4. Dezember 2021 Alban Werner: Sind wir nicht alle ein bisschen Angela?

Von Merkel lernen

Im Jahr 2002 folgte Margaret Thatcher einer Einladung Tory-Abgeordneten Connor Burns, bei einem Abendessen als Rednerin aufzutreten. Als man sie bei dieser Gelegenheit nach ihrem größten Erfolg fragte, lautete ihre Antwort: »Tony Blair und New Labour. Wir haben unsere Gegner dazu gebracht, ihre Meinung zu ändern«.

Als er diese Anekdote aufschreibt, ergänzt Burns einen wichtigen, oft übersehenen Punkt: Ebenso wichtig wie die Regierungszeit Thatchers war der (für viele überraschende) Wahlsieg der Tories 1992, zwei Jahre nachdem Thatcher bereits von John Major als konservativem Premierminister abgelöst worden war. Erst sich daran anschließende Zeitraum brachte den Durchbruch von New Labour und besiegelte, »dass der Sozialismus nicht mehr auf der Tagesordnung stand und die ›politische Mitte‹ deutlich nach rechts bewegt worden war«.[1]

Angela Merkel war und ist keine Maggie Thatcher – weder darin, wie sie inhaltlich regierte, noch darin, wie sie dem Land ihren Stempel aufdrückte. Als sie 2005 zum ersten Mal als Kanzlerin kandidierte, landeten die Unionsparteien nur knapp vor der SPD, eben weil Merkel versucht hatte, als Wiedergängerin Thatchers gewählt zu werden, wofür es in Deutschland weit und breit keine Mehrheit gab. Zu Beginn ihrer Kanzlerschaft hatte Gerhard Schröders Wahlkampf Merkel gezwungen, vielleicht nicht ihre Meinung, aber doch ihre Regierungsinhalte zu ändern.

Am Ende von Merkels Kanzlerschaft war es andersherum. Mit einigem Recht könnte Angela Merkel behaupten, ihr größter Erfolg bestehe darin, dass die Konkurrenzpartei SPD ihren anfangs nicht für möglich geglaubten Wahlsieg auch deswegen einfahren konnte, weil ihr Kanzlerkandidat sich geschickt am unaufgeregt-sachlichen Stil der Kanzlerin orientierte, bis hin zur Nachstellung der bekannten »Merkel-Raute«.[2] Da deutliche Anleihen an Merkels Stil und Auftreten auch bei Scholz Konkurrent*innen Annalena Baerbock und noch mehr Armin Laschet klar anzutreffen waren, muss die Prägekraft der Kanzlerin noch höher veranschlagt werden, als es das nach historischen Maßstäben keinesfalls berauschende SPD-Wahlergebnis nahelegt.


Linkes Schweigen und Hilflosigkeit

Dass Linke sich bis heute auf die lange Regierungszeit Angela Merkels zu wenig einen Reim machen können, liegt nicht alleine daran, dass sich ihre politisch Erbschaft stärker über ihre Methode, ihr Auftreten und eine bestimmte Entwicklung der politischen Kultur auszeichnet. Während es kritische Betrachtungen, Kritiken und Verurteilungen der Reaganomics, des Thatcherismus und der Agenda 2010-SPD zuhauf gibt, muss man etwa nach Analysen der langen Regierungszeit von Helmut Kohl – der unvermeidlichen Referenzgröße für die Ära Merkel – lange suchen.[3]

So sehr die Ära Merkel offenkundig in den Wahlkämpfen und politischen Debatten der Bundesrepublik ihre Spuren hinterlassen hat, so wenig eignet sich ihre Kanzlerschaft scheinbar als Feindbild, das auf der politischen Linken intellektuelle Energien und strategisches Nachdenken freisetzt. Wie stark sich diese Leerstelle bereits gerächt hat, bezeugt nicht nur das wahlpolitische Nahtoderlebnis der LINKEN am Abend des 26. September 2021, sondern auch die Art und Weise, wie Bündnis 90/DIE GRÜNEN ihren Gleichstand mit den Unionsparteien im Frühjahr so leichtfertig und schnell verspielten.

Im Lichte anstehender politischer Aufgaben wie der Bewältigung der Corona-Pandemie, des Klimawandels und der Digitalisierung mehren sich nicht erst seit gestern auch in den intellektuellen Etagen des Bürgertums Auffassungen, die der Methode Merkel geringe Zukunftsfähigkeit bescheinigen.[4] Das ändert allerdings scheinbar wenig an den Erwartungen einer Wählerschaft, die das Regiertwerden nach dem Schema nach wie vor goutiert. Deswegen bleibt der Merkelismus über den Abgang Angela Merkels hinaus eine reale und wirkungsmächtige politische Größe, ähnlich wie der Gaullismus, der Thatcherismus und die Reaganomics noch Jahrzehnte nach dem Abtreten ihrer Namensgeber*innen die politische Landschaft ihrer Länder prägten und auch länderübergreifend Nachahmer*innen fanden.

Kaum aktueller könnte deswegen die Botschaft sein, die der Kultursoziologe Stuart Hall der britischen Linken bereits zwei Jahre vor Thatchers Ablösung ins Stammbuch schrieb: »Solange die Linke den Thatcherismus nicht begreifen kann – was er war, warum er entstand, worin seine historische Eigenart besteht, die Gründe seines Erfolgs darin, die politische Landkarte neu zu zeichnen und die Linke zu desorganisieren – kann sie sich nicht erneuern, weil sie die Welt nicht zu verstehen weiß, in der sie leben muss, will sie nicht in dauerhafter Randständigkeit verschwinden.«[5] Gleiches gilt für die deutsche Linke und den Merkelismus. Wer zu lange dessen Lektionen nicht begreift, begibt sich in Gefahr, in Wiederholung von »New Labour« ausgebliebene Lernprozesse durch umso krassere Anpassung ausgleichen zu müssen.


Vom mystifizierten zum »ehrlichen« Merkelismus?

Zweifelsohne wird es Unterschiede zwischen einer Regierung Merkel und dem politischen Angebot einer Ampel-Regierung geben. Sicherlich wünschen sich tonangebenden Kräfte in der SPD, Olaf Scholz möge schnell einen »Kanzlerbonus« einfahren, der sich wahlpolitisch für seine Partei auszahlt. Ihr Wunsch könnte sich durchaus erfüllen, denn während es kein Ausweis politischer Ehrlichkeit war, wenn Merkel sich als Erfolg den gesetzlichen Mindestlohn zusprach und im Ausland dafür gelobt wurde, werden viele Verbesserungen, die im Ampel-Koalitionsvertrag festgeschrieben sind, sich auch tatsächlich dem Programm und den Bemühungen der Partei hinter dem Bundeskanzler verdanken.

Die heterogenere Zusammensetzung der Bundesregierung bedeutet auch für jede drei Partnerinnen nicht nur Erfolgs-, sondern auch verstärkten Profilierungsdruck. Es ist schwer vorstellbar, dass bis auf die SPD die Ampel-Parteien zulassen werden, wie die CDU in 16 Jahren Merkel inhaltlich und symbolisch hinter einem Kanzler zu verschwinden. Für die Union besteht nach der Ära Merkel die Herausforderung darin, nach dem katastrophalen Ergebnis der Bundestagswahl ihren Ort neu zu bestimmen in Opposition zu einer Ampel-Koalition, die ihr gleichwohl wenig Raum zur kämpferischen Abgrenzung lässt.

Auch darin zeigt sich die Wirkungsreichweite der Ära Merkel: Wirtschafts- und sozialpolitisch enthält der Koalitionsvertrag der Ampel wenig, was nicht auch in einer Wiederauflage einer Koalition aus SPD und Union hätte vereinbart werden können – nicht zuletzt, weil die Zustimmung der FDP mit dem Verzicht auf jegliche offene Umverteilung erkauft werden musste, und weil die Liberalen sich hinsichtlich der Schuldenbremse noch orthodoxer zeigen als die Union. Gesellschaftspolitisch wird zwar an einigen Stellen der Bereich dessen verlassen, was gegen eine Union am Verhandlungstisch durchsetzbar gewesen wäre.

Aber selbst dort, wo es um Information über Schwangerschaftsabbrüche, das Transsexuellen-Gesetz oder das Staatsbürgerschaftsrecht geht, wird vor allem von der Ampel ein gesamtgesellschaftlich bereits vollzogener Gesinnungswandel ratifiziert und nicht avantgardistisch der Wandel vorangetrieben. In einigen Bereichen, etwa beim § 218 bleibt die Ampel sogar hinter dem zurück, was in noch stärker katholisch geprägten Ländern wie Spanien, Frankreich oder der Republik Irland längst gesellschaftliche und gesetzgeberische Normalität ist.

Bei der CDU zeigt sich die Ratlosigkeit bereits überdeutlich im Kandidatentableau für den Parteivorsitz. Auf der einen Seite stehen Norbert Röttgen und Helge Braun, die unschwer erkennbar inhaltlich die Nachfolge Angela Merkels anzutreten suchen. Auf der anderen Seite steht ein noch immer nicht kandidaturmüder Friedrich Merz, dessen radikal wirtschaftsliberales Programm inzwischen nicht einmal mehr von der FDP vor der Wahl programmatisch verfochten wurde. Dazwischen klafft eine himmelweite Lücke.

Nicht mehr unrealistisch scheint für die CDU eine längere Periode des politischen Missvergnügens, bei der wie bei der SPD nach Gerhard Schröder eine Serie wahlpolitischer Niederlagen mit Ablösung im Vorsitz quittiert wird, ohne aber etwas an der Ausrichtung ändern zu wollen. So sehr die Rezepte von Friedrich Merz aus der Zeit gefallen sind, so illusorisch wäre es von der CDU zu glauben, dass sie allein und am besten Merkelismus können. Die lange Serie an Landtagswahlen ohne Abwahl von Ministerpräsident*innen bezeugt, dass ähnliche Motive wie die, die Merkel so lange im Sattel hielten, durchaus auch auf Landesebene wirken und die Strategie präsidial-landesmütterlichen oder -väterlichen Auftretens keinesfalls nur von Vertreter*innen der Union beherrscht wird.[6]


Wichtige Lektionen des Merkelismus

Anstatt Angela Merkel und ihrer Ära Anschuldigungen über ungelöste Probleme, verpasste Chancen oder Verfehlungen bei Klimawandel, sozialer Ungleichheit, europäischer Einigung usw. hinterher zu rufen, sollte die Linke sich fragen, warum es ihr so lange nicht gelungen ist, Merkel wirklich politisch gefährlich zu werden. Tatsächlich war die Linke weitgehend hilflos dagegen, dass die Kanzlerin selbst bis weit in ihre eigene Anhängerschaft ein hohes Ansehen genoss.

Man könnte die Aufgabe damit überschreiben, dass aus der Ära Merkel die Linke, nicht zuletzt die Partei DIE LINKE den Schluss ziehen muss, wichtige Lücken zwischen Wirklichkeit und Notwendigkeit zu schließen. Eine erste Lektion muss daher darin bestehen, sich eine Lagebestimmung der Höhe der Zeit zu verschaffen. Zu oft, zu selbstverständlich werden die Zeiten noch durch die Brille derjenigen Zeitpunkte betrachtet, als ihre Aktivist:innen politisch sozialisiert wurden.

Dementsprechend klafft eine weite Lücke zwischen der wiederkehrenden linken Krisenrhetorik und der Alltagswirklichkeit der Leute, die sie ansprechen, aber auch zwischen ihren Krisendiagnosen und den politischen Eingriffsmöglichkeiten. Angela Merkel hingegen zeigte eine beneidenswerte Fähigkeit, gesellschaftliche Veränderungen und politische Kräfteverhältnisse einzuschätzen und auf dieser Grundlage für sich einen Handlungspfad zu bestimmen.

Zweitens sollte das Wunschbild auf die Bevölkerung, das die linke Brille oft noch eintrübt, einem nüchternen Blick weichen. Linke begehen immer wieder den Irrtum, die eigene Themensetzung und ihre Mobilisierungserfolge mit gesellschaftlichen Prioritäten und Geländegewinnen zu verwechseln. So wichtig der Bewegungsaktivismus an vielen Stellen sein mag, ist eine Bevölkerung, die sich vier Wahlperioden von Angela Merkel regieren lässt, kein Reservoir von Aktivist:innen im Wartestand.

Eine dritte Lücke ist diejenige zwischen der Relevanz von und der Kompetenzzuschreibung bei politischen Themen. Gerade für DIE LINKE rächt sich die lange Untätigkeit am Problem, dass zu weniger ihrer Wähler*innen ihr neben der Benennung auch die Lösung der Probleme zutrauen. Diese Lücke könnte absehbar noch größer werden, da im Lichte von Klimaschutz und Digitalisierung nicht mehr allein die Frage »Können wir es uns leisten?« im Vordergrund stehen wird, sondern eher die Performance-Frage »Können wir es (technisch, organisatorisch, planerisch, personell)?« wirklich schaffen? Wie wichtig diese Frage auch unabhängig der Person Merkel ist, zeigte sich am bemerkenswert schnellen Abschmelzen des CDU-Vorsprungs in den Umfragen, sobald die Probleme im Corona-Management im Frühjahr 2021 deutlich wurden, wie am unerwarteten Aufstieg der Scholz-SPD bis zum Wahltag.

Eine vierte Lücke ist für die Linke besonders schmerzhaft, weil sie die den Unterschied zwischen Fremd- und Selbstwahrnehmung in den politischen Prioritäten der Wähler*innen in der »sozialen Frage« betrifft. Es wartet nicht der Skandal sozialer Ungleichheiten darauf, von der Linken als reife Frucht politisch geerntet zu werden. So sehr soziale Ungleichheiten zu Recht Handlungsantrieb linker Politik sind, so wenig werden sie (jedenfalls außerhalb überschaubarer Kernwählerschaften) zum Motiv, linke Parteien zu unterstützen.

Vielmehr drängt sich ihre Relevanz erst im Zusammenhang mit Fragen sozialer Sicherheit auf. Angela Merkels politische Laufzeit wurde so lange verlängert, wie die Deutschen sich bei ihr sicher fühlten. Dieses durchaus legitime Sicherheitsbedürfnis anzusprechen, zugleich aber eine hinreichend große, kritische Masse von Leuten von der Dringlichkeit, Wünschbarkeit und Machbarkeit einer großen, ökologisch-sozialen Veränderung zu überzeugen, ist wahrscheinlich die nachhaltigste Anforderung, die die Ära Merkel hinterlässt.

Anmerkungen

Alban Werner, Köln, arbeitet mit in den Sozialistischen Studiengruppen (SOST).

[1] Connor Burns, Margaret Thatcher's greatest achievement: New Labour, Conservative Home, 11.4.2008, https://conservativehome.blogs.com/centreright/2008/04/making-history.html
[2] Süddeutsche Zeitung Magazin, Ausgabe 33/2021.
[3] Zu den wenigen Ausnahmen, die die Regel bestätigen, gehören etwa Jens Borchert, Die konservative Transformation des Wohlfahrtsstaates. Großbritannien, Kanada, die USA und Deutschland im Vergleich, Frankfurt a.M./New York 1995; Stephan Lessenich, Dynamischer Immobilismus. Kontinuität und Wandel im deutschen Sozialmodell, Frankfurt a.M./New York 2003; Thomas Biebricher, Geistig-moralische Wende. Die Erschöpfung des deutschen Konservatismus, Berlin 2019.
[4] Zum Beispiel Bernd Ulrich, Wie radikal ist realistisch? Über die verlorene Magie der politischen Mitte, den Niedergang der Merkel-Republik, den Realitätsverlust der Medien – und darüber, wie das Land wieder stabil werden könnte, in: DIE ZEIT, 14.6.2018, S. 2-3.
[5] Stuart Hall, Thatcher’s Lessons, in: Marxism Today, März 1988, S. 20-27, hier S. 20, Übersetzung A.W.
[6] Martin Machowecz, Wer regiert, triumphiert. Bei keiner der elf vergangenen Landtagswahlen wurde ein Ministerpräsident abgewählt. Warum? In: DIE ZEIT, 10.6.2021, S. 2.

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