26. August 2024 Bernhard Sander: Hürden für eine Regierungsbildung in Frankreich
Verselbständigung
Nach dem Rechtsruck bei den Europawahlen, der Auflösung der Nationalversammlung und deren Neuwahl, die zu einem Parlament der Gegensätze führte, hat Olympia für Ablenkung gesorgt. Zwar ist dank des Mehrheitswahlrechts und der Zweckallianzen zwischen zentristischem und linkem Lager der Durchmarsch von Marine Le Pens Rassemblement National (RN) gestoppt, doch klare Mehrheiten fehlen.
Nur auf der institutionellen Ebene betrachtet, waren die Auflösung des französischen Parlaments und das Ergebnis der Neuwahlen ein Debakel. Keine der relevanten Strömungen (Rechtsextremismus, vereinigte Linke, bürgerliche Mitte) haben in der Nationalversammlung eine eigene, zur Gesetzgebung fähige Mehrheit.
Doch der Macronismus kann sich in dieser Lage weiter von der demokratischen Willensbildung emanzipieren, in dem er das Rücktrittsangebot der in der vergangenen Parlamentsperiode gewählten Regierung nicht annahm, die Exekutive also weiter agiert – ohne demokratische Legitimation. Das Recht des Staatspräsidenten, über Vorschläge des neugewählten Parlaments für den Posten des Ministerpräsidenten zu entscheiden, stärkt gewissermaßen diese Position.
Angesichts der hohen Neuverschuldung des französischen Staatshaushalts, den von Republikanern und Macronisten ausgeschlossenen Steuererhöhungen und der unberechenbaren Inflation verschafft die augenblickliche politische Gemengelage jedoch auch Spielräume. Im Jahr 2024 wird nämlich der EU-Stabilitätspakt wiederbelebt, der 2020 wegen einer Pandemie und dann wegen des Krieges in der Ukraine ausgesetzt worden war.
Im April traten neue Regeln für die Wirtschaftsregierung in Kraft, die 2023 hart ausgehandelt worden waren, vor allem zwischen dem von Bruno Le Maire geleiteten Bercy (Sitz des Finanzministeriums) und dem von Christian Lindner geleiteten deutschen »BMF«. Sie werden ab 2025 gelten.
Der französische Rechnungshof hatte in der Wahlkampfzeit in einem längeren Gutachten bereits eingegriffen und der eigenen Regierung, aber auch der Volksfront klar gemacht, dass sich das Land auf griechische Verhältnisse zubewege. Der das Amt besetzt haltende Finanzminister hatte schon vor den Sommerferien seinerseits die Initiative ergriffen und Kürzungen im laufenden Haushalt verordnet sowie weitere Kürzungen für den Haushaltsentwurf 2025 angekündigt.
In der augenblichen politischen Konstellation ohne gesetzgebungsfähige Mehrheit (eher Verhinderungsmehrheiten) kann die Regierung im Zweifelsfall mehr oder weniger offen die Mithilfe des nationalistisch-sozialen RN in Anspruch nehmen oder auf den Automatismus vertrauen, dass wenn keine neugewählte Regierung einen Entwurf für das neue Haushaltsjahr einbringt, die alten Ansätze fortgeschrieben werden und der Finanzminister von seinem Recht auf Kürzungserlasse Gebrauch machen kann.
Ohne sich in den Spitzfindigkeiten französischer Gesetze zu verlieren, bedeutet das eine weitere Verselbständigung der Exekutive, die nicht mit dem Wort Bonapartismus zu umschreiben wäre. Und diese neue Lust auf Führung ist ganz nach dem Geschmack des Fondsmanagers Macron, dessen politische Entourage, die diesen Coup ausgeheckt hat, ziemlich genau weiß, dass die anstehende Restrukturierung der öffentlichen Finanzen in der Bevölkerung keine Mehrheit hat.
Nach dem olympischen Frieden beginnt noch in den Sommerferien das Ränkespiel von neuem, dessen Regisseur Emmanuel Macron in gewisser Weise bleibt. Er hat für den 23. August die Fraktionsvorsitzenden und Parteivorsitzenden zu einer »Gesprächsrunde« eingeladen.
»Die einfachste institutionelle Option, um auf eine Regierung zu reagieren, die nicht den Wahlergebnissen entspricht, ist, dieser Regierung das Misstrauen auszusprechen«, versicherte die parteilose Kandidatin der Volksfront für das Amt der Ministerpräsidentin, Lucie Castets, die es »kaum erwarten kann«, dass eine Kohabitation »beginnt«.[1]
»Ich gehe als die Person hin, die von den vier politischen Parteien der Kraft, die bei den Parlamentswahlen als stärkste Kraft hervorgegangen ist, als Kandidatin für das Amt des Premierministers nominiert wurde.« Macron empfängt »uns zuerst, das ist eine sehr gute Sache. Ich denke, dass dies ein Dialog ist, der mit dem Präsidenten der Republik stattfinden muss, und ich freue mich darauf«.
Lucie Castets sagt Nein zu einer Koalition ohne Extreme, die sowohl den RN als auch LFI ausschließen würde: »Ich habe immer gesagt, dass die Regierung, die wir mit der Neuen Volksfront vorschlagen, alle Komponenten (des NFP) umfassen wird, einschließlich La France insoumise. Da gibt es keine Zweideutigkeiten.« Sie weigert sich, zum jetzigen Zeitpunkt Namen von Minister*innen zu nennen, auch wenn sie »über Regierungsarchitekturen nachdenkt«.
Auch wenn die NFP bei den Parlamentswahlen als stärkste Partei hervorgegangen ist, »gibt es keine absolute Mehrheit, sondern eine relative Mehrheit, dessen sind wir uns völlig bewusst«, versichert die Leiterin der Finanz- und Beschaffungsabteilung der Stadt Paris. »Wir haben drei politische Blöcke (in der Versammlung) und meine Rolle ist es, zu versuchen, 289 Abgeordnete zusammenzubringen, die nicht für [einen möglichen] Misstrauensantrag stimmen werden.« Castets möchte »Koalitionen Text für Text [...] aufbauen, die den Wünschen der Franzosen entsprechen«.
Das beliebte Spiel von Medien, Parteiströmungen, Caféhaus-Runden mit Namen und Koalitionsvarianten bleibt jedoch zweitrangig. Sicher hat das Gerangel um die Möglichkeit einer Mitte-Koalition, an der neben den Republikanern auch LFI-Dissidenten und Hollandes Regierungs-Linke beteiligt sein könnten, Beobachtung verdient. Die erneute Spaltung der PS, die Schwächung der Neuen Volksfront sind schon attraktive Preise.
Der erfolgreiche Spitzenkandidat bei der EU-Wahl, Raphael Glucksmann, arbeitet mit seiner Partei Place Publique an der Bildung eines neuen sozialdemokratischen Pols. »Wenn wir die Erhöhung des Mindestlohns und der Löhne sowie eine Klima-IFR wollen, dann geht das nur über intensive Diskussionen mit anderen politischen Kräften«, erklärt er in einem Interview und fordert LFI auf, »sich von Mélenchon freizumachen«.
Glucksmann wirft heute einen strengen Blick auf die NFP, die er als »Deich« bezeichnet, dessen einziges Ziel, das auch erreicht wurde, darin bestand, zu verhindern, dass der RN an die Macht kommt. »Wir mussten in aller Eile einen Wahldeich bauen, die Gefahren hierarchisch ordnen und alles tun, um die Machtübernahme durch Marine Le Pen und Jordan Bardella zu verhindern. Ich habe nie daran geglaubt, dass sich die extrem tiefen Differenzen, die wir mit LFI haben, auf magische Weise ausgleichen lassen.«
Glucksmann rief die Sozialdemokraten in Rouen, wo sein schärfster Widersacher der Parteirechten Bürgermeister ist, dazu auf, sich vom Macronismus und Melenchonismus zu befreien. »Jupiter und Robespierre, das ist vorbei! Wir müssen die Seite Macron und Melenchon umblättern.« Die französische Sozialdemokratie »wurde zu lange an ihrem linken Flügel von Jean-Luc Mélenchon und an ihrem rechten Flügel von Emmanuel Macron angefressen. [...] Das ist meine Überzeugung: 2027 wird es die Sozialdemokratie sein, und nicht ein Ersatz des Macronismus oder ein Avatar des Linkspopulismus, die dem Lepénismus gegenübersteht«, wettert er.
Auch die Fraktion des Präsidenten »Ensemble pour la République« (EPR) unter der Leitung von Gabriel Attal legte eine Reihe von »Prioritäten« auf den Tisch, die dabei helfen sollen, einen »Weg für eine breite republikanische Konvergenz« zu finden.
Das fünfseitige Spielmaterial sei eine »Arbeitsgrundlage« für einen »gemeinsamen Gesetzespakt«, der als »Aktionspakt für die Franzosen« bezeichnet wird. Das Präsidentenlager wolle »ohne Kompromisse mit den Extremen« – damit sind, ohne es zu sagen, der RN und die LFI gemeint – sechs große Achsen für diese Prioritäten festlegen: »Verteidigung dessen, wer wir sind«, »Lebensqualität«, Umwelt, Sicherheit, »unsere öffentlichen Dienste«, militärische und wirtschaftliche Souveränität, die die Grundsätze der »Haushaltsverantwortung«, des europäischen Projekts und des Kampfes gegen den Klimawandel respektieren müssen.
Aus dem Lager des nicht mit dem RN paktierende Teils der Republikaner gibt es ebenfalls Papiere: Dem neugewählten Generalberichterstatter für den Haushalt der Sozialversicherung (PLFSS) obliegt es, in der Nationalversammlung die Debatten über die Finanzierung des Sozialschutzsystems der französischen Bürger*innen in einer Zeit der politischen Neuformierung zu leiten. Da das Defizit der Sozialversicherung am Jahresende voraussichtlich 16 Mrd. Euro übersteigen werde, ist der Abgeordnete der Ansicht, dass »ein Weg zur Wiederherstellung des Gleichgewichts eingeschlagen werden muss«. »Aber lassen Sie uns nicht träumen. Es ist nicht der PLFSS 2025, der das Loch in der Sozialversicherung schließen wird.«
Das alles zeigt die Brisanz der Themen und die Möglichkeit von Differenzen für die Volksfront auf.
Der zurückgetretene Premierminister Gabriel Attal schafft derweil Fakten und verschickte ungerührt von diesen Gesprächsrunden am 20. August an alle seine Minister »Obergrenzenbriefe«. Darin kündigte er ihnen ein allgemeines Einfrieren der Staatsausgaben bis 2025 auf 492 Mrd. Euro an und erklärte, wie die einzelnen Ministerien davon betroffen sein würden.
Laut Matignon (dem Amtssitz des Ministerpräsidenten) würden die Budgets für Verteidigung, Kultur und Sport relativ bevorzugt behandelt, insbesondere auf Kosten des Budgets für Arbeit und Beschäftigung. Entwurf eines Haushaltsplans? Unentbehrliche technische Maßnahme? Ein politisches Signal? Ein Entwurf, der in den Müll geworfen wird? Zweifellos ein bisschen von allem, meint Le Monde.
Es ist das erste Mal in der Fünften Republik, dass ein zurückgetretener Premierminister seinen ebenfalls zurückgetretenen Minister*innen einen Budgetrahmen vorgibt und dabei gleich zu Beginn darauf hinweist, dass dieser Rahmen in den nächsten Wochen angepasst oder sogar in Frage gestellt werden soll.
Es handelt sich um einen »reversiblen Haushalt«, wie die erstaunliche, im Matignon erfundene Formel lautet: »Er kann von der nächsten Regierung und dem Parlament geändert werden.« Hinter dem Haushalt 2025 lauert eine politische Krise.
Die Versendung dieser Obergrenzenbriefe, Texte ohne Rechtskraft, markiert traditionell eine Schlüsseletappe bei der Vorbereitung des Staatshaushalts. Sie werden begleitet von Eingaben aus den Gebietskörperschaften und einzelner für ihre Wahl dankbarer Abgeordneter für die Förderung des Zentralstaates bei einzelnen mehr oder weniger sinnvoller Infrastrukturprojekte usw. Derzeit finden die Bürgermeister*innen aber noch nicht einmal auf Abteilungsleiterebene Ansprechpartner*innen.
»Er wollte die Kontinuität des Staates gewährleisten«, hieß es aus dem Matignon. Die Versendung der Briefe, in denen jedem Ministerium seine künftigen Zahlungsermächtigungen pro Auftrag und Programm sowie seine Stellenobergrenze festgelegt werden, sei »eine notwendige Etappe«, plädiert die Umgebung des Premierministers.
Wie soll die künftige Regierung ohne diese Arbeitsgrundlage einen Haushalt rechtzeitig fertigstellen? Der Gesetzentwurf muss Mitte September an den Hohen Rat für öffentliche Finanzen weitergeleitet werden, damit dieser Zeit hat, seine Stellungnahme abzugeben, Ende September vom Ministerrat bestätigt und am 1. Oktober dem Parlament vorgelegt werden. Die Angelegenheit wurde also dringlich. Weitere Blockaden kann das Duo Macron/Attal dem Parlament in die Schuhe schieben, wenn eine neue Kabinettsmehrheit nicht zustande kommt.
Anmerkung
[1] Die Bewerberin für die Spitzenposition in einer möglichen Kohabitation mit Macron ist 37 Jahre alt, Absolventin der Elitehochschule ENA und parteilose Spitzenbeamtin. Zu ihrer Ausbildung gehörte ein Auslandssemester an der Fudan-Universität in Schanghai, wohin sie 2007/08 als Assistentin des Kulturattachés beim französischen Generalkonsulat zurückkehren sollte. Castets gilt als wirtschaftspolitisch versiert und als Anwältin eines funktionierenden öffentlichen Dienstes. Sie ist seit Langem befasst mit feministischen und ökologischen Anliegen – ernst, engagiert und zurückhaltend, deshalb der französischen Öffentlichkeit kaum bekannt. Ein Vorteil. Niemand kann ihr vorwerfen, als »vorbelastet« zu gelten. Castets will sich darum kümmern, dass die verhasste Rentenreform der Macron-Regierung überarbeitet und die Vermögenssteuer wieder eingeführt wird. Sie plädiert dafür, dass der Mindestlohn auf 1.600 Euro und das Wohngeld um 10% angehoben wird.