18. Mai 2020 Joachim Bischoff/Bernhard Müller: Kalbitz und die politischen Folgen

Völkische Gärung in der AfD

Andreas Kalbitz. Foto: Vincent Eisfeld / nordhausen-wiki.de / CC-BY-SA-4.0.

Der Brandenburger Landes- und Fraktionschef Andreas Kalbitz ist nicht mehr Mitglied der AfD. Eine Mehrheit des Bundesvorstandes stimmte in einer Kampfabstimmung dafür, seine Mitgliedschaft für nichtig zu erklären. Hintergrund sind frühere Kontakte im rechtsextremen Milieu.

Kalbitz habe vor allem beim Eintritt in die AfD seine Mitgliedschaft im rechtsextremen deutschen Jugendverein Heimattreue Deutsche Jugend e.V. (HDJ) verschwiegen. Der 1990 gegründete Jugendverband mit neonazistischer Ausrichtung, der 2009 mit sofortiger Wirkung verboten wurde, hatte bis dahin ca. 400 Mitglieder.

Anders als bei einem Parteiausschlussverfahren, bei dem die Schiedsgerichte entscheiden, kann die Nichtigkeit der Mitgliedschaft laut Satzung mit einfacher Mehrheit vom Bundesvorstand festgestellt werden. Der Parteivorstand hatte Kalbitz im März dazu aufgefordert, schriftlich Auskunft zu früheren Vereinsmitgliedschaften und Kontakten zu geben. Im März war ein Gutachten des Bundesverfassungsschutzes bekannt geworden, wonach Kalbitz »nachweislich« und »über mindestens 14 Jahre« mit der HDJ Kontakt gehabt und auch Mitglied gewesen sei. Dem Bundesamt liegt eine Mitgliederliste der HDJ aus dem Jahr 2007 vor, auf der unter der Mitgliedsnummer 01330 die »Familie Andreas Kalbitz« geführt wurde. Er hatte daraufhin im März noch erklärt, ihm sei nichts über diese Mitgliederliste bekannt.

Kalbitz hat jetzt eingeräumt, er halte es für »durchaus möglich und wahrscheinlich«, dass er im Zusammenhang mit dem Besuch einer Veranstaltung der HDJ auf einer »Interessenten- oder Kontaktliste« der inzwischen verbotenen Organisation aufgeführt worden sei. Er bestritt aber weiterhin, Mitglied gewesen zu sein. Grund für die Aufforderung, sich zu erklären: 2018 tauchten Bilder auf, die Kalbitz 2007 bei einem Pfingstlager der HDJ zeigten. Auf den Fotos war zu sehen, wie Kalbitz mit Lederhose und grünem T-Shirt zwischen Zelten entlang spazierte. In der AfD hatte das zunächst wenig Auswirkungen. Vergangenes Jahr enthüllte der »Spiegel« dann, dass er 2007 zu einem Neonazi-Aufmarsch in Athen gereist war. Trotz dieser Information wurde Kalbitz wieder in den Parteivorstand gewählt.

Der Bundesvorstand der AfD hat nun auf einer Sitzung den Fall seines Mitglieds Kalbitz beraten. Der Parteivorsitzende Jörg Meuthen hatte vorgeschlagen, dass der Vorstand sofort über eine mögliche Aufhebung der Mitgliedschaft von Kalbitz entscheidet. Der Co-Vorsitzende Tino Chrupalla und Parteivize Alice Weidel wollten offenbar zunächst die von Kalbitz eingereichte Stellungnahme juristisch prüfen lassen. Sie hatten bereits in den letzten Monaten im Bundesvorstand ein gegenüber dem »Flügel« eher freundliches Verhalten an den Tag gelegt. Beide verdanken dem einflussreichen Netzwerk viel und stimmten Parteiangaben zufolge dann auch gegen den sofortigen Entzug der Mitgliedsrechte von Kalbitz. Die Kalbitz-Kritiker*innen um Parteichef Jörg Meuthen setzten sich durch und Kalbitz’ AfD-Mitgliedschaft wurde für nichtig erklärt.

Ein kompliziertes Parteiausschlussverfahren konnte damit nach Auffassung der Vorstands-Mehrheit vermieden werden. Denn Kalbitz habe seine Mitgliedschaft durch das Verschweigen gleichsam erschlichen. Noch wird die AfD in Brandenburg nicht vom Verfassungsschutz beobachtet, doch dessen Abteilungsleiter Jörg Müller ließ vermelden: Im Brandenburger AfD-Landesverband sei keine demokratische Mitte mehr erkennbar. Auf Basis des Gutachtens des Bundesverfassungsschutzes wird der »Flügel« amtlich als eine »erwiesen rechtsextremistische Bestrebung« eingestuft und deshalb offiziell beobachtet. Der »Flügel« der AfD hat sich deshalb aufgelöst. Bis zu diesem Gutachten des Verfassungsschutzes gab es nur Hinweise auf Verstrickungen in die HDJ.

Allerdings hat der Verzicht auf eine inhaltliche Auseinandersetzung mit und Abgrenzung gegenüber der bekannten nationalistisch-völkischen Programmatik der Flügels schon jetzt formaljuristisch eine große Schwäche: Der AfD-Vorstand kann das Dokument, das den Rauswurf des Brandenburger Landes- und Fraktionschefs Andreas Kalbitz begründen sollte, nicht mehr finden. Sein Aufnahmeantrag sei verschollen. Damit steht die beschlossene Nichtigkeit der Mitgliedsrechte von Kalbitz auf einer wackeligen Rechtsgrundlage. Die Abstimmung ging knapp aus: Sieben Mitglieder des Bundesvorstandes stimmten demnach dafür, fünf dagegen, ein Vorstandsmitglied enthielt sich. Diese Mehrheit in der Parteispitze war offenbar der Überzeugung, dass die AfD sofort handeln muss.

Fakt ist: Eine inhaltliche Auseinandersetzung und ein Parteiordnungsverfahren wären der Weg zur Klärung. Jetzt räumt auch der Ko-Vorsitzende Meuthen ein, dass eine juristische Hilfskonstruktion beschritten wurde. Er argumentiert, es gebe zwei unterschiedliche Positionen in der Partei und in der Parteispitze. Das halte die AfD aber aus. Ob die Partei diese Belastung wirklich aushält, wird sich an den Inhalten entscheiden. Meuthen betonte, er gehe davon aus, dass die Entscheidung des Vorstands rechtlich Bestand haben werde. In dieser Frage sei er zuversichtlich, weil man substanzielle Gründe geltend gemacht habe. Diese substanziellen Gründe spielen aber bislangeine untergeordnete Rolle.

Dagegen hat Fraktionschefin Weidel das Verfahren als juristisch angreifbar eingestuft und Fraktionschef Gauland nannte den Beschluss falsch und gefährlich. Auch andere AfD-Mitglieder zeigten sich solidarisch mit Kalbitz. So schrieb seine Stellvertreterin in beiden Ämtern, Bessin: »Wir stehen zu unserem Landesvorsitzenden Andreas Kalbitz.« Der politische Gegner stehe draußen. Das entscheidende Motiv für die aktuelle Konfrontation: Der Verfassungsschutz beobachtet den »Flügel« in der Partei seit Längerem. Befürchtet wird eine Gesamtbeobachtung der AfD. Der Verfassungsschutz ist ein Faktor in dieser politischen Auseinandersetzung. Kalbitz war neben dem thüringischen AfD-Chef Höcke einer der prominentesten Vertreter des rechtsnationalen »Flügels« der Partei. Der Verfassungsschutz hatte den »Flügel« im März als rechtsextrem eingestuft und angekündigt, die Gruppe zu beobachten.

Mag sein, dass die Aufhebung der Mitgliedsrechte von Kalbitz die Eröffnung einer offen ausgetragenen »substanziellen Auseinandersetzung« wird. Dass sich AfD-Vorstand tatsächlich von Kalbitz trennt, damit hatten vorher nur wenige gerechnet. Der Ex-Fallschirmjäger verfügt über großen Einfluss. Gemeinsam mit dem Thüringer AfD-Landeschef Björn Höcke stand er an der Spitze des rechtsextremen »Flügels« in der AfD. Dieser musste sich zwar Ende April auf Druck der Parteispitze auflösen, das mächtige Netzwerk von Höcke und Kalbitz blieb aber weiter bestehen. Der Entzug der Mitgliedsrechte ist für die AfD Ausdruck einer eher verdeckten Abrechnung mit dem »Flügel«.

Sollte sich der »Flügel« im Landesverband Brandenburg weiterhin behaupten, sich also »diese erkennbare Verflügelung weiter fortsetzt«, dann werde sich die Frage nach einer Beobachtung der Brandenburger AfD »immer mehr aufdrängen«, erklärt der Landesverfassungsschutz. Außerhalb der AfD wird der Brandenburger Landesverband der AfD unter ihrem Landeschef Andreas Kalbitz überwiegend als klar rechtsextremistisch eingestuft. Dieser Landesverband sei rechtsextrem, auch wenn nicht jedes einzelne Mitglied oder jeder einzelne Aktivist oder Mandatsträger rechtsextrem sein mag. Lange Zeit habe der Bundesvorstand der Partei nicht zu den Aktivitäten von Andreas Kalbitz Position bezogen, sagte Verfassungsschutzchef Müller.

Ob es bei dem Ausschluss bleibt, ist offen. Die politische Folge ist: Es wird einerseits eine Auseinandersetzung um die juristischen Gründe geben, andererseits wird sich die politische Frage nach den Inhalten der völkisch-nationalistischen Substanz nicht weiterhin bloß am Rande behandeln lassen. Kalbitz kündigte nach der Entscheidung an, er werde sich dagegen zur Wehr setzen. Er wolle »alle juristischen Möglichkeiten nutzen, um diese aus meiner Sicht politische Fehlentscheidung anzufechten«, erklärte er auf Anfrage. In der ARD fügte er hinzu: »Ich glaube nach wie vor an die AfD.« Er werde keine neue Partei gründen.

In der AfD löste die Entscheidung große Unruhe aus. »Flügel«-Anhänger*innen machten mit scharfen Worten gegen Meuthen mobil. Nach dem Entzug der Mitgliedsrechte von Kalbitz bahnt sich ein offener Machtkampf zwischen dem rechtsnationalen Parteiflügel und den Unterstützern des Bundesvorsitzenden Jörg Meuthen an. »Die Spaltung und Zerstörung unserer Partei werde ich nicht zulassen – und ich weiß, dass unsere Mitglieder und unsere Wähler das genauso sehen wie ich«, sagte der Thüringer Landes- und Fraktionschef Björn Höcke.

Höcke hat die Eskalation eingeleitet. Er ist neben Kalbitz der bekannteste Vertreter des rechtsnationalen, offiziell aufgelösten »Flügels«. Höcke greift die Vorstandsmehrheit frontal an. Kalbitz’ Ausschluss sei ein »politischer Akt« gewesen, so Höcke. »Jörg Meuthen und Beatrix von Storch wollen eine andere Partei«, sagte er weiter. Konkret wirft er den Vorständen vor, sich dabei auf Argumente von außerhalb der AfD gestützt und damit Verrat an der Partei begangen zu haben. Darüber hinaus wirft er Meuthen und von Storch die Spaltung der Partei vor und implizit, dass sie die AfD zu einem Mehrheitsbeschaffer für die CDU machen wollten. Zurecht spricht der Politikwissenschaftler Hajo Funke[1] von einem »entfesselten Machtkampf«.

Allerdings wird die Konfrontation von Meuthen offensiv betrieben. Dabei hatte er sich in der Einschätzung der innerparteilichen Kräfteverhältnisse schon vorher verkalkuliert. Seit gut einen Jahr ist Meuthens politische Absicht eindeutig: Er will nicht nur den »Flügel« schwächen, sondern auch die wichtigen Repräsentanten aus der Partei hinausdrängen. Mit seinem kürzlich vorgetragenen Vorstoß, die AfD solle sich in zwei Parteien aufteilen und damit den »Flügel« abspalten, hat Meuthen selbst Verbündete gegen sich aufgebracht. Auf Druck seiner Parteikollegen musste er öffentlich einstehen, einen »großen Fehler« begangen zu haben.

Der Wendepunkt in dem Verhältnis von Meuthen zum »Flügel« war der Landesparteitag in Baden-Württemberg im Februar 2019. Meuthen wollte dort verhindern, dass auf dem Landesparteitag die »radikalen Quertreiber« die Oberhand gewinnen. In einer Rede argumentierte er dort: »Wer hier seine gruppenbezogene Menschenfeindlichkeit ausleben will, dem sage ich ganz klar: Sucht euch ein anderes Spielfeld für eure Neurosen!« Der Saal kochte. Buhrufe und Pfiffe mischten sich mit Applaus und Jubel. Meuthen sprach von »rücksichtslosen Radikalen«. Selten ist er so deutlich geworden. Die Radikalen vom völkischen »Flügel« in der AfD verstanden den Auftritt als Kampfansage. Der vor Kurzem vorgetragene Vorschlag einer Spaltung der AfD brachte allerdings Meuthens weitgehende Isolierung.

Andreas Kalbitz wird aus formalen Gründen die weitere Parteimitgliedschaft verwehrt, nicht aus explizit inhaltlich-programmatischer Unvereinbarkeit der Positionen. Das ist symptomatisch für die AfD, die sich mit programmatisch-ideologischen Debatten schwertut. Auch jetzt ist ein Bruch daher eher unwahrscheinlich. Denn auch in der AfD ist der Leidensdruck durch Attacken seitens der politischen Gegner und der verschärften Beobachtungen durch den Verfassungsschutz nicht so groß, dass das Risiko einer Aufspaltung der Wählerbasis eingegangen wird.

Verschärft durch den Rückgang der Umfragewerte in Corona-Zeiten ist allen parteiinternen Strömungen in der AfD deutlich vor Augen, dass sie nur gemeinsam die nötigen Mehrheiten für Mandate erringen können und rechts von der Union nicht genug Platz für mehrere Parteien ist. Dies könnte sich infolge des wachsenden Protestpotenzials der Gegner*innen der Maßnahmen zur Bekämpfung der Pandemie tendenziell ändern, aber bislang ist die demonstrierende toxische Mischung auch programmatisch-ideologisch sehr heterogen[2] und die Integration dieses Protestpotenzials durch die moderne Rechte ist absehbar noch nicht in Sicht.

Der Vorstand hat Kalbitz wegen fehlerhafter Angaben im Mitgliedsantrag und nicht wegen seiner völkisch-nationalistischen, menschenfeindlichen und undemokratischen Einstellung die weitere Arbeit in der Partei verwehrt. Ko-Parteichef Jörg Meuthen hat selbst betont, es sei eine rechtliche und keine politische Entscheidung gewesen. Es ist also kein Bruch mit der inhaltlichen Programmatik des »Flügels« innerhalb der AfD. Dieses Signal will der Vorstand auch in die Partei hinein senden. Deshalb ist es auch keine Option, eine ähnliche Entscheidung gegenüber Höcke zu treffen. Der Vorstandsbeschluss folgt einer Doppelstrategie. Selbst Meuthen will zwischen den Strömungen und dem dahinter liegenden Stimmenpotenzial keinen offenen Bruch und er hat auch zu wenig Rückhalt. Nach der kürzlichen Niederlage bei seinem Vorschlag einer Spaltung der Partei traut er sich keinen offenen politischen Kampf gegen die Völkisch-Nationalen zu.

In der Partei tobt also ein Machtkampf. Das zeigt auch das knappe Ergebnis beim dem Ausschlussantrag gegen Kalbitz. Meuthen betont in der Regel eine programmatische Unvereinbarkeit, in der es um das Verhältnis von Staat und Markt geht. Aber die Fans einer Marktorientierung sind in Corona-Zeiten sicherlich nicht im Aufwind. Sollte Kalbitz also Recht bekommen, und seine Chancen stehen nicht schlecht, dann ist Meuthen in größter Bedrängnis. An der Parteispitze wäre er dann wohl am Ende. Wenn Meuthen am Ende gehen muss, weil Kalbitz Recht bekommt, dann dürfte die völkisch-nationalistische Strömung in der Partei noch gestärkt werden, die sich jetzt schon zugute hält, dass sie die Trennungslinie gegenüber dem systemkonformen Konservatismus in der »Berliner Republik« aufgezeigt und durchgekämpft hat.

In der Tat: Der parteiinterne Machtkampf ist noch nicht entschieden. Höcke trifft eine verbreitete Stimmung: »Wer sich in einem parteiinternen Konflikt auf Argumente von Parteigegnern« berufe, der begehe »Verrat an der Partei«. Meuthen und der stellvertretenden Parteivorsitzenden Beatrix von Storch warf er daher vor, sie wollten die AfD so verändern, dass sie keine echte Alternative zu den etablierten Parteien mehr wäre. Dieses Argument hat angesichts der Anti-Corona-Proteste durchaus Rückhalt.

Gauland ahnt die Gemengelage: Er habe von Anfang an gewusst, dass Kalbitz früher bei den Republikanern gewesen sei. Was die vom Verfassungsschutz behauptete ehemalige Mitgliedschaft in der HDJ angehe, so wäre der Bundesvorstand gut beraten gewesen, das Ergebnis einer Klage von Kalbitz gegen den Verfassungsschutz abzuwarten. Wie Hajo Funke zurecht resümiert: Die AfD befinde sich seit vier Jahren in einem Prozess der Radikalisierung. Meuthens Position sei mitnichten gefestigt.

[1] Im Juni erscheint von Hajo Funke sein neues Buch Die Höcke-AfD. Vom gärigen Haufen zur
rechtsextremen Flügel-Partei
im VSA: Verlag.

[2] Vgl. dazu Björn Radke, Björn Radke: Toxische Mischung – Die Anti-Corona-Proteste, Sozialismus.deAktuell 15.5.2020.

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