18. Juli 2018 Otto König /Richard Detje: NSU-Prozess: viele offene Fragen

Verdunkelt, verschleiert, geschreddert

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Enver Simsek, Abdurrahim Özüdogru, Süleyman Tasköprü, Habil Kilic, Michèle Kiesewetter, Mehmet Turgut, Ismail Yasar, Theodoros Boulgarides, Mehmet Kubasik, Halit Yozgat. Namen, die für traumatisierte Familienangehörige, erschütterte Freunde und Kollegen stehen.

Alle zehn Mitbürger*innen – neun Gewerbetreibende türkischer und griechischer Herkunft und eine deutsche Polizistin – wurden am helllichten Tag an ihrer Arbeitsstätte ermordet.

Ihre Mörder, Uwe Böhnhardt und Uwe Mundlos, waren Neonazis, die neben diesen Morden für drei Bombenanschläge und 15 Raubüberfälle verantwortlich sind. Dies geschah unter Beobachtung und Obhut von V-Leuten, während die Opfer und deren Angehörige von den Sicherheitsbehörden selbst unter Verdacht gestellt wurden.

Nach fünf Jahren und zwei Monaten – am 438. Prozesstag – verkündete der Vorsitzende Richter Manfred Götzl des Staatsschutzsenats am Münchner Oberlandesgericht (OLG) die Urteile im Prozess gegen den »Nationalsozialistischen Untergrund« (NSU). Die Hauptangeklagte Beate Zschäpe wurde zu einer lebenslangen Haftstrafe verurteilt. Götzl stellte die besondere Schwere der Schuld fest. Damit ist eine vorzeitige Haftentlassung nach 15 Jahren rechtlich zwar möglich, in der Praxis aber so gut wie ausgeschlossen. Nach Überzeugung des 6. Strafsenats war Zschäpe für alle Straftaten mitverantwortlich. Sie habe mutmaßliche Anschlagsorte ausgekundschaftet, nach dem Tod Böhnhardt und Mundlos die gemeinsame Wohnung abgefackelt, um Beweise zu vernichten und die NSU-Bekennervideos versandt. Über das Versagen des Staates verlor das Gericht kein Wort.

Erstaunlich milde wurden die vier Mitangeklagten verurteilt. Das gilt vor allem für die Fälle Wohlleben und Eminger – beide kann man als NSU-Mitglieder Nummer vier und fünf bezeichnen. Ralf Wohlleben wurde der Beihilfe zum Mord schuldig gesprochen und zu zehn Jahre Haft verurteilt – die Bundesanwaltschaft hatte zwölf Jahre beantragt. André Eminger, ein bekennender Nationalsozialist, für den ebenfalls zwölf Jahre Haft beantragt worden waren, wurde zu zwei Jahren und sechs Monaten wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung verurteilt. Er verließ am Ende des Verhandlungstags, nachdem der Richter den Haftbefehl gegen ihn aufgehoben hatte, unter dem Jubel rechter Gesinnungsgenossen auf der Zuschauertribüne als freier Mann den Gerichtssaal – eine Zumutung für alle Anwesenden, allen voran für die Hinterbliebenen. Holger Gerlach wurde wegen Unterstützung einer terroristischen Vereinigung zu drei Jahren Haft verurteilt und Carsten Schultze, der die Ceska-Pistole beschafft hatte, mit der die Morde verübt wurden, erhielt nach Jugendstrafrecht drei Jahre Haft wegen Beihilfe zum Mord.

Die Schuld der Angeklagten sei damit geklärt. »Aber die Beschäftigung mit dem gewalttätigen Rechtsextremismus in Deutschland kann damit nicht zu Ende sein. Im Gerichtssaal stehen Säcke voller Fragen, die nicht geklärt sind«, kommentiert Heribert Prantl den Ausgang des Mammutprozesses in der Süddeutschen Zeitung (11.7.2018). Die Angeklagten waren »keine Einzeltäter, sie waren Teil eines braunen Netzwerks, sie gehörten zu einem giftigen Milieu, in dem sie sich aufgehoben fühlen konnten.«

Mit dem Urteil endet ein Verfahren, das bei der Polizei mit dem Unwort »Döner Morde« begonnen hatte. Schon in dem Wort spiegelt sich offen Geringschätzung und Ausgrenzung wider, da unterstellt wurde, dass Türken von Türken umgebracht worden seien. Jahrelang hatten die Ermittler der »Soko Bosporus« falsche Fährten verfolgt und den rechtsextremen Hintergrund der Taten negiert. Stattdessen wurden die Opfer diffamiert und die engsten Familienangehörigen wie Verdächtige drangsaliert.

Es bleibt tiefes Unbehagen. Das Auffliegen des NSU hatte zwar in Deutschland eine breite moralische Empörung darüber ausgelöst, dass eine rechtsextreme Terrorzelle jahrelang unbehelligt von den Behörden im Untergrund leben und mordend durch die Republik ziehen konnte. Doch der Strafprozess hat das Aufklärungsversprechen von Bundeskanzlerin Angela Merkel im Jahr 2012 nicht erfüllt: »Wir tun alles, um die Morde aufzuklären und die Helfershelfer und Hintermänner aufzudecken und alle Täter ihrer gerechten Strafe zuzuführen.« So kritisieren vor allem die Hinterbliebenen und ihre Anwälte von Anfang an die fehlende Bereitschaft der staatlichen Behörden und der Justiz, umfassend aufzuklären.[1]

Die Bundesanwaltschaft legte sich mit ihrer Anklage früh auf die bequemste Fallkonstruktion fest: Der NSU bestand aus einer abgeschotteten Dreiergruppe und wenigen Unterstützern.[2] Nach dem mutmaßlichen Selbstmord von Uwe Mundlos und Uwe Böhnhardt wurde Beate Zschäpe zum einzigen überlebenden Mitglied der Terrorzelle erkoren. Der OLG-Staatsschutzsenat übernahm bereitwillig die einseitige These vom »Tätertrio« und verweigerte eine weitergehende Aufklärung über die Unterstützer-Netze. Aus ihnen rekrutierten sich jene, die Pässe besorgten, anfänglich die Finanzierung des Untergrunds übernahmen, Wohnungen und Fahrzeuge zur Verfügung stellten, zusätzliche Waffen organisierten, das weitere Auskundschaften der Anschlagsorte übernahmen.

Wurde und wird in diesen Fällen auf Zeit gespielt? Manche Hinweise sind bereits irrelevant geworden, weil mögliche Straftaten verjährt sind. Ferner bleibt die Frage nach dem Umfeld der Mitwisser weitgehend unbeantwortet.

Von Beginn an ist die Mitverantwortung des Inlandsgeheimdienstes nicht genauer unter die Lupe genommen worden.[3] Selbst parlamentarischen Untersuchungsausschüssen wurden Dokumente und Informationen verweigert. Was wusste der Verfassungsschutz, was hat er gedeckt, warum gelang es trotz Dutzender V-Leute im Umfeld der Terrorbande nicht, diese rechtzeitig hochgehen zu lassen? Fakt ist: Die Morde hätten verhindert werden können. Stattdessen haben es V-Leute und ihre Führungspersonen ermöglicht, dass die flüchtigen Neonazis im Untergrund leben konnten.

Die Verfassungsschützer haben die Neonazi-Szene vor Ermittlungen der Polizei gewarnt und waren mit geradezu hoher krimineller Energie damit beschäftigt, die Spuren ihres Versagens, ihrer ideologischen Verblendung und Verflechtungen in das NSU-Umfeld zu verdunkeln und zu vernichten. »Er hat mit der braunen Szene in einer Weise gearbeitet, die die Juristen Kollusion nennen… Gäbe es ein Unternehmensstrafrecht für Behörden – dieser Verfassungsschutz verdiente die Höchststrafe, nämlich seine Auflösung«, stellt Prantl fest.

Die Urteile sind gesprochen, aber einen Schlussstrich darf es nicht geben. Die Zivilgesellschaft muss nach dem Urteil weiter darauf drängen, die offenen Fragen zu klären. Nicht nur die Rolle und das Wirken des Inlandsgeheimdienstes, auch die Vorgänge in Behörden und Ministerien, die nachweislich die Aufklärung der Morde behinderten, müssen ans Licht gezerrt werden. Die Aufarbeitung darf nicht aufhören. Die Beschäftigung mit dem gewalttätigen Rechtsextremismus in Deutschland kann mit dem Münchner Urteil nicht zu Ende sein.

Vor allem nicht in einer hochgefährlichen politischen Situation, in der sich die herrschende Politik in atemberaubender Geschwindigkeit nach rechts öffnet und CSU-Politiker skrupellos die völkisch aufgeheizte Angstdebatte der AfD mit deren Vokabular fortführen: Überfremdung, Asyltourismus, Asyl- und Abschiebezentren, beschleunigte Abschiebungen… Das sind Begriffe von Brandstiftern.


[1] Antonia von der Behrens (Hrsg): Kein Schlusswort, Plädoyers im NSU-Prozess, Hamburg 2018.
[2] Vgl. Otto König/Richard Detje: NSU-Prozess – Anklagekonstruktion der Bundesanwaltschaft verhindert Aufklärung. »Drei-Täter-Theorie«, SozialismusAktuell 11.8.2017.
[3] Hajo Funke, Sicherheitsrisiko Verfassungsschutz. Staatsaffäre NSU: das V-Mann-Desaster und was daraus gelernt werden muss, Hamburg 2017.

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