7. April 2017 Bernhard Sander: NRW vor den Landtagswahlen II

Verfestigte soziale Spaltung

Die Bilanz der Landesregierung von Ministerpräsidentin Hannelore Kraft ist nach sechs Jahren Amtszeit enttäuschend. »Kein Kind zurücklassen« hieß zu Beginn die Devise. Mit präventiver Sozialpolitik sollten die staatlichen Reparaturkosten (von fehlqualifizierter Dauerarbeitslosigkeit bis Alltagskriminalität samt der zugehörigen Verwaltungs- und Verwahrapparate) vermindert werden.

Doch dieses Ziel ist verfehlt worden. Das Jobwunder von Hannelore Kraft besteht größtenteils aus atypischer Beschäftigung, die Armutsquoten vor allem in den Großstädten des Ruhrgebiets und des bergischen Landes sind grotesk hoch und bestimmte Gruppen wie RentnerInnen, Alleinerziehende und Kinder bleiben in Armut von der gesellschaftlichen Teilhabe ausgegrenzt.


Prekarisierung der Arbeitsverhältnisse

Auf der Haben-Seite verbucht die Ministerpräsidentin ein hinter dem Bund zurückbleibendes Wirtschaftswachstum (in 2015 0% gegenüber 1,7% im Bund, in 2016 immerhin 1,8% und damit fast beim Bundesdurchschnitt von 1,9%).



Gleichwohl entwickelte sich die sozialversicherte Beschäftigung mit 2,4% so positiv wie der deutsche Durchschnitt. Der Anstieg der Gesamtbeschäftigung betrug 2009 bis 2015, also in der Amtszeit der rot-grünen Landesregierung, 594.996 Arbeitsplätze. Doch der größte Teil dieses Zuwachs waren Jobs in Teilzeit, nämlich 88,1%. [1] Ebenso stieg die Leiharbeit von 121.000 auf 203.000 Jobs, also um rund 68%.



Der Anteil der Vollzeitbeschäftigten liegt mit 73,6% immer noch leicht über dem Bundesdurchschnitt (72,8%). Sicher ein Resultat der traditionell guten Verankerung der Gewerkschaften und weniger der Landespolitik. Bei den LeiharbeiterInnen liegt der Anteil der Sozialversicherten allerdings schon unter dem Bundesdurchschnitt (90% zu 93%). Aber die gewerkschaftliche Macht und der betriebsrätliche Einfluss reichen schon nicht mehr aus, um die Einhaltung gesetzlicher Standards beispielsweise bei den MinijobberInnen zu überwachen.

In einer Untersuchung des RWI – Leibniz-Institut für Wirtschaftsforschung [2] kommen die Autoren zu folgenden erschütternden Ergebnissen bei Mindestlohn, bezahltem Urlaub und Lohnfortzahlung im Krankheitsfall für die MinijobberInnen: Während 2012 jeder zweite Mini-Jobber unter 8,50 Euro verdiente, liegen heute – nach Einführung des gesetzlichen Mindestlohns – nur noch 14,5% unter dieser Schwelle. Es gebe zwar gesetzliche Ausnahmen vom Mindestlohn, aber bei 12% lägen klare Verstöße vor, insbesondere im Handel und im Gastgewerbe, stellt selbst das Landesarbeitsministerium fest.

Laut der Studie haben lediglich 44% der Mini-JobberInnen ihr Recht auf bezahlten Urlaub in Anspruch genommen. Immerhin sei es im Vergleich zur letzten Studie aus dem Jahr 2012 eine deutliche Zunahme. Damals hatten nur 19% bezahlten Urlaub erhalten. Lediglich 29% aller Mini-JobberInnen bekamen im Krankheitsfall den Lohn weitergezahlt – im Vergleich zu 2012 eine Verdreifachung. Doch statt mehr Personal für effektivere Kontrollen bietet das Landesarbeitsministerium lediglich Flyer zur Aufklärung der Betroffenen an.

Die Arbeitsmärkte sind extrem gespalten. Neben dem sogenannten Normalarbeitsverhältnis gibt es eine Vielzahl von prekären Jobs bis hin zur Arbeitslosigkeit, die in NRW deutlich über dem Durchschnitt liegt. Und noch einmal höher liegt der Anteil der Langzeitarbeitslosigkeit. Vier von zehn Arbeitssuchenden gelten als langzeitarbeitslos und sind damit schwer vermittelbar. Die meisten von ihnen haben bisher nur auf dem Leiharbeitsmarkt eine Chance, von wo aus die Mehrheit relativ rasch wieder in die Jobcenter zurückkehren muss. Ein öffentlich geförderter Beschäftigungssektor würde ihre Lage kurzfristig erheblich stabilisieren. [3]

All diese Arbeitssuchenden müssen, um nicht in die Hartz-Mühle zu geraten oder ihr schnell wieder zu entrinnen, erheblich mehr Anstrengungen unternehmen und sind mit größeren Sorgen belastet als Menschen in einem Normalarbeitsverhältnis. Unter den erhöhten Transaktionskosten, Planungsungewissheiten und Aufmerksamkeitsdefiziten leiden vor allem die Kinder, die unter solchen Umständen aufwachsen. Dies müsste durch öffentliche Dienstleistungen, Kindertagesstädten usw. ausgeglichen werden, doch die Betreuungsquote liegt in NRW deutlich unter der gesetzlichen Vorgabe.



Aber auch wenn, vor allem im ländlichen Raum, die Arbeitslosenquoten niedrig liegen, so sind diese Gebiete oft die Spitzenreiter bei den prekären Arbeitsverhältnissen. Von Gleichheit oder auch nur Angleichung der Lebensverhältnisse, einem Verfassungsgebot, kann keine Rede sein. Das Münsterland gilt als Minijobberland. Rund 140.000 Menschen arbeiten hier ausschließlich als geringfügig Beschäftigte. Das entspricht einer Quote von 12,7%, weit mehr als in fast allen anderen Teilen des Landes. [4]

 

Verfestigte Armut

Der Spiegel der ungelösten Arbeitsmarktprobleme ist die sich verfestigende Armut. 2015 lag die Armutsgefährdung mit 17,5% deutlich über der Quote des gesamten Bundesgebietes (15,7%). Diese Menschen haben an der wirtschaftlichen Erholung nicht teilgenommen.



Der Deutsche Paritätische Wohlfahrtsverband kommt in seinem jährlichen Armutsbericht [5] für 2015 zu folgendem Fazit: In Nordrhein-Westfalen ist die überdurchschnittliche Armutsquote von 17,5% zumindest nicht weiter gestiegen. Deutlich überproportional von Armut betroffen bleibt NRW aber nach wie vor. In keinem anderen Bundesland ist die Armutsquote zwischen 2005 und 2015 so stark gestiegen (von 14,5 auf 17,5%).

Gerade diese Zahl zeigt, dass das Armutsproblem nicht durch die Migrationsbewegung (»Flüchtlingskrise«) entstanden ist. Es sind die bekannten Risikogruppen, die in der Armutsfalle stecken: Alleinerziehende mit einer Quote von 43,8%, Familien mit drei und mehr Kindern (25,2 %), Menschen mit niedrigem Qualifikationsniveau (31,5 %) sowie MigrantInnen ohne deutschen Pass (33,7%), deren Chancen auf dem Arbeitsmarkt allesamt gering sind.



Die Hartz-IV-Quote in Nordrhein-Westfalen ist seit 2011 entgegen dem Bundestrend wieder ansteigend und betrug 2015 11,7%. Bei den Kindern betrug sie sogar 18,1%.
Zwei Gruppen fallen in der DPWV-Studie darüber hinaus im längerfristigen Vergleich auf: »Es sind Erwerbstätige und Rentner. Der Prozentsatz derjenigen, die trotz Erwerbstätigkeit unter der Einkommensarmutsgrenze leben, stieg seit 2005 von 7,3 auf 7,8 Prozent, ein klarer Fingerzeig Richtung Niedriglohnsektor, erzwungener Teilzeitbeschäftigung oder auch eines nicht ausreichenden Familienlastenausgleichs.«

Bei den RentnerInnen stieg die gemessene Armut innerhalb von zehn Jahren von 10,7 auf 15,9%. Das ist ein Zuwachs um 49%. Hier kommt nicht nur zum Tragen, dass infolge der Änderungen an der Rentenformel die älteren Jahrgänge in zunehmendem Ausmaß verarmen werden. Vielmehr spiegeln sich hier auch die gebrochenen Erwerbsbiographien, prekären Arbeitsverhältnisse und schlechten Einkommenspositionen einer wachsenden Zahl von Menschen, die überhaupt Rentenansprüche erwerben können.

Diese Trends finden sich auch in Nordrhein Westfalen. In NRW hat sich die Armutsquote bei den Erwerbstätigen von 6,7% in 2006 auf 8,4% in 2015 erhöht. Noch signifikanter ist der Anstieg bei der Altersarmut: Waren 2006 noch 9,5% der RuheständlerInnen von Armut betroffen, waren es 2015 schon 16% – ein Zuwachs um 68%.

 

Sozialräumliche Polarisierung – das Ruhrgebiet als Problemregion

Als großes Flächenland beheimatet Nordrhein-Westfalen sowohl Regionen mit stark unterdurchschnittlicher Armut als auch Regionen, die man mit Blick auf die Armutsquote im bundesweiten Vergleich bereits als abgehängt bezeichnen kann. Auf der einen Seite sind es die Regionen Arnsberg (13,7%), Bonn (13,5%), Münster (14,6%), Paderborn (15,1%) und Siegen (14,4%), die nicht nur unterproportional von Armut betroffen sind, sondern die durch eine gute Entwicklung 2015 dafür sorgten, dass der Anstieg der Armutsquote für ganz Nordrhein-Westfalen gebremst werden konnte.

Auf der anderen Seite ist es auch in 2015 das Ruhrgebiet, das die Armutsentwicklung Nordrhein-Westfalens weiterhin prägt. In keiner anderen Region dieser Größenordnung wuchs die Armut im Zehn-Jahres-Vergleich mit 24,7% annähernd so stark wie im Ruhrgebiet (von 16,2 auf 20,2%). Jeder fünfte Einwohner dieses größten Ballungsraumes Deutschlands mit seinen über fünf Mio. Menschen muss damit rechnerisch zu den Armen gezählt werden. In der rheinisch-bergischen Region um Düsseldorf ist der Anstieg der Armutsquote zwischen 2008 und 2015 um 3,9 auf 17,6% ebenfalls dramatisch.

Sowohl das Ruhrgebiet als auch Berlin müssen unter Berücksichtigung der Bevölkerungszahl und der längerfristigen Trends als die armutspolitischen Problemregionen Deutschlands angesehen werden. Aber nicht nur im Ruhrgebiet, sondern auch in anderen Großstädten in NRW ballt sich die Armut. [6]



Diese Spitzenwerte unter den deutschen Städten sind auch ein Indiz für die Defizite bei der Bewältigung der Folgen des Strukturwandels insbesondere des Ruhrgebiets.
Es gibt also reichlich Handlungsfelder in Sachen Strukturpolitik und soziale Spaltung in NRW. Die rot-grüne Landesregierung hat sich hier in den letzten Jahren allerdings eher durch politische Enthaltsamkeit ausgezeichnet. [7]

[1] www.boeckler.de/tools/atypischebeschaeftigung/index.php#result
[2] www.mais.nrw/sites/default/files/asset/document/minijobs_zusammenfassung.pdf.
[3] Vgl. dazu Bernhard Sander: Eine Brücke in die Beschäftigung, www.vorort-links.de/nc/archiv/analysen_ansichten/detail/artikel/eine-bruecke-in-beschaeftigung/.
[4] www1.wdr.de/nachrichten/westfalen-lippe/muensterland-minijobber-land-100.html
[5] www.der-paritaetische.de/armutsbericht/empirische-ergebnisse/.
[6] www.amtliche-sozialberichterstattung.de/A1armutsgefaehrdungsquoten.html.
[7] Auf die politischen Schlussfolgerungen wird in den Folgebeiträgen eingegangen.

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