkundige Söldner den populären, aber planlosen Anführer der mexikanischen Sozialrebellen: ›Träume weiter, aber mit offenen Augen.‹ Bis heute kein schlechter Rat.« (Alle Zitate aus »Von der Kritischen Universität zur Bachelor-Hochschule – und ein paar Gedanken darüber hinaus«, in: Knut Nevermann (Hrsg.) Die 68er, VSA: Verlag Hamburg 2018)

Ulf verschaffte sich zunächst die Grundlagen für das offene Träumen: Er studierte Soziologie an der FU Berlin und wurde dort zu einem wissenschaftlichen Vertreter der 68er-Bewegung. Nach dem Ende des Studiums 1968 bis zu seiner Promotion im Jahr 1974 war er wissenschaftlicher Assistent am Institut für Soziologie der FU, anschließend wissenschaftlicher Mitarbeiter am Soziologischen Forschungsinstitut Göttingen (SOFI). Von 1976 bis zu seiner Pensionierung 2008 lehrte er als Professor für Industrie- und Betriebssoziologie an der Hochschule für Wirtschaft und Recht Berlin.

Die herkömmliche Sozialwissenschaft sah er nur bedingt tauglich für Gesellschaftskritik. Niemand habe mehr von Klassen gesprochen, stattdessen seien Schichten, Kulturen, Milieus und Mentalitäten in das Zentrum der Betrachtung gerückt. Erst die zunehmende Ungleichheit und die sich ausbreitende Verunsicherung haben den Blick der Sozialwissenschaft in den letzten Jahren verstärkt auf die Mittelschicht gelenkt. Aber auch dann sei trotz der wachsenden sozialen Spaltung kaum mehr von einer Klassengesellschaft die Rede. Ulf versuchte daher, die Marxsche Kritik der politischen Ökonomie zu aktualisieren und auf die gesellschaftlichen Verhältnisse der Bundesrepublik Deutschland anzuwenden.

Klasse sei »eine Ansammlung von Menschen, die nach bestimmten, vor allem ökonomischen und sozialen Merkmalen zumindest ein gemeinsames Interesse entwickeln kann.« (Ulf Kadritzke: »Mythos ›Mitte‹. Oder: Die Entsorgung der Klassenfrage« Bertz + Fischer, Berlin 2017) Soziale Sicherheit, faire Entlohnung und gute Arbeitsbedingungen seien solche potenziell gemeinsamen Interessen. Der deutsche Sozialstaat sei nur durch harte Klassenauseinandersetzungen entstanden, was oft vergessen werde. Also gehöre zur Klasse auch, die Erfahrung gemacht zu haben, dass man sich akzeptable Arbeitsbedingungen und ein menschenwürdiges Auskommen erkämpfen muss.

Auch heute müsse man daher noch von den arbeitenden Klassen reden, selbst wenn diese in sich sehr stark differenziert ist, was mit der Modernisierung des Kapitalismus zusammenhängt. Denn durch die moderne Arbeitswelt und die differenzierten Einkommensverhältnisse verkompliziere sich die Klassenfrage. Das Entdecken gemeinsamer Interessen ist schwerer geworden und der Ort der gemeinsamen Arbeitserfahrungen ist heute nicht mehr der Großbetrieb. Stattdessen gebe es vielfältige Dienstleistungs- und Arbeitsverhältnisse. »Das zersplittert die tatsächliche Klassensituation und macht es schwer, gemeinsame Interessen zu entdecken und in eine gemeinsame Interessensituation zu überführen.«

Mit Rückblick auf die Weimarer Soziologie der Zwischenkriegszeit hatte er schon mit seinem 1975 erschienenen Buch »Angestellte – Die geduldigen Arbeiter. Zur Soziologie und sozialen Bewegung der Angestellten« (Frankfurt a.M.) darauf hingewiesen, dass bereits die damalige Forschung dahinter zurückfällt. Nach dem Ersten Weltkrieg nahm die Gruppe der Angestellten stark zu. Dieser »neue Mittelstand« sah sich eher den Handwerkern, Händlern und Gewerbetreibenden nahe als dem Proletariat. Die Soziologen Theodor Geiger, Siegfried Kracauer und Hans Speier stellten die Einheit dieser »Zwischenklasse« infrage, unterstrichen die Lohnabhängigkeit der Angestellten und betonten die innere Differenzierung der Arbeiterklasse, die aus der Vielfalt der Lohnarbeitsformen hervorging.

Die Weimarer Soziologie bezog damit eine Position zwischen der marxistisch orientierten Sozialforschung und der von ihr kritisierten »neuen Mittelstandsideologie«. Die gegenwärtige Sozialwissenschaft – so die These von Ulf Kadritzke in seinem letzten Buch über den »Mythos ›Mitte‹« – werfe nun mit ihrer Fixierung auf die Mittelschicht die Klassentheorie über Bord. Mit dieser Verengung werde die Einkommensentstehung und damit die unterschiedlichen Interessen von Arbeit und Kapital ignoriert.

Der »Mitte« komme dabei eine ideologische Funktion zu: Sie gilt als leistungswillig und ist sowohl Stütze als auch Motor der Gesellschaft. Ungleichheit werde dadurch legitimiert und die kapitalistische Produktionsweise als ihre Ursache ausgeblendet. Die bestehenden Verhältnisse werden somit nicht mehr infrage gestellt und die politische Diskussion verschiebt sich hin zur »sozialstaatlichen Einhegung« von Ungleichheit. Ulf wirft der gegenwärtigen Soziologie damit zu Recht vor, mittels »inszenierter Mittelschichtspanik« zur Bewahrung des Systems beizutragen.

Ulf argumentierte daher für die Rückbesinnung auf die Klassentheorie, die im Unterschied zu Schichtungsmodellen von den Produktionsverhältnissen ausgeht. Diese müsse durch Differenzierungslinien innerhalb der Klasse der Lohnabhängigen ergänzt werden. Eine solche Perspektive soll dazu beitragen, widersprüchliche Interessen zu beleuchten und den gemeinsamen Nenner – den Kampf um gerechten Lohn, gute Arbeit und soziale Absicherung – wieder stärker in den Vordergrund zu rücken. Dafür setzte er sich auch als Mitglied des Redaktionsbeirates der Zeitschrift PROKLA ein.

Ulf Kadritzke hinterlässt ein großes Aufgabenfeld: Nun müssen wir uns ohne ihn weiter von Illusionen trennen und die Sehnsucht nach anderen Verhältnissen stark machen.

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