28. Januar 2020 Redaktion Sozialismus: Russland auf einem Reformweg?

Umbau des politischen Systems

Michail Mischustin und Wladimir Putin (Foto: dpa)

Das neue Jahr in Russland hat mit einer politischen Überraschung begonnen: Die gesamte Regierung trat zurück und Präsident Wladimir Putin schlug in seiner Rede an die Nation eine Reform der Machtverhältnisse auf höchster Ebene vor.

In der politischen Öffentlichkeit des Westens dominierte eine Deutung: Die von Putin vorgeschlagene radikale Verfassungsreform diene nicht der Liberalisierung des politischen Lebens. Sie sei vielmehr ein Kniff, mit dem die Kremlführung die Macht in ein neues Gewand hüllen will, ohne sie abgeben zu müssen. Über der Reform stehe das Motto, dass sich eben alles ändern müsse, wenn alles so bleiben soll, wie es ist.

Schon die Inszenierung verstörte die politischen Klassen der kapitalistischen Länder. Das russische Volk fordere Veränderungen, erklärte der russische Präsident im Fernsehen. Bereits in zweiter Lesung wird das Parlament am 11. Februar die Verfassungsänderungen behandeln. In erster Lesung gingen sie Vorschläge schon nach acht Tagen in der Duma einstimmig durch.

Die wichtigsten Änderungen: Ein Präsident soll nur noch zwei Amtszeiten absolvieren dürfen, die Rolle des Staatsrates wachsen und das Verfassungsgericht von 19 auf 11 Richter verkleinert, doch mit größeren Befugnissen versehen werden. Eine Volksabstimmung über die Änderungen ist angekündigt.

Putins Vorschläge für die Reform einzelner Verfassungsparagrafen zielen auch auf die Stärkung des bislang wenig beachteten Gremiums, des sogenannten Staatsrats. Dieses bereits im Jahr 2000 eingerichtete Organ umfasst die Vorsitzenden der Parlamentskammern, die Gouverneure der Regionen, die Bevollmächtigten des Präsidenten in den föderalen Kreisen und die Fraktionschefs der Duma. Derzeit besitzt es keinen Verfassungsrang und auch keine klar definierten Befugnisse.

Zum neuen Ministerpräsidenten ernannte Putin den bisher kaum bekannten Michail Mischustin, bisher Chef der russischen Steuerbehörde. Dessen neue Ministerriege besteht überwiegend aus Personen, die ebenfalls wenig bekannt sind – mit Ausnahme von Außenminister Sergej Lawrow, Verteidigungsminister Sergej Schoigu und Finanzminister Anton Siluanow.

Die 27 Männer und Frauen sind »Technokraten«, die in den vergangenen 20 Jahren in Ministerien, Regierungsbehörden und staatlichen Unternehmen tätig waren. Der Präsident behält die volle Macht über die Außenpolitik, das Militär, die Polizei und diverse Sicherheitsdienste. Da Lawrow, Schoigu und auch der Innenminister und Polizeichef Wladimir Kolokolzew im Amt bleiben, wird sich die russische Außen- und Sicherheitspolitik nicht ändern.

Zu Beginn seiner Rede ging Putin auf die Verhältnisse in Russland ein: Das Land könne nur dann seine historische Aufgabe und Größe erhalten, wenn es der Bevölkerung gutgehe und diese kontrolliert wachse. Dafür präsentierte er detailliert Maßnahmen zur Förderung der Geburtenrate, Erleichterungen für junge Familien und Anordnungen, die zur Erhöhung der Einkommen führen sollen. Es sind Themen, die den Bürgern unter den Nägeln brennen und die angekündigten Maßnahmen sollen dem Land und seiner neuen Regierung Schwung geben.

Das neu gebildete Kabinett von Premier Michail Mischustin soll bis zum 20. Februar Vorschläge zur Verbesserung der Lage präsentieren. »Wir müssen schneller die großen sozialen, wirtschaftlichen, technologischen Aufgaben lösen, vor denen das Land steht«, drängte Putin und fordert eine effizientere Umsetzung der nationalen Ziele.

Zahlreiche langjährige Minister und Funktionäre mussten gehen, weil sie zu wenig dafür taten, die von der Bevölkerung eingeforderte und vom Präsidenten immer wieder angekündigte Verbesserung der Lebensumstände, Einkommen und sozialen Verhältnisse zu realisieren. Mischustin erklärte dies jetzt zur Priorität und machte die Minister persönlich verantwortlich für die Fortschritte der so ambitiösen wie umstrittenen Vorhaben. Putin erwartet von dem effizienten Steuereintreiber Erfolge für das ganze Land – auch mit Blick auf die nächsten Parlamentswahlen.

Bei einem Treffen mit der neuen Regierung erklärte der Präsident: »Das alles sind erreichbare Ziele«, die die bisherige Regierung nur zögerlich angegangen habe. Nicht nur der unbeliebte Premierminister Dmitrij Medwedjew ist aus dem Rampenlicht verschwunden, auch Reizfiguren wie der ultrakonservative Kulturminister Wladimir Medinskij und Vizeregierungschef Witali Mutko, der zur Hochzeit des staatlich gesteuerten Dopings in Russland Sportminister war, mussten gehen.

Zudem soll die neue Regierung ein altes Problem des Präsidenten lösen: Sie soll dessen »Nationale Projekte« in Gang bringen und endlich das Wirtschaftswachstum ankurbeln, das seit Jahren besorgniserregend niedrig ist. Putin will riesige staatliche Investitionsprojekte realisiert sehen, von denen er seit fast 15 Jahren spricht. Nun sollen bis 2024 insgesamt umgerechnet etwa 375 Milliarden Euro in verschiedene Bereiche fließen.

Der neu für Wirtschaftspolitik zuständige Erste Stellvertretende Ministerpräsident Andrei Belousow, bisher Putins Wirtschaftsberater, ist einer der Erfinder dieser nationalen Projekte. Er gilt als ausgabenfreudig und interventionistisch, übernimmt die Verantwortung für die Wirtschaftspolitik von Anton Siluanow, der Finanzminister bleibt. Dieser hatte zusammen mit der Zentralbank eine restriktive Haushalt- und Geldpolitik betrieben.

Russland kommt wirtschaftlich seit Jahren nicht vom Fleck. Für das vergangene Jahr 2019 rechnet das Wirtschaftsministerium mit einem Wachstum von nur gerade 1,3%. Gleichzeitig stagnierten die Einkommen, und die Zahl der Bedürftigen nahm leicht zu. Putins jetzt wiederholtes Ziel, dass die Wirtschaft jährlich stärker wachsen soll als die Weltwirtschaft, lässt sich unter den gegebenen Umständen nicht erreichen. Gleichzeitig anerkennen Ökonomen die stabile Haushaltslage mit einem gewaltigen Haushaltsüberschuss, den andere zugleich durch die absehbar größere Ausgabenfreudigkeit in Gefahr sehen.

Russlands Wirtschaft wurde neben den strukturellen Problemen im vergangenen Jahr von den Nachwehen der internationalen Finanzkrise, dem gesunkenen Erdölpreis und den Sanktionen des Westens gebeutelt.

Seit 2013 ist das real verfügbare Einkommen der Russen um rund 10% gefallen. Neben zu hohen Steuern (u.a. einer Erhöhung der Mehrwertsteuer um 2%), die die Kaufkraft der Bürger schwächen, ist vor allem die einschneidende Erhöhung des Rentenalters eine Quelle der Unzufriedenheit seitens der Bevölkerung. Die meisten müssen nun fünf Jahre länger arbeiten, bevor sie ihre Renten bekommen. Diese Entwicklungen lasten auf den Popularitätswerten des Präsidenten.

Auch wenn fast alle Russen arbeiten und die offizielle Arbeitslosenquote mit unter 6% niedrig ist, reicht oft reicht eine Arbeitsstelle alleine nicht aus, um den Lebensunterhalt zu bestreiten. Viele Russen halten sich mit Schwarzarbeit über Wasser, arbeiten als Fahrer, reparieren Autos, vermieten ihren Garten als Parkplatz oder bauen Gemüse im Garten der Datscha an, um sich über Wasser zu halten.

Diese Grauzone der Schattenwirtschaft macht nach Berechnungen des Internationalen Währungsfonds (IWF) mehr als ein Drittel der russischen Wirtschaft aus. Der Staat hat bereits einige Anläufe unternommen, diese Jobs in steuerpflichtige, offizielle Arbeit umzuwandeln. Allerdings retten sich vielen Russen mit den Nebenverdiensten vor der Armut. Auch deswegen stützt sich der Staatshaushalt vor allem auf die Mehrwertsteuer – und aufs Öl.

Zudem war Russland 2015 – nicht zuletzt aufgrund des starken Zerfalls des Erdölpreises – in eine Rezession geschlittert, von der sich das Land noch immer nicht wirklich erholt hat. Hinzu kommen die Folgen der Sanktionen und Gegensanktionen infolge der Ukraine-Krise.

Der Handel und die Zusammenarbeit mit internationalen Investoren und Unternehmen sind seither paralysiert, was sich in bescheidenen Wachstumsraten der Wirtschaft ausdrückt. Der IWF prognostiziert vor diesem Hintergrund, dass Russland in den nächsten Jahren nicht mehr als 2% wachsen wird. Allerdings bewegt sich die Inflation, die in der Krise 2015 die Notenbank zu einer drastischen Zinserhöhung zwang, wieder in normalen Gefilden. Aktuell ist sie Inflation so tief wie noch nie seit dem Ende der Sowjetunion. Sie gibt der Notenbank einen großen Spielraum, um mit einer Zinssenkung die Wirtschaft in Gang zu bringen und durch niedrigere Zinsen den Immobilienmarkt zu stabilisieren und private Firmen mit Krediten zu versorgen.

Hohe Zinsen belasten vor allem junge Leute, die sich eine Wohnung kaufen wollen, denn vor allem in den großen Städten fehlt es an Wohnraum. Bei Hypothekarzinsen von über 10% können sich nur die wenigsten einen Kredit leisten, um eine eigene Wohnung zu finanzieren. Mietwohnungen gibt es in Russland immer weniger, nach dem Ende der Sowjetunion wurden den Bewohnern ihre Wohnungen als Privateigentum überlassen. Viele junge Russen leben noch bei ihren Eltern.

Russische Waren werden häufig nicht exportiert und haben auch in der Bevölkerung einen miserablen Ruf. Für den Export ist das Land fast ausschließlich auf den Energiesektor angewiesen. Seit sich die Preise von Gas und Erdöl erholt haben, ist auch die russische Wirtschaft wieder stärker geworden. Und dank dem höheren Ölpreis ist der Rubel wieder erstarkt, der russische Staat konnte wichtige Fremdwährungsreserven bilden.

Allerdings könnten die Ölpreise jederzeit wieder sinken, insofern muss die russische Regierung versuchen, sich vom Erdöl und den anderen Rohstoffen zu emanzipieren sowie eigenständige Wertschöpfungsketten entwickeln. Auch ausländische Investitionen wären erforderlich, bei denen sich viele Unternehmen wegen der herrschenden Unsicherheit und Sanktionen zurückhalten. Insofern steht die neue Regierung steht auch in dieser Hinsicht vor gewaltigen Herausforderungen für die geplanten Erneuerungen.

Eine Lockerung der westlichen Sanktionen würde es Russland erlauben, vor allem wieder mehr Technologie einzukaufen, auf die das Land angewiesen ist, will es die Abhängigkeit als Rohstofflieferant durchbrechen. Für die Modernisierung der russischen Wirtschaft wäre das ein enormer Schritt.

Allerdings prognostiziert auch die Weltbank dem Land in den kommenden Jahren ein schwaches Wachstum. Ein Eintrüben der Weltwirtschaft und fallende Erdölpreise könnten die angedachten Reformschritte rasch stoppen. Schon jetzt zahlt vor allem die Bevölkerung den Preis für die Abschottung Russlands.

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