8. August 2022 Otto König/Richard Detje: In Lateinamerika kehrt die Linke zurück

USA verlieren an Einfluss in ihrem »Hinterhof«

In Lateinamerika haben sich die Kräfteverhältnisse erheblich verschoben. In Bolivien, Argentinien und Honduras sind linke Parteien an die Macht zurückgekehrt. In Mexiko regiert seit 2018 der linksgerichtete Präsident López Obrador und in Peru seit Juli 2021 der linke Gewerkschafter Pedro Castillo.

Nachdem der ehemalige Studentenführer Gabriel Boric im November 2021 in Chile und der Ökonom und Ex-Bürgermeister von Bogotá, Gustavo Petro, im Juni 2022 in Kolumbien als Gewinner aus den Präsidentschaftswahlen hervorgegangen sind, hat sich die politischen Landkarte Lateinamerikas weiter rot eingefärbt. Diese Entwicklung würde komplettiert, sollte der Ex-Präsident und Kandidat der Arbeiterpartei, Lula da Silva, im November in Brasilien einen Wahlsieg erringen. Nur Ecuador, Paraguay und Uruguay würden dann noch fehlen.

Die Verschiebung der politischen Gewichte auf dem lateinamerikanischen Subkontinent wurde jüngst beim Streit um den 9. Amerikagipfel (»Summit of the Americas«) – einem der wichtigsten Treffen für Lateinamerika und die Karibik – offenkundig. Die wachsende Entfremdung zwischen den USA und den Regierungen in Mittel- und Südamerika schien bereits bei den Kontroversen um die Einladungspolitik der US-Regierung Biden auf.

Mit der Begründung, am Gipfel könnten nur demokratisch legitimierte Regierungen teilnehmen, wurden Nicaragua, Venezuela und Kuba nicht eingeladen. 2015 und 2018, bei den beiden letzten Gipfeln, schien dieses Dilemma zumindest teilweise überwunden: Damals luden die jeweiligen Gastgeberländer Panama und Peru Kuba ein. Die »Nicht«-Einladung in die USA wurde in vielen Hauptstädten auf dem Subkontinent als diplomatischer Affront aufgefasst.

Das Weiße Haus setze nach wie vor auf US-Vorherrschaft in ihrem »vermeintlichen Hinterhof«. Die US-Regierung habe »nicht die geringste Ahnung von den Entwicklungen in der Region«, die »in mehreren Ländern die Wahrnehmung drastisch verändert haben, indem deren Regierungen erkannten, dass der Niedergang der USA unumkehrbar ist und wir den Beginn einer neuen geopolitischen Ära erleben«, kommentierte die argentinische Tageszeitung Página 12.

Zwar fand der Versuch des US-Präsidenten, eine »nachhaltige, widerstandsfähige und gerechte« Zukunft für den amerikanischen Kontinent aufzubauen und damit ein Gegengewicht zum wachsenden Einfluss Chinas in der Region zu schaffen, nicht vor leeren Stühlen statt. Doch aus Bolivien, Honduras, Mexiko, Guatemala, El Salvador und Uruguay waren statt der Präsidenten nur die Außenminister und einige Regierungsbeamte der unteren Ebenen angereist. Fern blieben dem Treffen gleich mehrere Karibikstaaten.

»Wir sind der Meinung, dass niemand das Recht hat, einen anderen auszuschließen. Wir akzeptieren das Prinzip der Intervention nicht, um einseitig zu bestimmen, wer kommt und wer nicht kommt«, fasste Mexikos Außenminister Marcelo Ebrard die Haltung der Regierungen zusammen. Stattdessen forderte er das Ende der »jahrzehntelangen unmenschlichen US-Blockade gegen Kuba«.

Auch der argentinische Präsident Alberto Fernández bekräftigte in Los Angeles, dass der Gastgeber dieses Gipfeltreffens nicht das Recht habe zu entscheiden, wer teilnimmt oder nicht. Argentinien hätte sich einen nicht beschränkten Amerikagipfel gewünscht, erklärte der Staatschef, und forderte die Aufhebung der »Zwangspolitik, die den Völkern der Region Leid zufügt«. Wie die kubanische Agentur »Prensa Latina« konstatierte, hatten von 32 Rednern nur die rechten Präsidenten Brasiliens, Jair Bolsonaro, und Kolumbiens, Iván Duque, die Angriffe Washingtons auf die drei ausgegrenzten Länder unterstützt.

Nie zuvor wurde eine so breit getragene Kritik an der sanktionierenden und ausschließenden Politik der USA geäußert. Während Biden einen Aufbruch in den Beziehungen zwischen USA und Lateinamerika beschwor, verlangten die Gäste im US-Bundesstaat Kalifornien nach Kooperation ohne Einmischung. »Wenn wir heute zusammenkommen, in einer Zeit, in der die Demokratie in der ganzen Welt angegriffen wird, sollten wir uns vereinen und unsere Überzeugung erneuern, dass die Demokratie nicht nur das bestimmende Merkmal der amerikanischen Geschichte ist, sondern auch ein wesentlicher Bestandteil der Zukunft Amerikas.«

Joe Bidens Plädoyer für »demokratische« Werte bei der Eröffnungszeremonie stießen jedoch auf große Skepsis: Weder die frühere und jüngste Geschichte der Vereinigten Staaten noch ihre Handlungen auf dem Subkontinent deuten darauf hin, dass Demokratie oder die Achtung der Menschenrechte echte Prioritäten der US-amerikanischen Außenpolitik in der Region sind.

Während die USA in Europa als Befreier und Schutzmacht gelten, ist das Bild in Lateinamerika deutlich differenzierter. Sie werden als imperialistische Großmacht wahrgenommen, die vor der Gewaltanwendung zur Durchsetzung eigener egoistischer Interessen nicht zurückschreckt. Die Erinnerungen daran, wie mithilfe der Washingtoner Administration immer wieder progressive Regierungen gestürzt wurden, prägt das Geschichtsbewusstsein in Südamerika bis auf den heutigen Tag. Schließlich waren viele Länder Schauplätze von Stellvertreterkriegen – von Guatemala bis Chile –, deren Bevölkerungen dafür einen hohen Blutzoll zahlten.

Ein Hauptthema der Konferenz-Agenda im Juni in Los Angeles war die Migration. Dabei bestand das vorrangige Interesse der USA darin, die Kooperation der Länder zu gewinnen, um die Migrationsströme zu bremsen. Es sollte darum gehen, die Regierungen der Region bei der Bewältigung der drängenden Herausforderungen in der Migrationskrise zu vereinen. Doch dies wurde nicht erreicht: Eine von den USA vorgelegte »gemeinsame Erklärung zur Migration« wurde nur von 20 der 35 Länder des Kontinents gebilligt.

Joe Biden hatte für seinen Entwurf mit dem Versprechen geworben, »die Lebensbedingungen in den Herkunftsländern zu verbessern und die legale Arbeitsmigration zu erleichtern«, doch zugleich angekündigt, mit dem Abkommen »eine engere Zusammenarbeit von Strafverfolgungsbehörden und Geheimdiensten« anzustreben. In einer Situation, in der sich in Mexiko gerade rund 10.000 Migrant*innen zum Marsch in Richtung US-Grenze aufgemacht hatten, wirkte dies kontraproduktiv.

Die lateinamerikanischen Regierungen signalisierten in Los Angeles selbstbewusst, dass sie nicht länger der Hinterhof der USA seien, sondern gleichberechtigt mitreden wollen. In der Zeitschrift Foreign Affairs wurde dazu unlängst das Schlagwort »post-amerikanisches Lateinamerika« geprägt. Die geopolitische Neustrukturierung der internationalen Politik nehmen viele Staaten als Chance wahr, eine neue strategische Relevanz zu gewinnen, mit der sich die strukturelle Schwäche der Region auf globaler Bühne überwinden lässt. Sie entwickeln eine spürbar eigenständigere Außenpolitik und suchen sich zwischen atlantischer Einbindung und Seidenstraßen-Konnektivität ihren jeweils eigenen Weg.

Dies geht einher mit einem Politikverständnis, dass eine hinreichende Distanz zu den Großmächten garantiert, so dass deren Rivalität nicht auf amerikanischem Boden ausgetragen wird. Den Druck, sich zu einem bestimmten Lager zu bekennen, weisen die Staaten der Region entschieden zurück – sie wollen ihre eigene Autonomie nicht durch Parteinahme beeinträchtigen. Aus dem Streben nach größerer Eigenständigkeit erklärt sich auch das Vorhaben Argentiniens, dem BRICS-Bündnis (Brasilien, Russland, Indien, China, Südafrika) beizutreten.

»Lateinamerikas Staatschefs suchen händeringend wirtschaftliche Hebel, um die Krise durch die Pandemie hinter sich zu lassen«, sagt Eric Farnsworth vom Council of the Americas and the Americas Society. »Als Partner schielen sie dabei mehr auf China, das seine Präsenz ausbaut, als auf die USA, die die ihre abbauen.« In Brasilien, Chile und Peru ist China inzwischen der wichtigste Handelspartner. Seit 2005 vergab Peking Kredite im Volumen von 141 Mrd. US-Dollar an die Region – mehr als die Weltbank und die Interamerikanische Entwicklungsbank zusammen. Im Jahr 2021 erreichte der Handel zwischen der Volksrepublik und Lateinamerika ein Volumen von 450 Mrd. US-Dollar. Er könnte laut Schätzungen bis 2035 weiter auf 700 Mrd. US-Dollar steigen.[1]

Die Regierungen haben ein strategisches Interesse daran, chinesische Kredite und Investitionen zu erhalten und Rohstoffe und Nahrungsmittel auch künftig an die Volksrepublik und Russland zu liefern. So hat beispielsweise kein einziges Land des Subkontinents aufgrund des Ukrainekrieges – der als europäisches Problem gesehen wird – Sanktionen gegen Russland verhängt.

Doch nicht nur die USA, sondern auch Deutschland und der EU drohen in Lateinamerika weiter an Einfluss zu verlieren, wie aus den Wirtschaftsdaten einer aktuellen Analyse der Berliner Stiftung Wissenschaft und Politik (SWP) hervorgeht.[2] Die Europäischen Staaten verzeichnen trotz langjähriger Präsenz in der Region deutliche Positionsverluste bei Handel und Investitionen. Die Ratifizierungsverfahren für die Assoziation der EU mit dem Mercosur und für die Modernisierung der Verträge mit Mexiko und Chile stagnieren. Dies bildet keinen hilfreichen Kontext, um das Handeln eines geopolitisch aufgestellten Europas zu befördern.

Die Teilnehmer*innen des parallel zu dem offiziellen OAS-Treffen von rund 250 zivilgesellschaftlichen Organisationen aus den USA und Lateinamerika organisierten alternativen »Gipfel der Völker für Demokratie« (»People's Summit for Democracy«) stellten in ihrer abschließenden Erklärung fest: Der letztlich gescheiterte »Amerikagipfel« habe gezeigt, dass die USA der »gefährlichen Illusion« erliegen, sie könnten »ihre Hegemonie in der Welt aufrechterhalten«, womit sie »die Menschheit und den Planeten« gefährden.

Weiter heißt es in der Erklärung: »Wir werden das Recht der Menschen verteidigen, sich zu organisieren und ihre Stimme zu erheben, echte Demokratie aufzubauen – eine Volksdemokratie – in einem Klima, das von Zensur und Entrechtung geprägt ist. Wir werden Wahlrechte und die Rechte der Arbeiter schützen, Gewerkschaften zu gründen und Tarifverhandlungen zu führen. Wir werden alle Fortschritte zugunsten der Bürger- und Menschenrechte schützen, die von unseren Bewegungen im Lauf der Geschichte errungen wurden, wie das Menschenrecht der Frauen, über ihren Körper zu bestimmen. Wir werden Mutter Erde verteidigen und gegen Extraktivismus und die Ausbeutung von Grund und Boden kämpfen.«

Anmerkungen

[1] Diana Roy: China’s Growing Influence in Latin America. cfr.org 12.4.2022.
[2] Günther Maihold: Amerika-Gipfel mit hemisphärischen Divergenzen. Warum Lateinamerika auf Unabhängigkeit setzt und was das für Europa bedeutet. SWP-Aktuell 2022/A 42. Berlin, 7.7.2022.

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