23. Juli 2024 Bernhard Sander: Koalitionsverhandlungen in Belgien

Unregierbarkeit als Dauerzustand

Während in Frankreich Koalitionsverhandlungen als obszöner Akt gelten, stellen sie in Belgien eine hohe Kunst dar, die ihre Protagonisten in höchste internationale Würden führen kann. Nach dem Wahlsieg bei den Bundeswahlen beauftragte der König Bart de Wever, den Chef der N-VA (Neue Flämische Allianz), die Möglichkeiten zu sondieren.

Nach Abschluss der Regierungsbildung in den beiden großen Teilstaaten Wallonie und Flandern zeichnet sich wahrscheinlich auch für die Bundesregierung eine Einigung ab. Die fünf Parteien, die auf föderaler Ebene zusammen eine Regierung bilden wollen, haben offiziell ihre Koalitionsverhandlungen aufgenommen. Geht es nach Regierungsbildner De Wever, dann sollte diese »Arizona-Koalition« gegen Mitte September stehen.

Die Startbedingungen werden den Kurs diktieren: Bei unveränderter Politik würde das jährliche Haushaltsdefizit in den nächsten Jahren von heute 26 auf 46 Mrd. Euro anwachsen. Heute beläuft sich der Fehlbetrag auf 4,4% des Bruttoinlandsproduktes, in fünf Jahren wären das dann 6,2%. Das ist mehr als doppelt so viel wie es die EU-Kommission erlaubt. Die hatte ja schon ein Defizit-Strafverfahren gegen Belgien eingeleitet. Wenn Belgien sein Defizit unter die 3%-Grenze drücken will, müssen allein dafür bis 2029 rund 28 Mrd. Euro gefunden werden. Die neue Regierung wird also rigoros gegensteuern müssen.

Die Europäische Kommission hatte bereits der scheidenden belgischen Bundesregierung deutlich zu verstehen gegeben, wie das tiefe Haushaltsloch gestopft werden muss. Dabei stehen zwei Wege zur Auswahl, um mindestens 23 Mrd. Euro einzusparen: ein Weg über vier Jahre und einer über sieben Jahre.

Dieses europäische Sparprogramm wird mit Sicherheit Einfluss auf die Regierungsbildung haben. Wenn sich Belgien für den 4-Jahres-Weg entscheidet, dann müssen pro Jahr 0,72% des Brutto-Inlandsprodukts (BIP) eingespart werden. Der 7-Jahres-Weg kann gestaffelt werden. In den ersten drei Jahren wären 0,5% des BIP einzusparen, im vierten Jahr 0,59% des BIP und in den letzten drei Jahren jeweils 0,42% des BIP.

Die Frage lautet, ob die Einschnitte auch etwas geringer ausfallen könnten, wenn das Wirtschaftswachstum mal nicht steigen würde oder wenn, was durchaus möglich sein kann, das belgische Haushaltsdefizit noch größer wird. Aktuell beträgt es 4,4% des BIP. Auch der belgische Schuldengrad ist für die Union mit 106% deutlich zu hoch.

De Wever führt Gespräche mit den flämischen Christdemokraten CD&V, mit den flämischen Sozialisten Vooruit, mit der frankophonen Zentrumspartei Les Engagés und mit den frankophonen Liberalen MR. Er hatte zum Auftakt fünf Eckpunktpapiere für die von ihm identifizierten Kernthemen, nämlich Beschäftigung, Gesundheit, Migration, Innere Sicherheit und Verteidigung vorgelegt. Es handelte sich noch nicht um den Versuch einer Synthese, sondern die Eckpunktpapiere stammten einzig und allein von der N-VA. Kritik kam vor allem von den flämischen Christdemokraten und ihrem wallonischen Pendant, die sich in »Les Engagés« umbenannt haben und im EP von der EVP-Fraktion zu renew gewechselt sind.

Die einzige links von der Mitte stehende Partei im anvisierten Bündnis sind die flämischen Sozialdemokraten von Vooruit. Ihr Vorsitzender hatte – pünktlich zum Auftakt der Verhandlungen – in der Zeitung De Tijd einen Gastbeitrag veröffentlicht. Darin übte er scharfe Kritik an den EU-Haushaltsregeln. Seine These: Ein übertriebener Sparkurs würgt die Wirtschaft ab. Strategische Investitionen sind nötig, vor allem mit Blick auf die Energiewende, aber – damit verbunden – auch, um den Wohlstand und die Wettbewerbsfähigkeit langfristig zu sichern.

Und weil diese Investitionen von so tragender Bedeutung sind, sollte man sie notfalls aus den laufenden Haushalten herausrechnen bzw. ausklammern. »Es gibt zum Beispiel viele Investitionen, die im Schienenverkehr notwendig sind. Wenn wir mehr in Infrabel investieren, werden sich diese Investitionen auch 1, 2 sogar 3 mal auszahlen. Aber diese Investitionen können wir nicht sofort ausgleichen. Deshalb setzen wir sie am besten außerhalb der Haushaltsziele, damit wir sie nicht ungesund machen.«

Das zweite Konflikt-Thema ist der Migrationskomplex. Das Eckpunktepapier dazu lese sich quasi wie ein Auszug aus dem N-VA-Programm, beklagen Vooruit und Les Engagés. Die Vorschläge, die De Wever da formuliere, würden problemlos den rechtsextremen Vlaams Belang zufriedenstellen, heißt es da. Ähnlich wie bei Geert Wilders in den Niederlanden soll nach den Vorstellungen de Wevers eine Ausstiegsklausel vereinbart werden, die EU-Verträge zum Thema Asyl und Migration schlicht und einfach zu verlassen. Geleitet wird die Arbeitsgruppe Migration vom ehemaligen N-VA-Asylstaatssekretär Theo Francken, der als Hardliner gilt.

Dritter Konflikt in den Augen der Sozialdemokraten: »Wir werden sowieso noch das Gleichgewicht in den Texten finden müssen. Ein Gleichgewicht zwischen einer neuen Sozialpolitik, die wir wollen, und der Politik, die N-VA und CD&V fortsetzen wollen.[ …] Es muss reformiert werden, aber was Europa uns auferlegt, ist einfach zu extrem. Wir müssen noch in die Generation von morgen investieren können.«

In dieser Situation kommt der Druck durch die Einigung in den autonomen Teilrepubliken. In der Wallonie ist die liberale MR stärkste Kraft geworden und Les Engagés haben ein respektables Ergebnis erzielt, beide gehen eine Koalition ein. Die sozialistische PS hingegen, die den französischsprachigen Teil seit den 1980er Jahren regiert hatte, musste deutlich Federn lassen und in die Opposition wechseln. In zehn Jahren wollen die Regierungspartner die Schulden der Wallonie von zurzeit rund 40 Mrd. Euro abgebaut haben. Die Hälfte soll am Ende der jetzt gerade beginnenden Legislatur erreicht sein.

Steuererhöhungen soll es dafür aber nicht geben. Die Koalitionäre wollen die Steuern erheblich senken, insgesamt um 1,5 Mrd. Euro in den nächsten zehn Jahren. »Die größte Senkung aller Zeiten in der Wallonie«, laut den Parteivorsitzenden. Die Erbschaftssteuer soll in der Wallonie halbiert werden, die Registrierungsgebühren bei der ersten Immobilie, die man sich kauft, von 12,5% auf 3% fallen.

Finanziert werden soll dies durch Verwaltungsreformen. Die Zahl der Minister der wallonischen Regierung soll von 13 auf 10 sinken, Verwaltungseinheiten zusammengelegt werden.[1] Auch die Provinzräte sollen abgeschafft und durch eine Versammlung der Bürgermeister aus den Gemeinden ersetzt werden, die in den Provinzen liegen.

Zweiter Finanzierungsansatz: Eine Reform der autonomen wallonischen Arbeitsverwaltung und auf föderaler Ebene eine zeitliche Begrenzung der Arbeitslosigkeit. Wer länger als zwei Jahre arbeitslos ist, soll keine Unterstützung mehr erhalten. Auf Unverständnis trifft die Ankündigung einer Autobahnvignette. Der Automobilclub Touring hat sich klar dagegen ausgesprochen und empfiehlt stattdessen ein einheitliches Maut-System für das ganze Land.

»Die kommenden fünf Jahre werden die wichtigsten in der Geschichte der Wallonie. Wir stehen an einem Wendepunkt. Unsere Region hat alle Voraussetzungen, um wieder ein bedeutender Akteur in Europa zu werden«, sagte MR-Vorsitzender Georges-Louis Bouchez.

In Flandern lief bisher die Regierungsbildung zwischen den Vooruit-Sozialdemokraten, (die erhebliche Zugewinne zu verzeichnen hatten), den Christdemokraten und der NVA weniger zügig. Der Pflege- und Gesundheitssektor sind seit Jahrzehnten eine Domäne der christlichen »Säule«. Vooruit und die N-VA wollen in den komplexen Strukturen aufräumen. Einigkeit besteht darin, dass die langen Wartelisten für Pflegeplätze in so ziemlich allen Bereichen verkürzt werden sollen, auch wenn in Flandern haushaltstechnisch gespart werden muss.

Ein wunder Punkt in Flandern ist die Mobilität bzw. der öffentliche Nahverkehr. Bei der letzten Fahrplanreform der regionalen flämischen Verkehrsgesellschaft De Lijn wurden rund 3.000 Haltestellen vor allem in ländlichen Regionen gestrichen, und auf kleinen Strecken wurden fahrplanmäßig verkehrende Busse durch Bedarfsbusse ersetzt, die entweder nicht fahren oder die den Bedürfnissen nicht entsprechen. Das forciert soziale Unterschiede in der Mobilität, bei der finanziell schwache Menschen durch einen schlechteren ÖPNV oder durch Probleme wegen Umweltzonen für ältere Autos mit Verbrennermotor benachteiligt werden, während Wohlhabenderen Ankaufprämien über 5.000 Euro für E-Autos gewährt werden. Das Vorhaben der scheidenden Landesregierung, in Flandern schon ab 2029 nur noch E-Autos neuzuzulassen, statt 2035, wie die EU vorgibt, wird wohl gecancelt.

Im Bereich Bildung und Schule stehen gleich mehrere Punkte zur Debatte: Dazu gehört die mögliche Einführung von Lernvorschriften im Kindergarten (das verpflichtete Erlernen von Grundkenntnissen in der Landessprache Niederländisch ab drei Jahren). Eine Senkung der Schulpflicht, die in Flandern bis zu einem Alter von 18 Jahren liegt, vermindert die Bildungskosten. Doch ganz obenan steht eine Forderung der Sozialisten: »Keine hungrigen Kinder in den Klassen!« Doch sowohl die CD&V, als auch die N-VA sind der Ansicht, dass man die Schulen im belgischen Bundesland Flandern nicht dazu verpflichten könne, Mahlzeiten kostenlos anzubieten.

Gewarnt durch den Bedeutungsverlust zugunsten einer neuen Bauern-und-Bürger-Bewegung im Nachbarland betonen die konservativen Christdemokraten CD&V das ländliche Flandern und damit verbunden die Landwirtschaft. Sie wollen, dass den Bauern wieder mehr Raum zugestanden wird, um ihren Beruf auszuüben. Das betrifft EU-Vorgaben zum Landschaftsschutz (das Renaturierungs-Gesetz) und die strengen Ausstoßnormen für Stickstoff (bei dem die N-VA-Umweltministerin in der Vergangenheit sehr streng war).

Ebenso wichtig ist auch die Finanzierung der (ländlichen) Gemeinden. Bisher sieht der sogenannte Gemeindefonds pro Jahr drei Mrd. Euro vor, doch noch erhalten die großen Städte proportional zu ihrer Bevölkerungszahl in Flandern viel mehr Geld, als die kleineren Gemeinden und die Dörfer. Dieses Geld müsse gerechter verteilt werden. Die Sozialdemokraten bestimmen in Flandern zwar die Themen-Agenda, es ist aber fraglich, ob sie der neuen Regionalregierung auch ein sozialdemokratisches Profil vermitteln können, da für alle die Haushaltsdisziplin einen hohen Wert darstellt.

Wenn De Wever, der die Verhandlungen auf Bundesebene bis zum 20. September über die Bühne bringen will, seine Arbeitsmethode nicht ändert, wenn er nicht konsequenter die Schnittmengen in den Blick nimmt, dann wird's am Ende vielleicht auch auf der Bundesebene noch ein langer Herbst.

Anmerkung

[1] Eigentlich ist Belgien unregierbar und eine Beute für Sinekuren-Jäger. In Flandern gab es bis in die 1980er-Jahre zwei Regierungen, die so noch in der Wallonie fortexistieren: »Die wallonische Regionalregierung vertritt das ganze Gebiet der Wallonie, die Gemeinschaftsregierung ist für die Gebiete zuständig, wo Französisch gesprochen wird (also sowohl die Wallonie als auch Brüssel). Wirtschaft, Wohnungswesen und Transport sind einige Zuständigkeitsbereiche der Regionalregierung. Bildung und kulturelle Angelegenheiten sind wichtige Zuständigkeitsbereiche der Gemeinschaft.« So schildert das belgische Staatsradio die bizarre Lage.

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