29. Juni 2025 Redaktion Sozialismus.de: Anmerkungen zum SPD-Parteitag

»Voll in die Verantwortung für die Partei« (Klingbeil)

»Veränderung beginnt mit uns« – so lautet das Motto des SPD-Parteitags. Die Sozialdemokraten haben ihr Problem erkannt, auch wenn einige Delegierte monierten, im Motto hätte besser »bei uns« gestanden. Die Partei strebt nach einer Neujustierung.

Doch der Erneuerungsprozess kommt von oben, die Parteiführung selbst gibt den Rahmen in einem Leitantrag vor und die für den anhaltenden Niedergang Verantwortlichen lassen sich für die alten Ideen feiern. Im Niedergang klammern sich die Parteifunktionäre an alte Gewissheiten. Gerade das Treffen zeigt: Die Partei hat sich von ihrer Wählerschaft und der Realität entkoppelt.

Neustart oder weiterer Niedergang?

Die älteste Partei Deutschlands steckt in einer existenziellen Krise und der Parteivorsitzende Lars Klingbeil wird aus den eigenen Reihen maßgeblich dafür verantwortlich gemacht, denn er trägt für das katastrophale Ergebnis von 16,4% bei der letzten Bundestagswahl die politische Verantwortung, aber auch für die bislang verschleppte Auswertung und Aufarbeitung.

Wahlabsichten zum Bundestag für die SPD 1998 bis 2024 in %

Quelle: Forschungsgruppe Wahlen Politbarometer »Sonntagfrage« Bundestagswahl (Projektion);
arithmetische Mittel der Befragungsergebnisse für jedes Jahr, Berechnungen: Richard Stöss 


Ist die SPD noch willens, in den anhaltenden Krisen des modernen Kapitalismus
für die Interessen der Lohnabhängigen einzutreten? Was ist ihre Vision für die Zukunft? Das wollten die Sozialdemokraten auf ihrem Parteitag, denn nach der Bundestagswahl stecken sie in einer Sinnkrise. Und auch die jüngsten Umfragen signalisieren keine Trendwende. Das politische Agieren und die Auseinandersetzung mit der konservativen Politik der christdemokratischen Union wirken jedoch eher hilflos und aus der Zeit gefallen. So will die SPD den Weg für ein AfD-Verbotsverfahren freimachen, obwohl die Union dies niemals mittragen wird.

Neu war an der bisherigen SPD-Politik allein das personelle Machtkartell des Vorsitzenden. Neue Gesichter hatte die SPD für das schwarz-rote Kabinett des Bundeskanzlers Friedrich Merz (CDU) versprochen . Das hat der nun als Finanzminister und Vizekanzler agierenden Klingbeil umgesetzt: Außer Verteidigungsminister Boris Pistorius bleibt keine der Ampel-Minister*innen im Amt. Neue deutsche Arbeitsministerin ist Ex-Bundestagspräsidentin Bärbel Bas.

Die Regierungsbeteiligung hat der SPD bislang nicht genützt, stattdessen beschert sie dem Kanzler trotz seines erneuten Wortbruchs demoskopischen Aufwind. Wie es Klingbeil und Bas unter diesen Umständen gelingen soll, neben der Führung ihrer beiden Schlüsselministerien die SPD programmatisch zu erneuern, ist nicht zu erkennen. Auch wenn ein neues Grundsatzprogramm nötig ist: Spiegelstrich-Diskussionen werden das Blatt nicht wenden können.

»Ich weiß, ich habe Fehler gemacht in den letzten Monaten«, räumte Klingbeil eingangs auf dem Parteitag ein. Er trage Verantwortung für das historisch schlechte Ergebnis der SPD bei der Bundestagswahl. Am Wahlabend habe er mit dem Gedanken gespielt, sich zurückzuziehen. Weshalb er nach der verlorenen Wahl im Februar dennoch an der Spitze der Partei blieb, begründete Klingbeil unter anderem mit dem Kampf gegen die AfD.

Die Rechtsaußen-Partei erzielte bei der Bundestagswahl ihr historisch bestes Ergebnis, auch weil sie den Sozialdemokraten viele Wähler*innen abwarb. Da die anderen Parteien eine Zusammenarbeit mit der AfD ablehnen, hatten nur die SPD und die Union zusammen die nötige Mehrheit, um eine stabile Regierung zu formen. »Ein Ergebnis, das genau eine demokratische Regierungskonstellation zuließ«, wie Klingbeil es formulierte. Allerdings darf bezweifelt werden, ob die Herausforderung durch den Rechtspopulismus in den letzten Regierungsmonaten wirklich erkannt und in politische Alternativen umgesetzt wurde.

Geltend machte Klingbeil auf den Parteitag, dass niemand den Sozialdemokraten in dieser Situation verziehen hätte, wenn sie sich nicht umgehend handlungsfähig geblieben wären. Deshalb habe er vorübergehend neben dem Parteivorsitz auch den Fraktionsvorsitz übernommen, »um auf Augenhöhe mit Friedrich Merz über eine Regierung verhandeln zu können«. Was zugleich ausgedrückt werden sollte: Es gab keine Alternative zu seinem Verhalten von Klingbeil.

Dieser zieht sich bei der Begründung für diese politische Operation auf die These von der staatstragenden Verantwortung zurück. Und dies gilt auch für seine erneute Kandidatur auf dem Parteitag: Er stelle sich »nicht aus Selbstzweck« zur Wiederwahl, »sondern weil ich alles dafür tun will, dass unsere Partei wieder stark wird«, sagt er und räumte zugleich ein, das auch er hätte »viel früher und konsequenter die Signale sehen sollen.«

Zur Wahrheit gehört jedoch auch, dass er den Noch-Kanzler Olaf Scholz und den Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich am Wahlabend in die hinteren Reihen der Partei verbannte. Und als nach der Wahl gegen die nun scheidende Co-Vorsitzende Saskia Esken parteiintern gemobt wurde, ließ Klingbeil die Genoss*innen gewähren.

Besonders im linken Parteiflügel hat man ihm den ruppigen Umgang mit dem Parteipersonal bis heute nicht verziehen – zumal er selbst mit seinem Aufstieg zum Vizekanzler mehr als glimpflich davongekommen ist. Da half es auch nicht, dass Klingbeil in seiner Rede freundliche Worte für Esken fand. Er habe sich manchmal über ihre Hartnäckigkeit geärgert,  in Wahrheit sei er die meiste Zeit schwer beeindruckt gewesen. Die Kritik an ihr sei über das gerechtfertigte Maß hinausgegangen.

Die Quittung für diese Manöver erhielt Klingbeil bei seiner Wiederwahl mit mal gerade 64,9% der Stimmen – ein auch historisch schlechtes Ergebnis. Damit hatte er nicht gerechnet. »Ihr könnt Euch vorstellen, das Ergebnis ist für mich ein schweres Ergebnis. Ich sag' hier mal, ich hätte mir mehr gewünscht«, sagte Klingbeil enttäuscht.

Auch inhaltliche Zweifel an seinem Kurs versuchte Klingbeil abzuwehren. Etliche namhafte Parteimitglieder hatten eine Debatte mit einem Friedens-»Manifest« auf die Agenda gesetzt, in dem sie den außen- und verteidigungspolitischen Kurs der Regierung offen infrage stellten (siehe hierzu auch die Beiträge in der aktuelle Printausgabe von Sozialismus.de). Sie forderten darin eine Kehrtwende in der Russland-Politik, weg von der Logik »Sicherheit durch Stärke und Aufrüstung« hin zu mehr vertrauensbildenden kleine Schritten und Verstärkung der diplomatischen Bemühungen.

Klingbeil unterstrich, dass sich alle einig seien, dass der Krieg in der Ukraine schnell enden müsse. Zu diesen Bemühungen gehöre der unermüdliche Einsatz für die Diplomatie. Er stellte jedoch auch klar, dass sich die Zeiten geändert hätten. »Wladimir Putin ist nicht Michail Gorbatschow.« Man müsse alles tun, um sich vor Putin zu schützen. »Mit mir wird es keinen anderen Weg in der Ukraine-Politik der Partei geben«, versprach er.

Dafür erhielt er den wohl lautesten Applaus während seiner Rede, was zugleich heißt, dass auch eine große Mehrheit der Delegierten für die beständige Befeuerung der Rüstungsspirale ist, alles andere sei Realitätsverweigerung.  Klingbeil macht in seiner Rede aber auch sehr deutlich, was von ihm zu erwarten ist: nämlich kein Abweichen von diesem außenpolitischen Kurs gegenüber Russland.

Wie waren die innerparteilichen Reaktionen auf das Friedens-Manifest? Neben Aussagen, die eher von der Schlichtheit des Denkens mancher Akteur*innen als von ihrem Problembewusstsein zeugen (»fragwürdiges Papier«) oder eine Diskussion blockieren wollen (»Realitätsverweigerung«), wird etwa dem ehemaligen Fraktionsvorsitzenden Rolf Mützenich unterstellt, er wolle sich an Klingbeil rächen, weil er den Vorsitz im außenpolitischen Ausschuss des Bundestags nicht bekommen habe. Als »Quatsch« bezeichnet Mützenich das recht glaubwürdig. Andere sehen im Manifest einen Angriff auf Klingbeils Führungsposition, während Dritte meinen, die Partei müsse »so etwas« aushalten.

In den Auseinandersetzungen darum, ob die im »Manifest« erwähnte Entspannungspolitik unter Willy Brandt Vorbild für die Lösung der gegenwärtigen Probleme der europäischen Sicherheit sein könnte, geht es sowohl um die historische Legitimierung der Vorschläge als auch um die Deutungshoheit über die Politik des früheren SPD-Parteivorsitzenden und Bundeskanzlers. Den Befürwortern wird unter anderem mit der Höhe der damaligen Rüstungsausgaben (3,5% des Bruttoinlandsprodukts) oder dem Verweis auf »neue Zeiten« widersprochen.


Zurückgehenden Debattenkultur

Mützenich dürfte nicht vergessen haben, dass die SPD früher als eine Partei gegolten hat, in der unter Beteiligung der Mitglieder intensiv diskutiert wurde. Die vor allem in den letzten Jahren rapide fortschreitende Wandlung der SPD zu einer professionellen Wähler*innenpartei hat zu einer Veränderung der innerparteilichen politischen Kultur und zur Lockerung ihrer Beziehung zur Gesellschaft geführt. Das ist ein Grund für den seit 2005 kontinuierlichen und bei der Bundestagswahl 2021 nur kurz gestoppten Niedergang der SPD mit deutlich sinkenden Wahlergebnissen. Er ist auch eine Folge der reduzierten Wahrnehmung der Bedürfnisse ihrer Wähler*innen.

Zudem hat sich die Rolle der Mitglieder – es werden immer weniger – verändert. Sie sind kaum noch als Seismografen der Partei in der Gesellschaft gefragt, die dort diskutierte Sachverhalte der Partei vermitteln, sondern primär als Beitragszahlende und Mobilisierungspotenzial für Kampagnen. An innerparteilichen Entscheidungsprozessen werden sie im Wesentlichen mittels einer Top-down-Kommunikation durch die Mitteilung von Ergebnissen beteiligt.

Öffentliche Diskurse sind der Kern einer demokratischen Debattenkultur. Die »Debattenfaulheit«, das heißt der faktische Verzicht auf Diskurse, fördert den Vertrauensverlust in demokratische Parteien und begünstigt Desinformationsprozesse. Insofern hätte die Führung der SPD die Gelegenheit ganz anders nutzen müssen, in einer Situation, in der eine Mehrheit der Deutschen (64%) einen Kriegsausbruch fürchtet, mit der Diskussion über Positionen des Manifests sich eines relevanten Problems der Gesellschaft anzunehmen, und darüber hinausgehend Vorstellungen entwickeln, wie die in der Präambel des Grundgesetzes formulierte Verpflichtung, »dem Frieden der Welt zu dienen«, realisiert werden kann. Das könnte der SPD helfen, sich wieder auf ihre Debattenkultur zu besinnen und zudem ihre Akzeptanz in der Gesellschaft zu fördern.


Neue Hoffnungsträgerin für schwierige Zeiten mit der Union

Beim SPD-Parteitag hat sich die langjährige Ko-Parteichefin Saskia Esken mit einem Aufruf zur Erneuerung verabschiedet. »Ich gehe nicht mit Wehmut, sondern ich gehe mit Dankbarkeit«, sagte sie zu ihren sechs Jahren in der Doppelspitze der Partei. Die SPD habe sich in ihrer mehr als 160-jährigen Geschichte »immer wieder neu erfunden«. Dies sei »ein starker Auftrag« an die Partei nach der »bitteren« Niederlage bei der Bundestagswahl.

»Du warst mein Kanzler«, sagte Esken an Scholz gerichtet. »Wir haben eine Menge miteinander erreicht.« Sie forderte die Delegierten auf, Scholz’ Vision von einer »Respektgesellschaft« auch in Zukunft hochzuhalten. Denn Kernaufgabe der Sozialdemokratie sei es, »dass Menschen von ihrer Hände Arbeit leben können«, sagte Esken, die ihre berufliche Laufbahn selbst als Paketbotin und Kellnerin begonnen hatte.

Hoffnungsträgerin der Partei soll nun Bärbel Bas sein. Sie wurde von den Delegierten mit 95% der Stimmen gewählt und erhielt damit kräftigen Rückenwind. Sie selbst bezeichnete sich als Gegenmodell von Klingbeil. Die bisherige Bundestagspräsidentin und neue Bundesarbeitsministerin, die sich mit einem Hauptschulabschluss auf dem zweiten Bildungsweg hochgearbeitet hat, will laut eigenen Worten kein Blatt vor den Mund nehmen. Nicht nur Menschen mit Hochschulabschluss dürften die SPD-Politik verstehen – ein Seitenhieb, wie sehr die SPD so manchen aus den Augen verloren hat.

Auf ihr lastet jetzt der Druck, dass die Sozialdemokraten wieder Vertrauen gewinnen. »Das sind noch viele Wunden, die müssen wir aufarbeiten«, so Bas. Sie will sich in der männlichen Koalition durchsetzen und erntete viel Applaus im Saal des Parteitags, als sie die Probleme von Frauen in der Politik erwähnte. Man sei als Frau in der Politik auch noch »diesem sexistischen Müll ausgesetzt«, sagte sie. »Wir Frauen sind die Hälfte der Gesellschaft. Wir fordern sie ein, und das ist einfach so.«

Der neue SPD-Fraktionschef im Bundestag, Matthias Miersch, hat seine Partei zur Unterstützung für die sozialdemokratische Regierungsarbeit in der Koalition mit der Union aufgerufen. Er räumte in seiner Rede auf dem Parteitag ein, es seien »schmerzliche Kompromisse, die wir hier eingehen müssen«. Es gebe aber auch wichtige Erfolge und wenn die SPD nicht mitregieren würde, »dann würde dieses Land unsozialer sein«.

Klingbeil sieht sich mit seinem schwachen Ergebnis bei der Wiederwahl zum SPD-Chef (64,9%) auch als Blitzableiter für das historisch schlechte Bundestagswahlergebnis seiner Partei sowie den Umwälzungen danach. Einigen habe es schon nicht gefallen, dass die SPD die Koalition mit der Union eingegangen sei. Auch der von ihm vorangetriebene Generationswechsel im Kabinett, in der Fraktion und in der Parteiführung habe einige nicht glücklich gemacht. Das sei aber alles richtig gewesen.

»Ein bisschen bin ich ja der Blitzableiter vielleicht auch für viele andere, und das gehört dann in der Verantwortung auch mit dazu«, sagte er beim Abend des konservativeren Parteiflügels Seeheimer Kreis. Er wünsche sich nun eines: »Das war jetzt der Tag, wo ein Stück weit auch abgerechnet wurde, was am 23. Februar und danach war – aber jetzt entwickeln wir wieder eine Kraft, nach vorne zu.«

Schieben wir diesen professionellen Realitätsverlust beiseite: Der SPD droht im Bund ein ähnliches Schicksal wie der zuvor in Hessen. Einst auf Augenhöhe mit der CDU ist die SPD in die Rolle eines Juniorpartners geschrumpft, der mit den Grünen nur noch darum konkurriert, wer mit der Union regieren darf.

Zurück