30. Januar 2019 Redaktion Sozialismus

Verfall und Niedergang eines »sozialistischen« Rentier-Staates

In Venezuela tobt ein offener Machtkampf zwischen Präsident Nicolás Maduro und dem selbst ernannten Interimspräsidenten Juan Guaidó. Die amerikanische Regierung hat sich offensiv auf Guaidós Seite geschlagen und droht seit Tagen damit, alle denkbaren diplomatischen und wirtschaftlichen Hebel in Bewegung zu setzen, um Maduro zum Rückzug zu drängen.

Die Trump-Administration übernimmt im Untergangsszenario des linkspopulistischen Regimes von Maduro die Regie, indem sie internationale Geldflüsse nach Caracas stoppen.

»Die Vereinigten Staaten haben die Kontrolle der amerikanischen Bankkonten der venezolanischen Regierung und der venezolanischen Zentralbank an den legitimen Interimspräsidenten Juan Guaidó gegeben«, so der republikanische US-Senator Marco Rubio auf Twitter. Zudem wurden Sanktionen gegen den staatlichen venezolanischen Ölkonzern Petróleos de Venezuela S.A. (PDVSA) verhängt. Unternehmen in den USA dürfen zwar weiterhin Erdöl aus Venezuela importieren, die Zahlungen fließen jedoch auf Sperrkonten.

Diese Intervention in die Umbruchsituation eines Landes unter Verletzung aller Souveränitätsrechte und Missachtung der internationalen Rechtsordnung ist beispiellos. Ob damit eine Eskalation zu einem blutigen Bürgerkrieg vermieden wird, ist ungewiss.

Venezuela gilt als das Land mit den weltweit größten Erdölreserven. Das lateinamerikanische Land ist aber auch ein Musterbeispiel dafür, dass der Reichtum im Boden kein Garant für allgemeinen Wohlstand und für eine florierende Rohstoffbranche ist. Entscheidend ist, was oberhalb des Bodens passiert.

Wegen Misswirtschaft, Korruption und des relativ niedrigen Ölpreises hängt das sozialistische Venezuela seit Jahren in einer schweren Wirtschafts- und Versorgungskrise fest. Trotz der Ölreserven hungern doch immer mehr Menschen. Es fehlt an Devisen, um Lebensmittel und Dinge des täglichen Bedarfs zu importieren. Je mehr die Wertschöpfungsketten blockiert werden, desto schwerwiegender der Verfall des privaten und öffentlichen Kapitalstocks. Die Krise in Venezuela ist eine der größten in der Geschichte des modernen Kapitalismus.


Grobbilanz zum Jahresende 2018

Die Wirtschaft von Venezuela besteht aus Erdöl. Über 90% der Exporte gehen auf das Konto des schwarzen Goldes. Öl ist allgegenwärtig: Es finanziert das Budget und bringt Devisen ins Land. Aber obwohl es über reichlich Erdölreserven verfügt, ist die Situation im Lande dramatisch:

  • Das Land leidet unter einer Inflation von einer Mio. Prozent. Die Regierung unter Präsident Maduro hat die Haushaltsdefizite der letzten Jahre durch eine Ausweitung der Geldmenge finanziert – was die Inflation (Wertverlust der Währung) massiv beschleunigt hat. Der Internationale Währungsfonds sagt für das laufende Jahr eine Teuerungsrate von zehn Mio. Prozent voraus.
  • Der Absturz des Bruttoinlandprodukts im Jahr 2018 wird auf 18% geschätzt. Der Grund: neben der Zerstörung von Wertschöpfungsketten vor allem der weitere Rückgang der Ölproduktion.
  • Seit 2016 ist die Rohölförderung um die Hälfte auf derzeit rund 1,2 Mio. Fass gesunken, was den niedrigsten Stand der vergangenen 70 Jahre darstellt. Misswirtschaft, Selbstbedienungsmentalität und ein Ausbleiben von Investitionen treiben das staatliche Erdölunternehmen PDVSA in den Ruin. Dadurch sind der Anteil an den weltweiten Exporten und die Bedeutung des Mitglieds der Organisation erdölexportierender Länder (Opec) ständig gesunken.

Die Zahlungsfähigkeit hängt neben der Ölproduktion am Ölpreis. Seit dem Tiefststand von 34 US-Dollar ist der Preis für ein Fass venezolanischen Öls inzwischen wieder auf ca. 60 US-Dollar gestiegen. Nach Schätzungen von venezolanischen Ökonomen hätte das Land ab einem Ölpreis von 75 US-Dollar keine Zahlungsprobleme mehr.

Rund 75% der Bareinnahmen aus Ölexporten stammen laut dem Finanzinstitut Barclays aus Verkäufen in die USA. Knapp die Hälfte aller Exporte geht in den Norden. Öllieferungen nach China, Russland und Indien werden vornehmlich genutzt, um Schulden zurückzuzahlen.

Die USA zögern, scharfe Sanktionen einzuführen. Amerikanische Raffinerien beziehen aus Venezuela sogenanntes schweres, schwefelhaltiges Rohöl. Das in den USA geförderte Erdöl ist häufig leichterer Qualität. Eine Umstellung einer Raffinerie auf eine andere Erdölqualität ist aufwändig.

  • Das Land ist bei vielen Verpflichtungen im Rückstand. Auf geschätzt die Hälfte der bis zu 170 Mrd. US-Dollar Schulden könnten Rückzahlungen bereits im Verzug sein. Venezuela bezahlt seit Jahren seine Importe kaum noch. Betroffen sind private Firmen, Staaten und enteignete Unternehmen. So hat Brasilien wegen ausbleibender Zahlungen eine Klage beim Pariser Klub betrieben, wo die Schulden staatlicher Schuldner und Gläubiger verhandelt werden.
  • Die Staatsunternehmen müssen seit 2019 15% ihres Umsatzes in Petros abwickeln. Der Petro wurde im Februar 2018 eingeführt. Abgesichert wird die Kryptowährung mit den riesigen Erdölreserven des südamerikanischen Landes.
  • Die russische Regierung und dessen staatlicher Öl-Gigant Rosneft haben dem südamerikanischen Land seit 2006 Kredite und Kreditlinien in Höhe von mindestens 17 Mrd. US-Dollar zur Verfügung gestellt. Im Gegenzug für einen Kredit in Höhe von 1,5 Mrd. US-Dollar bekam Rosneft vom Ölkonzern PDVSA als Sicherheit dessen Anteil von 49,9% am US-Raffinerie-Unternehmen Citgo überschrieben.
  • Der wohl größte Einzelgläubiger ist die VR China  mit ca. 30 Mrd. US-Dollar.
  • Der internationale Derivateverband ISDA hat bereits Ende 2017 Venezuela für zahlungssäumig erklärt. Damit können Investoren ausgezahlt werden, die Kreditausfallversicherungen (Credit-Default-Swaps) gegen einen Zahlungsausfall Venezuelas abgeschlossen haben. Betroffen sind Bonds sowohl des Staates Venezuela wie des staatlichen Erdölkonzerns PDVSA.


Gründe für den Verfall

Venezuela gehört zu der Gruppe der Staaten mit einer dominanten Rentiersökonomie: Das ist die politökonomische Grundlage von Staaten, deren Wirtschaftssystem nicht auf der Herstellung von eigenen wirtschaftlichen Leistungen, sondern auf dem regelmäßigen Zufluss von Einkommen von außen (Renten) beruht. Unterschieden werden Rohstoffrenten (z.B. für Öllieferungen) und Lagerenten (z.B. für die Kontrolle über strategisch wichtige Kanaldurchfahrten). Kennzeichnend für Rentier-Ökonomien ist die Tatsache, dass die externen Einnahmen direkt dem Staat zufließen.

Sie werden von der Staatsführung und ihrem bürokratischen Apparat (Staatsklasse) in erheblichem Umfang zum Zwecke der Selbstprivilegierung und zur Stabilisierung der herrschenden Machtstrukturen eingesetzt. Rentier-Ökonomien sind nicht primär auf eine nachhaltige wirtschaftliche und soziale Entwicklung ausgerichtet, sondern auf die Absicherung der Rentenzuflüsse von außen und eine Kontrolle über die -verteilung im Innern durch die Staatsführung und ihre Klientel. Ihre miteinander verknüpften Attribute sind so zu beschreiben:

  • Die Staatseinkommen hängen stark vom Export von Öl und Erdgas ab.
  • Wirtschaftliche und politische Macht sind bei einer elitären Minderheit stark konzentriert und
  • die politischen Institutionen sind schwach und Korruption ist weit verbreitet.

Der sogenannte Ressourcenfluch hat auch einen Einfluss auf die politische Governance. Da Petrostaaten stärker von Exporteinnahmen und weniger von Steuern abhängig sind, bestehen oft fragile Verbindungen zwischen der Regierung und ihren Bürger*innen. Demokratie, staatliche Institutionen, ein unabhängiger öffentlicher Dienst und ein Privatsektor sowie Rechtsstaatlichkeit werden – auch von fortschrittlichen Regierungen – erst nach und nach geschaffen.

Nachdem in Venezuela Anfang des 20. Jahrhunderts die Ölfelder entdeckt wurden, spielt dieser Rohstoff eine dominierende Rolle in der Ökonomie des Landes. Im Zuge des Ölbooms hatte Präsident Carlos Andres Perez 1976 die Ölindustrie nationalisiert und die staatseigene PDVSA gegründet, um die Erkundung, Produktion, Raffination und den Export von Öl zu beaufsichtigen. Perez erlaubte es PDVSA, mit ausländischen Ölunternehmen zusammenzuarbeiten, solange sie 60% der Anteile an Joint Ventures hielt und das Unternehmen kritisch so strukturierte, dass es mit minimaler staatlicher Regulierung betrieben werden konnte.

Im Jahr 1989 griff Perez nach seiner Wiederwahl zur Abwendung einer Krisenkonstellation im Rahmen einer finanziellen Rettungsaktion des Internationalen Währungsfonds zur Notlösung eines »Sparpakets«. Die Maßnahmen führten zu massiven sozialen Unruhen. Hugo Chávez, ein Oberstleutnant des Militärs, der Anfang der 1980er Jahre die Untergrundbewegung »Movimiento Bolivariano Revolucionario 200« gegründet hatte, versuchte 1992 einen Putsch, der zwar scheiterte, ihn für zwei Jahre ins Gefängnis brachte, aber landesweit bekannt machte.

Chávez gründete die Partei »Movimiento Quinta República«, kandidierte bei der Präsidentschaftswahl 1998 auf einer sozialistischen Plattform und gewann die Wahl. Er versprach, den riesigen Ölreichtum Venezuelas für eine »bolivarische Revolution« zu nutzen, um Armut und Ungleichheit zu reduzieren. Während die kostspieligen »bolivarianischen Missionen« die Sozialdienste ausweiteten und die Armut um 20% reduzierten, unternahm er auch mehrere Schritte, die einen langen und stetigen Rückgang der Ölproduktion des Landes auslösten, die in den späten 1990er und frühen 2000er Jahren ihren Höhepunkt erreichte.

Bereits unter Chávez begann eine politisch gewollte Deformation der Demokratie. Diese Einschränkungen ebneten Maduro den Weg, um Jahre nach Chavez' Tod autoritäte Strukturen weiter auszubauen.



Der Einbruch der Ölpreise
– der Rückgang von über 100 US-Dollar pro Barrel im Jahr 2014 auf einen Tiefststand von unter 30 US-Dollar Anfang 2016 – hat Venezuela in eine wirtschaftliche und politische Spirale geführt, von der es sich bis heute nicht erholt hat. Der Übergang von Chávez zu Maduro hat die Deformation der politischen Willensbildung und Herrschaftsarchitektur verschärft. Präsident Maduro hat grundlegende Prinzipien der Demokratie verletzt, um die Macht zu erhalten.

Jahrzehnte schlechter Regierungsführung und Mißachtung demokratischer Mechanismen der bolivarischen Idee haben das ehemals wohlhabendste Land Lateinamerikas in den wirtschaftlichen und politischen Ruin getrieben. Soll eine weite Zuspitzung bürgerkriegsähnlicher Verhältnisse vermieden werden, die der US-Regierung sicherlich nur zu Recht wäre, müsste die Regierung Mechanismen etablieren, die eine produktive Investition der riesigen Öleinnahmen des Landes ermöglichen und in weiterer Konsequenz die Abhängigkeit vom Öl überwinden helfen. Das müsste begleitet werden von der Wiederbelebung demokratischer Strukturen und der Einbeziehung des Großteils der Bevölkerung in einen grundlegenden Strukturwandel von Ökonomie und Politik.

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