22. April 2018 Joachim Bischoff / Gerd Siebecke: Andrea Nahles zur SPD-Vorsitzenden gewählt

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Die über 600 Delegierten des SPD-Sonderparteitags in Wiesbaden haben Andrea Nahles zur neuen Parteivorsitzenden gewählt. Sie erhielt 66,35% der gültigen Stimmen (414) und ist damit die erste Frau an der Spitze der Sozialdemokratischen Partei seit der Gründung vor 155 Jahren.

Allerdings war mit einer deutlich höheren Zustimmung für die Kandidatin des Partei-Establishments gerechnet worden, im Vorfeld wurde in »Parteikreisen« alles unter 75% als problematisch angesehen. Es wurde jedoch das zweitschlechteste Ergebnis bei der Wahl zum Parteivorsitz in der Nachkriegsgeschichte der SPD.

Mit der Oberbürgermeisterin von Flensburg, Simone Lange, hatte eine Newcomerin die Politfrau Andrea Nahles, langjährige Führungsfigur der SPD, herausgefordert – ein ungleiches und im Vorfeld vom Parteiapparat nicht immer sonderlicher fair gehandhabtes Duell um den Parteivorsitz. Andrea Nahles gewann erwartungsgemäß, gleichwohl erzielte die klare Außenseiterin Lange mit 27,65% der Stimmen ein durchaus achtbares Ergebnis.

Simone Lange forderte eine sozialpolitische Kehrtwende der SPD. Die Partei müsse ihre Ziele unabhängig und teils im Gegensatz zur Regierungsbeteiligung vertreten. In ihrer Bewerbungsrede für das Amt der SPD-Vorsitzenden forderte sie ihre Partei zu einem Umbruch auf: »Mich zu wählen, bedeutet Mut«, denn sie sei »heute eure Alternative für eine echte Erneuerung der SPD.« Die SPD müsse die Ideologie des Marktradikalismus durchbrechen. »Eine starke Kanzlerin, die beseitigt nicht den Staat, sondern die Armut in unserem Land.« Und in praktische Politik und erste Schritte umgesetzt, hieße dies »Schluss mit Warteschlangen vor Sozialämtern. Schluss damit, dass wir unsere Schulen so aussehen lassen, wie sie aussehen.«

Eine Erneuerung gehe nur mit einer »Rückkehr zu echten sozialdemokratischen Zielen«. Denn Hartz IV sei »keine Vergangenheitsdebatte«, sondern Alltag für Millionen. Die SPD habe in Kauf genommen, dass heute Menschen arm seien, obwohl sie Arbeit hätten. »Dafür möchte ich mich bei den Menschen, die es betrifft, entschuldigen.« Kein Kind solle mehr in Armut aufwachsen müssen, kein Rentner mehr aufstocken müssen.

Andrea Nahles begann ihre Vorstellungsrede mit dem Hinweis auf ihren Parteieintritt vor 30 Jahren und der Gründung eines SPD Ortsvereins. Sie präsentierte sich als leidenschaftliche Sozialdemokratin, die sie auch in ihrer Parteikarriere geblieben sei. In ihrem Rückblick spielten ihre innerparteilichen Manöver bei den Jungsozialisten (wie war Juso-Bundesvorsitzende von 1995 bis 1999) sowie den Machtkämpfen mit und gegen Rudolf Scharping, Oskar Lafontaine, Gerhard Schröder und Franz Müntefering allerdings keine Rolle.

Nach ihrer Wahl in den Bundestag im Jahr 1998 setzte sich die Karrierefrau in der rot-grünen Koalition unter Bundeskanzler Gerhard Schröder (SPD) für ein linkes Profil ein. Zusammen mit dem Parlamentarier der britischen Labour Party Jon Cruddas plädierte sie 2009 für einen neuen Kompass für die europäische Sozialdemokratie, der aus dem Sumpf der unter Blair-Schröder durchgesetzten Anpassung an die neoliberalisierte Marktgesellschaften herausführen sollte.

»Zum zehnten Jahrestag der Erklärung Tony Blairs und Gerhard Schröders über einen ›Europäischen Dritten Weg‹ bietet die Demokratische Linke ein alternatives Projekt an: die gute Gesellschaft. Bei der Politik der guten Gesellschaft geht es um Demokratie, Gemeinschaft und Pluralismus. Sie ist demokratisch, weil nur die freie Mitwirkung jedes Einzelnen echte Freiheit und Fortschritt garantieren kann. Sie ist gemeinschaftlich, weil sie auf der Erkenntnis unserer gegenseitigen Abhängigkeit und unseres gemeinsamen Interesses beruht. Und sie ist pluralistisch, weil es die Vielfalt der politischen Institutionen, der Formen wirtschaftlicher Aktivität und der kulturellen Identität einzelner Menschen ist, aus der die Gesellschaft die Energie und den Erfindungsreichtum schöpfen kann, die sie zum Aufbau einer besseren Welt braucht.«[1] Die gute Gesellschaft sollte sich auf einen guten Kapitalismus stützen, mit dem das Experiment neoliberale Modernisierung des Kapitalismus durch sozialdemokratische Steuerung beendet werden sollte.

Diese »Erneuerungsphilosophie« spielt gut zehn Jahre später keine Rolle mehr, und im kollektiven Gedächtnis der Sozialdemokratie werden solche Rochaden des Führungspersonals nur in Fußnoten verzeichnet. So erklärt sich, dass die Kritik und Selbstkritik der sozialdemokratischen Führungsfrau an der Wahlniederlage des Jahres 2017 und dem Niedergang der SPD ohne Zögern und Nachfragen geschluckt wird: »Wir haben im Wahlkampf gesagt, was unser Ziel ist, aber wir haben nicht gesagt, wie wir es erreichen wollen«, sagte Andrea Nahles in ihrer Rede und fügte hinzu: »Das Ziel zu benennen, aber den Weg im Vagen zu lassen, führt zwangsläufig dazu, dass uns die Menschen nicht vertrauen können und nicht folgen.«

Nach der SPD-Wahlniederlage des Jahres 2009 wurde Andrea Nahles Generalsekretärin – an der Seite des damals neu gewählten Parteichefs Sigmar Gabriel. In der 2013 gebildeten großen Koalition übernahm sie das Amt der Arbeitsministerin und drückte der schwarz-roten Regierungspolitik ihren Stempel auf, etwa mit der abschlagfreien Rente ab 63 oder der Einführung des Mindestlohns.

Ihrem Ruf als Kennerin der sozialdemokratischen Seele und geschickter Strippenzieherin wurde sie in Wiesbaden mit ihrem Auftritt gegen das eher unbeschriebene Parteimitglied Simone Lange voll gerecht. Nahles trat deutlich energischer und prononcierter auf als Lange – und stilisierte sich mit emotionalen Worten als Arbeiterkind, das es Dank sozialdemokratischer Gesellschaftsreformen zu etwas gebracht habe. Ihren Aufstieg verdanke sie einem Bildungssystem, das Chancengleichheit ermögliche.

Zudem werde mit der Wahl einer Parteivorsitzenden die Politik der Frauenemanzipation in und außerhalb der Partei vollendet: »Viele Frauen kennen diese komische gläserne Decke, an die man immer wieder stößt«, in der SPD werde sie nun durchbrochen. Dass es dazu komme, sei auch Frauen wie Heidemarie Wieczorek-Zeul zu verdanken – die einzige Frau, die sich zuvor um den Vorsitz der SPD beworben hatte. Routiniert bekommen in Nahles Vorstellungsrede die wichtigsten Parteigruppierungen ihre Streicheleinheiten. Dieses rhetorische Manöver wirkt durchaus, was sich am sich steigernden Beifall der Delegierten ablesen lässt.

Scharf griff Andrea Nahles die rechtspopulistischen Kräfte in Deutschland und Europa an: »Diese Kräfte sind nicht das Volk, sondern der Angriff auf das Volk. Die Rechten suchen nicht die Auseinandersetzung mit den Starken. Sie kämpfen gegen die Schwächsten«, weshalb es Aufgabe der SPD sei, sich dem »entschieden entgegenzustellen«.

Die SPD brauche ein »Konzept der solidarischen Marktwirtschaft« und die Partei sei »der starke Arm der Arbeitnehmer in der Politik, wer denn sonst, wenn nicht wir«. Und sie forderte mehr Solidarität: »Solidarität ist das, woran es am meisten fehlt in dieser globalisierten, neoliberalen, turbodigitalen Welt.« Konkret bedeute dies auch gebührenfreie Schulen und Unis sowie in der Wirtschaft, dass der Wohlstandsgewinn allen zu Gute kommen müsse. Unter ihrer Führung werde die Sozialdemokratie Antworten und Ideen für eine Sozialstaatsreform anbieten, zugleich warnt die neue Vorsitzende innerparteiliche Kritiker*innen vor vorschnellen Schlüssen: »Wenn wir sagen, wir schaffen Hartz IV ab oder wickeln die Agenda 2010 ab, haben wir noch keine einzige Frage beantwortet.«

Was wird unter dem neuen Regime von Andrea Nahles als Partei- und Fraktionsvorsitzende herauskommen? Der Kurs der Erneuerung wird eher langwierig und im Ungefähren bleiben. Schon jetzt lässt sich erkennen, dass es in der laufenden Legislaturperiode nicht zu einer Konkretisierung des Politikziels »Solidarische Gesellschaft« kommen wird.

So müssten wirksamen Regulierungen für den finanzdominierten Kapitalismus und seine digitalen Plattformen erst gründlich erarbeitet werden. »Während die Einzelhändler Steuern und Abgaben bei uns in den Städten zahlen, ausbilden, vor Ort Verantwortung übernehmen, dem Sportverein spenden, kann die Plattform die Gewinne in die nächste Steueroase abziehen.« Die SPD müsse die Partei sein, die einen solidarischen Ordnungsrahmen für die Digitalisierung schafft. Die Regeln, die den digitalen Kapitalismus zu einer solidarischen Marktwirtschaft machen, müssen jedoch erst noch gefunden werden. »Wer, wenn nicht wir, sollte das tun?«

Mit Blick auf die SPD-interne Debatte um Hartz IV und die Agenda 2010 hat die neue Parteivorsitzende Offenheit zugesagt und dazu aufgerufen, nach vorne zu blicken. Beim Thema Sozialstaat dürfe die SPD »keinen Stein auf dem anderen lassen« und über alles reden. Die Jusos ermahnte sie zugleich: »Lasst uns die Debatte mit Blick auf das Jahr 2020 führen, nicht mit Blick auf das Jahr 2010.«

Das Wahlergebnis für die Parteivorsitzende entspricht in etwa dem Votum des Sonderparteitags im Januar, bei dem 66,02% für die Neuauflage der großen Koalition gestimmt hatten und auch bei der Mitgliederbefragung dazu gab es ein ähnliches Votum. Es spricht einiges dafür, dass das Drittel der Delegierten in Mannheim, die gegen Nahles gestimmt haben, der Parteiführung erneut einen Denkzettel mit auf dem Weg geben wollten. Diese Genoss*innen fordern einen spürbaren Kurswechsel oder einen kompletten Neuanfang. Viele wünschen sich, dass die SPD weiter nach links rückt.

Angesichts einer Wiederkehr der Klassengesellschaft müsste es daher um die konsequente Revision der Konzeption von der »Neuen Mitte« (Dritter Weg) gehen. Eine Korrektur des Hartz IV-Systems ist unabdingbar, aber eine Neujustierung der sozialen Sicherungssysteme (Agenda 2010) von damals reicht nicht. Es geht um eine Neubestimmung der Regulierung des digitalen und finanzdominierten Kapitalismus. Wenn heute Bundestagswahl wäre, kämen die Genossen man gerade auf etwa 17% der Stimmen – erneut weniger als die historisch niedrigen 20,5% bei der Bundestagswahl im Jahr. Ob die sicherlich hochprofessionelle Politfrau der alten Führungsriege einer heruntergewirtschafteten und orientierungslosen Partei neuen Schwung verleihen kann, bleibt abzuwarten.

Im Jahr 2009 hatte Andrea Nahles im bereits erwähnten gemeinsamen Papier mit einem Mitglied der Labour Party[2] zu Recht im Zusammenhang mit der großen Wirtschafts- und Finanzkrise 2008ff. eine Weichenstellung gegen die neoliberale Globalisierung gesehen. »Die sozialdemokratischen Strategien des ›Dritten Wegs‹ und der ›Neuen Mitte‹ standen dem neuen globalisierten Kapitalismus zu unkritisch gegenüber und haben die zerstörerischen Kräfte eines zu wenig regulierten Marktes unterschätzt. Sie haben die strukturellen Veränderungen, die sich in den Gesellschaften Europas vollzogen, falsch gedeutet. Die Klassengesellschaft hatte in ihren Augen einer eher individualistischen, leistungsorientierten Kultur Platz gemacht. Aber der neue Kapitalismus hat keine klassenlose Gesellschaft geschaffen. Im Rahmen der marktgeführten Globalisierung hat der wirtschaftliche Aufschwung beispiellosen Wohlstand und Überfluss geschaffen, aber die Politik des ›Dritten Weges‹ konnte eine Spaltung der Gesellschaften nicht verhindern. Auch nach einem Jahrzehnt sozialdemokratischer Regierung ist die Gesellschaft immer noch maßgeblich von Klassenunterschieden geprägt. Erfolg in Schule und Ausbildung – Lebenschancen im Allgemeinen – hängen nach wie vor von dem familiären Hintergrund des Einzelnen ab.«[3]

Die marktgeführte Globalisierung hat zwar mehr Wohlstand und eine weitere Produktivkraftentwicklung gebracht, aber letztlich auch eine rechtspopulistische Revolte ausgelöst – darauf weist der US-Ökonom Dani Rodrik im Interview mit der Schweizer Netzzeitung »Republik« vom 12.4.2018 ebenfalls zu Recht hin: »Wir haben ab den 1990er-Jahren weltweit eine zweifelhafte Form von Globalisierung vorangetrieben… Auch unter uns Ökonomen galt es als Häresie, den ungehemmten Freihandel und die grenzüberschreitende Integration der Weltwirtschaft zu kritisieren. Das war ein großer Fehler, denn niemand hat sich um die Verlierer der Globalisierung gekümmert. Nun erhalten wir die Quittung dafür, in Form einer populistischen Revolte… Es ist völlig klar, dass der Staat eine aktive Rolle spielen muss, um die Folgen der Globalisierung in der Bevölkerung abzufedern… Seit den späten 1980er-Jahren ist in vielen westlichen Ländern ein schleichender Anstieg der Zustimmungsraten für populistische Parteien zu beobachten. Der Druck wuchs stetig. Eine Mischung aus mehreren Faktoren führte dazu, dass die populistische Revolte ausgebrochen ist: Die Hyperglobalisierung; technologische Fortschritte, die ebenfalls ökonomische Ängste schüren; die Finanzkrise von 2008 und die politischen Maßnahmen danach, die eher den großen Banken als den normalen Menschen auf der Straße dienten.«[4]

Die neue SPD-Parteivorsitzende Andrea Nahles hatte in anderen Funktionen ein Jahrzehnt Zeit, ein wenig mehr Verständnis für den modernen Kapitalismus in der alt-ehrwürdigen Sozialdemokratie zu organisieren. Dass dies in einem neuen Anlauf, ausgestattet mit keinem großen Vertrauensvorschuss, besser gelingt, ist wenig wahrscheinlich. Aber vielleicht nehmen ihre unterlegenen Kritiker*innen die von ihr 2009 vorgetragenen Argumente auf und präzisieren die linken inhaltlichen Alternativen. Und sie könnten auch auf Argumente des 2008 verstorbenen SPD-Linken Peter von Oertzen (der die Partei allerdings 2005 verließ) zurückgreifen, der schon 1984 »Für einen neuen Reformismus« warb und zur Rolle der sozialdemokratischen Partei auf dem mühsamen Weg dorthin formulierte: »Die Partei muss der Regierung vorauseilen und sich gelegentlich an ihr reiben; tut sie das nicht, dann bleibt sie zurück, gerät ins Schlepptau der Regierung und verkümmert.«[5]

[1] Jon Cruddas/Andrea Nahles: Die gute Gesellschaft. Das Projekt der Demokratischen Linken.
[2] Deren heutiger Vorsitzender Jeremy Corbyn, der in Britannien eine veritable Erneuerungsbewegung auf den Weg bringen konnte, gehörte im Unterschied zum spanischen Sozialistenchef Pedro Sánchez nicht zu den internationalen Gästen in Mannheim.
[3] Siehe Anmerkung 1.
[4] »Wir haben die Verlierer der Globalisierung vergessen«
[5] Peter von Oertzen, Lage und Aufgabe der SPD. Entwurf einer Erklärung. In: ders., Für einen neuen Reformismus, VSA: Verlag Hamburg 1984

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