19. April 2020 Otto König/Richard Detje: Bundesregierung erlässt »Covid-19-Arbeitszeitverordnung«

Vom Applaus zur Mehrarbeit

Foto: ver.di-Website

Welcher Politiker hat nicht in den zurückliegenden Tagen Beifall heischend Reden über die herausgehobene Rolle von Beschäftigten in »systemrelevanten« Berufe geschwungen. Pflegekräfte in Krankenhäusern und Altenpflegestätten, Ärzt*innen, Kassiererinnen in den Supermärkten, Müllabfuhr, LKW-Fahrer und all die anderen »Held*innen des Alltags« (so Bundesarbeitsminister Hubertus Heil, SPD) in der Coronakrise wurden aus dem Schatten der Nicht-Aufmerksamkeit hervor gezerrt.

Höhepunkt war der kollektive Beifall der Abgeordneten des Deutschen Bundestages, nachdem die Medien, was äußerst selten der Fall ist, die miserablen Arbeitsbedingungen und miese Bezahlung für einige Tage mit ins Zentrum ihrer Berichterstattung gestellt hatten.

Doch statt die Verbesserung der Arbeitsbedingungen und die Ausweitung des Arbeits- und Gesundheitsschutzes für die Betroffenen in Angriff zu nehmen, höhlt der sozialdemokratische Arbeitsminister deren gesetzliche Schutzrechte aus und verordnet ihnen »Zwölf-Stunden-Schichten«, eine »Verkürzung der Mindestruhezeiten« und »Ausnahmen vom Beschäftigungsverbot an Sonn- und Feiertagen«.

Die von Hubertus Heil und Jens Spahn (CDU) dekretierte »Covid-19-Arbeitszeitverordnung«[1] ist eine Zumutung für jene, die bereits heute am Limit arbeiten, »sei es in der Pflege, im Gesundheitswesen, im Lebensmitteileinzelhandel, den Rettungsdiensten und bei den öffentlichen Verkehrs-betrieben«, kritisiert der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann.

Die Reaktion der Betroffenen folgte prompt: »Wir sind verdammt wütend! Zwölf Stunden Schichten mit nur neun Stunden Ruhephase? Alle die jetzt systemrelevant sind, sollen also verheizt werden?«, twitterten das Berliner und Hamburger »Bündnis für mehr Personal im Krankenhaus«.

In den sozialen Netzwerken wandten sich Krankenschwestern und Pfleger*innen direkt an den SPD-Politiker: »In die Wirtschaft pumpen sie Milliarden und uns beuten Sie weiter aus. Wir bekommen nichts. Gar nichts«, schrieb eine Beschäftigte auf einer Intensivstation. Die Verlängerung der Arbeitszeiten sorge für noch mehr krankheitsbedingte Ausfälle und mache die Pflegeberufe noch unattraktiver, kritisierten Betroffene und stellten fest: Anstatt die Arbeitsbedingungen zu verbessern, würden das ohnehin schon überlastete Personal wie »Zitronen ausgequetscht«.

Das Arbeitszeitgesetz (ArbZG) von 1994 regelt in Paragraf 3, dass die tägliche Arbeitszeit der Arbeitnehmer*innen »acht Stunden nicht überschreiten« darf. Damit liegt die gesetzliche Höchstarbeitszeit bei 48 Stunden in der Woche. Eine Ausdehnung auf zehn Stunden täglich ist nur dann ausnahmsweise möglich, wenn dies innerhalb von sechs Monaten wieder ausgeglichen wird und damit mittelfristig ein Durchschnitt von acht Stunden erreicht werden kann.

Die zentrale Funktion des Schutzgesetzes für die Arbeitnehmer ist, den Übergriffen der Arbeitgeber bezüglich Arbeitszeitverlängerungen entgegenzutreten und das schwächere Glied in der Kette, also den einzelnen Arbeitnehmer, davor zu schützen, dass er sich dem Begehr einer faktischen Übernutzung nicht verweigert bzw. aufgrund der Machtasymmetrie zum Arbeitgeber nicht verweigern kann.

Lange Arbeitszeiten, verkürzte Ruhezeiten und die Verschiebung der wöchentlichen Ruhezeit haben nach langjährigen Erkenntnissen der Arbeitswissenschaft negative Auswirkungen auf die Sicherheit und Gesundheit der Beschäftigten. Die Autor*innen der Studie »Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu Arbeitszeit und gesundheitliche Auswirkungen« stellen unter anderem fest: »Neben ungünstigen Einflüssen auf die Gesundheit zeigen sich negative Zusammenhänge zwischen langen werktäglichen Arbeitszeiten und der Arbeitsleistung bzw. -produktivität der Beschäftigten sowie dem Unfallgeschehen am Arbeitsplatz. (…)

Umfassend belegt ist, dass die Dauer der täglichen und wöchentlichen Arbeitszeit mit der Höhe des Risikos für Fehlhandlungen und arbeitsbedingte Unfälle zusammenhängt. (…) Das Unfallrisiko steigt dabei jenseits der achten Arbeitsstunde exponentiell an, so dass Arbeitszeiten über zehn Stunden täglich hinaus als hoch riskant erscheinen. Nach einer Arbeitszeit von zwölf Stunden ist die Unfallrate im Vergleich zu acht Stunden um das Zweifache erhöht. Schließlich nimmt das Unfallrisiko deutlich zu, wenn Ruhepausen oder Ruhezeiten aufgeschoben oder selten in Anspruch genommen werden.«[2]

Hinzu kommt, dass 30% aller Beschäftigten »sehr häufig« (16%) oder »oft« (14%) körperlich schwere Arbeit leisten. Das gilt nicht nur für Beschäftigte, die in der Produktion oder auf dem Bau arbeiten. Auch in vielen Dienstleistungsbereichen ist die Arbeit körperlich belastend. In den Pflegeberufen sind 74% und in Verkaufsberufen 53% der Beschäftigten betroffen, wie aus der Sonderauswertung der Befragung zum DGB-Index Gute Arbeit 2018[3] hervorgeht. »In der Lebensmittelindustrie arbeiten die Menschen längst am Limit und gefährden tagtäglich ihre Gesundheit, um uns mit Lebensmitteln zu versorgen«, erklärt die Gewerkschaft NGG: »Mit jeder zusätzlichen Stunde im Betrieb steigt das Risiko von Unfällen und die Gefahr, sich mit dem Virus zu infizieren.«

Diese Einwände außer Acht lassend, setzte Hubertus Heil die »Covid-19-Arbeitszeitverordnung« in Kraft, Geltungsdauer von Mitte April bis zum 30. Juni 2020. Konkret heißt das:

  • Die werktägliche Arbeitszeit der Beschäftigten kann auf bis zu zwölf Stunden verlängert werden.
  • Die tägliche Ruhezeit darf um bis zu zwei Stunden verkürzt werden, wobei eine Mindestruhezeit von neun Stunden (bisher elf Stunden) nicht unterschritten werden darf.
  • Arbeitnehmer*innen dürfen auch an Sonn- und Feiertagen beschäftigt werden.
  • Wird von den Abweichungen Gebrauch gemacht, darf die Arbeitszeit 60 Stunden wöchentlich nicht überschreiten. Nur in dringenden Ausnahmefällen darf die Wochenarbeitszeit auch über 60 Stunden hinaus verlängert werden.

Zu den betroffenen Berufen, in denen mehrere Millionen Menschen tätig sind, gehören der Verordnung zufolge der Gesundheits- und Pflegebereich einschließlich der Apotheken, Handel und Logistik für Waren des täglichen Bedarfs, die Verpackungsbranche, Müllabfuhr, Geldtransporte, Rettungsdienste und Feuerwehren, Polizei, Landwirtschaf, Energie- und Wasserversorger sowie die Aufrechterhaltung der Funktionsfähigkeit von Datennetzen und Rechnersystemen.

Die Bundesvereinigung der Arbeitgeberverbände (BDA) begrüßte die Lockerung als einen »ersten Ansatz, Schwierigkeiten in der Anwendung von Arbeitszeitregelungen in den Griff zu bekommen«. Seit Jahrzehnten laufen die Arbeitgeber- und Wirtschaftsverbände Sturm gegen nach ihrer Auffassung »starre und unflexible« gesetzlichen Arbeitszeitregelungen.[4] Der Handelsverband Deutschland (HDE) gehört mit zu den Vorreitern jener Wirtschaftsverbände, die die Lockerung der täglichen Höchstarbeitszeiten zugunsten einer flexiblen Regelung von Wochenarbeitszeiten fordern – ohne Tarifvorbehalt, d.h. ohne Einflussnahme der Gewerkschaften.[5]

Begründete der HDE ebenso wie die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitsgeberverbände die Forderung, den Acht-Stunden-Tag aus dem Arbeitszeitgesetz zu streichen, bis vor kurzem noch mit der zunehmenden digitalen Vernetzung des Arbeits- und Wirtschaftsgeschehens, muss nun die Corona-Pandemie als Begründung dafür herhalten. Letztlich geht es in diesem grundsätzlichen Konflikt zwischen Kapital und Arbeit jedoch darum, den Zugriff der Arbeitgeber auf die Arbeitszeit der Arbeitnehmer*innen zu erweitern und bestehende gesetzliche Hemmnisse bei der Verwertung der Arbeitskraft zu reduzieren oder gar zu beseitigen.

Realität ist, dass viele Beschäftigte in Teilzeitarbeit gehen und damit massive Einkommenseinbußen hinnehmen, weil sie die Arbeitsbelastungen in Vollzeit nicht mehr ertragen können. Arbeitszeitverlängerung ist ein Schlag ins Gesicht dieser Beschäftigtengruppen.

Der DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann bezeichnet die in Kraft gesetzte Regelung als »überflüssig wie einen Kropf«. Tatsächlich entsteht die »personelle Notlage« in der Gesundheitsversorgung und der Altenpflege oder im Lebensmitteleinzelhandel nicht dadurch, dass die Beschäftigten zu wenig arbeiten. Im Gegenteil: Es ist zu wenig Personal da und das Vorhandene arbeitet unter zu hohem Druck mit der Folge der Zunahme von krankheitsbedingten Ausfällen und Burnouts.

Zu Recht warnt der ver.di-Vorsitzende Frank Werneke davor, mit der Gesundheit der Beschäftigten »Schindluder« zu treiben. Und die Industriegewerkschaft Bauen-Agrar-Umwelt beklagt, dass der Staat Unternehmen mit beispiellos hohen Summen von Steuergeldern unterstütze und zugleich Arbeitnehmerrechte wie der Schutz vor Überlastung einschränke. »Solche Regelungen führen zu einer Verschärfung der ohnehin schon starken sozialen Schieflage«, betont der stellvertretende IG BAU-Vorsitzende Harald Schaum.

Das parlamentarische Beklatschen der »Helden der Corona-Krise« ist eine Farce, wenn nicht konkrete Maßnahmen wie beispielsweise eine höhere Entlohnung sowie eine bessere tarifvertragliche Absicherung für die Betroffenen bzw. die Einstellung von mehr Personal folgen, sondern unter dem Deckmantel der Coronakrise die Büchse der Pandora für eine generelle Ausweitung der Arbeitszeit geöffnet wird.

Anmerkungen

[1] Verordnung zu Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz infolge der COVID-19-Epidemie (COVID-19-Arbeitszeitverordnung – COVID-19-ArbZV) vom 7. April 2020.
[2] Beate Beermann/Nils Backhaus/Anita Tisch/Frank Brenscheidt (2019): Arbeitswissenschaftliche Erkenntnisse zu Arbeits­zeit und gesundheit­lichen Aus­wirkungen, Dortmund: Bundesanstalt für Arbeitsschutz und Arbeitsmedizin, 2019.
[3] Ergebnisse einer Sonderauswertung der Repräsentativumfrage zum DGB-Index Gute Arbeit 2018, Institut DGB-Index Gute Arbeit Berlin.
[4] Siehe auch: Otto König/Richard Detje: BDA und BDI greifen Arbeitszeitgesetz an – Kampf um den Acht-Stunden-Tag, Sozialismus.deAktuell vom 31.7.2015.
[5] Bereits hatte der HDE in einer Stellungnahme zu Anträgen von FDP, Grüne und LINKE am 20.06.2018 seine Position so zusammengefasst: »Der HDE begrüßt es sehr, dass der Gesetzentwurf der Bundestagsfraktion der FDP (BT-Drs.19/1174)darauf abzielt, den Wechsel von der täglichen zur wöchentlichen Höchstarbeitszeit zu ermöglichen und damit mehr Flexibilität bei der Arbeitszeitgestaltung zu schaffen. Es handelt sich um einen wichtigen Schritt in die richtige Richtung. Leider greift der Vorschlag doch zu kurz, weil er einen Tarifvorbehalt vorsieht und damit den Gestaltungsspielraum, der durch das EU-Recht eröffnet wird, nicht in vollem Umfang ausschöpft.«

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