21. Juni 2024 Hinrich Kuhls: Gereizte Wahlkampfatmosphäre

Vor dem Regierungswechsel in Großbritannien

Der Wahlkampf im Vereinigten Königreich geht in die Endphase. Die Labour Party sieht einem Wahlsieg am 4. Juli entgegen. Die Konservativen und die rechtspopulistische Partei Reform UK kämpfen um den zweiten Platz in der Wählergunst. Liberaldemokraten und Grüne legen zu und die Regionalparteien in Schottland, Wales und Nordirland stagnieren. Und dennoch steht das Land vor keinem reibungslosen Übergang.

Weniger als drei Wochen vor der Wahl hat die Labour Party einen Vorsprung von 15 bis 20 Prozentpunkten vor den Tories. Beide Parteien zusammen sind auf dem besten Weg, ihren niedrigsten gemeinsamen Stimmenanteil seit 1945 zu erreichen. Die Abkehr von den beiden großen Parteien wird in einer aktuellen Umfrage deutlich, nach der beiden Parteien zusammen rund 63% der Wähler*innen ihre Stimme geben wollen.[1]

Damit kehrt sich der Trend der vergangenen Wahlen um, bei denen die großen Parteien die Unterstützung ihrer kleineren Konkurrenten verdrängen konnten. Während die kleineren Parteien im Wahlkampf 2019 zusammen zehn Prozentpunkte verloren, konnten sie in diesem Jahr im Laufe des Wahlkampfs zulegen. Weder können die Tories im konservativen Wählerspektrum ihr bisheriges Wählerpotential ausschöpfen noch die Labour Party im progressiven Lager.


Der Brexit frisst die Tories

Dieser Trend hatte sich schon bei den Kommunalwahlen Anfang Mai gezeigt.[2] Die Wahlergebnisse mit den Mandatsverlusten der Konservativen signalisierten eine Rückkehr zur Konstellation der politischen Kräfteverhältnisse von 2016, als das Land in der Brexit-Frage gespalten war. Diese Spaltung prägt auch heute den Wahlkampf, wie die Wählerwanderungen seit der Parlamentswahl 2019 zeigen, bei denen Ex-Premierminister Boris Johnson mit dem Slogan »Get Brexit done« eine Mandatsmehrheit von 80 Sitzen erringen konnte – ein Wahlergebnis, das als »Erdrutsch« bezeichnet wurde.

Die Verschiebungen bei den Brexit-Gegnern (»Remain voters«) ähneln denen einer normalen Parlamentswahl: Jede Partei gewinnt oder verliert einige Prozentpunkte. Die größte Veränderung ist ein Rückgang von sieben Prozentpunkten bei den Konservativen. Bemerkenswert ist, dass die Unterstützung für die Labour Party bei den Brexit-Gegnern mit 49% auf demselben Niveau liegt. Die insgesamt gestiegene Unterstützung für Labour kommt von den Brexit-Befürwortern und vor allem von jungen Wähler*innen, die beim EU-Referendum 2016 noch nicht mit abstimmen durften.

Bei den Brexit-Befürwortern (»Leave voters«) sind hingegen die Verschiebungen so groß wie bei keiner anderen Gruppe bei einer Wahl in den letzten Jahrzehnten. Das Meinungsforschungsinstitut YouGov stellte bei der letzten Wahl 2019 fest, dass 74% der Brexit-Wähler*innen die Konservativen unterstützten. Diese Zahl ist nun auf 27% gesunken – ein Rückgang um 47 Prozentpunkte –, während gleichzeitig in dieser Hälfte der Wählerschaft die rechtspopulistische Partei von 4% (Brexit-Partei 2019) auf heute 35% (Reform UK) gestiegen ist.

Die Wählerkoalition, die die Tories zwischen 2015 und 2019 schmieden konnten, indem sie ihre Regierungs- und Fraktionspolitik sukzessive in Richtung einer autoritären Überdehnung der Verfassung verschoben, ist an ihrer anhaltenden Austeritätspolitik zerbrochen, mit zwei Folgen: Die Wähler*innen vor allem im Landesteil England, bei denen nationalistische Ressentiments überwiegen, kehren zur rechtspopulistischen Partei zurück. Und von den 52 Mandaten, die die Tories 2019 im »Roten Gürtel«, den Labour-Hochburgen im Norden Englands, gewinnen konnten, werden sie wohl nur zehn verteidigen können, die anderen fallen an die Labour Party zurück oder werden von den Liberaldemokraten gewonnen.

Johnsons strafbares Verhalten während der Corona-Pandemie und die gescheiterte Finanz- und Wirtschaftspolitik von Ex-Premierministerin Liz Truss sind noch nicht vergessen. Vor allem aber hat der Brexit die Glaubwürdigkeit der Konservativen Partei erschüttert. Die Folgen des Brexits bremsen die britische Wirtschaft und untergraben das Vertrauen in die Wirtschaftskompetenz der Partei. Die Steuern sind gestiegen, der Lebensstandard ist gesunken. Der Patriotismus der Partei wurde durch den Ruf des rechten Parteiflügels nach engstirnigem Nationalismus erschüttert. Die beiden Versprechen an die Brexit-Befürworter – weniger Einwanderung und eine bessere Gesundheitsversorgung durch den NHS – wurden beide gebrochen. Die Konservativen sind zu der Partei geworden, die weder für privaten Wohlstand noch für effiziente öffentliche Dienstleistungen steht.

Dies geht über die Probleme hinaus, die durch die Corona-Pandemie und den Inflationsschub nach dem Einmarsch Russlands in die Ukraine verursacht wurden. Die Tories haben nicht nur jene Nationalisten verloren, die glauben, dass die Regierung den Brexit verbockt hat. Sie haben auch zunehmend jene konservativ eingestellten Pro-Europäer*innen verloren, die den Brexit von vornherein nicht wollten. Die Wähler*innen haben nicht nur das Vertrauen in die politische Bilanz der Konservativen verloren, sie haben auch keine Vorstellung mehr davon, wofür die Partei steht.


Vor einem Super-Wahlsieg der Labour Party?

Der »Brexit-Bonus« der Konservativen von 2019 ist dahin und der EU-Austritt und seine negativen Folgen für Wirtschaftswachstum und Beschäftigung werden von keiner Partei umfassend thematisiert – mit Ausnahme der linkssozialdemokratischen schottischen Volkspartei, der SNP.

Der erneute Zusammenschluss rechtspopulistischer Kräfte zu einer Parteienformation – Reform UK – hatte bereits bei den Kommunalwahlen zu Mandatsverlusten der Konservativen Partei geführt. Neu gegenüber dem EU-Referendum 2016 und den Parlamentswahlen 2017 und 2019 ist, dass sich die oppositionelle Stimmung der Wählerschaft weniger stark in der Labour Party bündelt, sondern sich in England auch auf die Liberaldemokraten und die Grünen verteilt und sogar Kleinparteien und unabhängige Kandidaturen begünstigt. Während die Tories die rechtspopulistisch orientierten Teile der Wählerschaft nicht mehr einbinden können und deshalb Reform UK starken Zulauf erhält, bleibt im progressiven Lager die Glaubwürdigkeit des Parteivorsitzenden Keir Starmer nach seinen programmatischen Volten und der Entdemokratisierung der Labour Party angekratzt.

Aufgrund des Mehrheitswahlrechts schlägt sich die geringere Bindungskraft der beiden großen Parteien nicht in einer entsprechend höheren Zahl neuer Mandate für die kleineren Parteien nieder. 650 Mandate sind zu vergeben. Selbst wenn Reform UK mehr absolute Gesamtstimmen als die Tories erhalten sollte, werden ihre Mandatsgewinne an einer Hand abzuzählen sein, sofern sie überhaupt einen Wahlkreis erobern können. Anders als 2019, als die Brexit-Partei keine Bewerber*innen in den Wahlkreisen aufgestellt hatte, in denen konservative Abgeordnete ihr Mandat verteidigten, schickt Reform UK dieses Mal 609 Kandidat*innen ins Rennen. In jedem zehnten Wahlkreis liegen die Rechtspopulisten vor den Konservativen, meist aber hinter der Labour Party.

Die Grünen werden ihr bisher einziges Mandat bestenfalls um drei weitere erweitern können. Und die Hoffnung mancher Liberaldemokraten, mit einer stärkeren Fraktion als die dezimierten Konservativen die offizielle Oppositionsrolle übernehmen zu können, wird sich kaum erfüllen.

Die Wahlumfragen und MRP-Analysen (Multilevel regression with poststratification) der verschiedenen Meinungsforschungsinstitute prognostizieren eine erdrutschartige Verschiebung der Mandate zwischen Tories und Labour.[3] Das Meinungsforschungsinstitut YouGov geht in seiner Prognose von Anfang Juni von 422 (plus 220 gegenüber 2019) Mandaten für Labour und 140 (minus 224) für die Konservativen aus. More in Common prognostiziert 382 Sitze für Labour, 180 für die Tories, und Survation 443 Sitze für Labour, 83 für die Tories, 53 für die Liberaldemokraten, 34 für die SNP und 12 für Reform UK.

Aber auch hier ist Skepsis angebracht: Bei früheren Wahlen sahen die Prognosen Labour meist besser und die Tories schlechter als das Ergebnis am Wahlabend. Dennoch: Alles andere als ein klarer Sieg der Labour Party würde die Professionalität der Meinungsforschungsinstitute erschüttern. Selbst eine Regierungsmehrheit von mehr als 180 Mandaten, die die Labour Party bisher nicht erreicht hat, ist nicht ausgeschlossen. Wie der Blairismus 1997 würde der Starmerismus 2024 mit einem historischen Wahlsieg beginnen.


Wahldebatten und Wahlprogramme

Die großen gesellschaftlichen Herausforderungen wurden im Wahlkampf bisher nur am Rande thematisiert: das enorme Ausmaß sozialer und regionaler Ungleichheit, die sozial-ökologische Transformation, die Digitalisierung der Dienstleistungen und der verbliebenen Industrie sowie die stagnierende Produktivitätsentwicklung. Den Gewerkschaften ist es bisher nicht gelungen, Probleme des Arbeitsmarktes, der Arbeitsbeziehungen und des Arbeits- und Gewerkschaftsrechts zum Wahlkampfthema zu machen. Im Mittelpunkt der Auseinandersetzung stehen die Steuerpolitik und die damit verbundenen gegenseitigen Glaubwürdigkeitsvorwürfe der beiden großen Parteien.

Inzwischen haben die Parteien ihre Wahlprogramme vorgelegt.[4] Den Anfang machten die Konservativen: »Klarer Plan - mutige Aktion – sichere Zukunft«. Die Labour Party titelte »Change« und illustrierte das Titelblatt im Stil der 1990er Jahre mit ihrem Parteivorsitzenden im weißen Hemd. Die Liberaldemokraten folgten mit »For a Fair DealJ und die Grünen mit einem Vorschlag für ein gerechteres und grüneres Britannien: »Real Hope - Real Change«.

Die Scottish National Party (SNP) wird demnächst ihre Karten auf den Tisch legen. Die Medien erwarten, dass sie sich auf Forderungen beschränken wird, die – obwohl das gesamtbritische Parlament gewählt wird – in den Zuständigkeitsbereich des teilautonomen Schottlands fallen, wo die SNP seit fast zwanzig Jahren die stärkste Regierungspartei ist. Trotz dieser Einschränkung wird davon ausgegangen, dass ihr Programm den linken Rand des Parteienspektrums markiert. Lediglich ihr Fraktionsvorsitzender Stephen Flynn thematisiert den TV-Wahlkampfdebatten deutlich die negativen Folgen des Brexits und die Auswüchse sozialer Ungleichheiten. Ob die SNP ihre Rolle als zweitstärkste Oppositionspartei im Unterhaus verteidigen kann, ist fraglich.

Genauso ungewiss ist es, ob unabhängige Kandidat*innen es schaffen, einen Wahlkreis zu gewinnen. Das trifft auch für Bewerber*innen zu, die trotz eines positiven Votums ihrer Wahlkreisorganisation vom Parteivorstand der Labour Party daran gehindert worden sind, für Labour zu kandidieren, wie etwa Faiza Shaheen im Londoner Wahlkreis Chingford and Woodford Green oder der ehemalige Parteivorsitzende Jeremy Corbyn im Wahlkreis Islington North.

Inzwischen hat auch die rechtspopulistische Partei Reform UK ihre Wahlfibel vorgelegt: »Our Contract with you«. Der Parteivorsitzende Nigel Farage verwendet das Wort »Wahlmanifest« ausdrücklich nicht, da es ein Synonym für »Wahlbetrug« sei. Farage, der den Sommer als Wahlkampfhelfer für Trump in den USA verbringen wollte, hatte sich kurzfristig zum »Parteivorsitzenden« küren lassen, indem ihm der bisherige Chef von Reform UK, einer als Unternehmen eingetragenen Organisation, den Vorsitz übertrug.

Die wichtigsten Punkte des rechtspopulistischen Vertragsangebots sind: Austritt aus der Europäischen Menschenrechtskonvention und damit aus dem Europarat, Abschaffung der britischen Umweltziele, der Stopp der »nicht notwendigen« Einwanderung, der Abbau der »Bürokratie« im NHS, um mehr Geld für die Grundversorgung auszugeben, und das Versprechen, »illegale« Einwanderer zu inhaftieren und abzuschieben.

Als ökonomische Vision der Partei kündigte Farage Steuersenkungen im Wert von fast 90 Mrd. Pfund pro Jahr und Ausgabenerhöhungen von 50 Mrd. Pfund pro Jahr an. Um dies zu finanzieren, will die Partei 150 Mrd. Pfund pro Jahr einsparen, und zwar durch Bürokratieabbau, Halbierung des Budgets für Auslandshilfen, Einstellung der Zinszahlungen der Bank of England an die Geschäftsbanken für im Rahmen der Geldpolitik zu hinterlegende Reserven und Eintreibung von Milliarden nicht gezahlter Steuern. Das unabhängige Institute for Fiscal Studies (IFS) bezeichnete die Berechnungen als unseriös.

Der Wahlkampf von Reform UK ist darauf ausgerichtet, nach dieser Wahl zumindest eine kleine Fraktion bilden zu können. Farage kündigte an, auf dieser Basis die Konservative Partei und die Reform Party in der nächsten Legislaturperiode in Opposition zu einer Labour-Regierung zu einer gemeinsamen Neuaufstellung führen zu wollen mit dem Ziel der Regierungsübernahme spätestens 2029. Dass Reform UK in einigen Umfragen derzeit vor den Konservativen liegt, kommentierte Farage mit dem abgewandelten Slogan der Konservativen: »Jede Stimme für die Tories ist eine Stimme für Labour«.


»Konspiration des Schweigens«

Das Kernargument von Premierminister Rishi Sunak und anderen konservativen Spitzenpolitikern lautet: Bei dieser Wahl geht es nicht um die Vergangenheit, sondern um die Zukunft. Schwierige äußere Umstände hätten einige Steuererhöhungen notwendig gemacht, aber die Tories seien längst auf dem Weg der Steuersenkungen und würden diesen auch nach der Wahl fortsetzen. Auch die Inflation sei besiegt. Die Labour Party hingegen habe »keinen Plan«, stehe aber für zukünftige Steuererhöhungen. Dass die im Wahlprogramm enthaltenen Vorschläge auf der Einnahmenseite des Staatshaushaltes keine Senkung, sondern nur eine Verlangsamung des Trends zu Steuererhöhungen bedeuten, wird bestritten.

Das Kernargument der Labour-Führung lautet: Keir Starmer habe in vier Jahren die Labour Party verändert. Jetzt werde er auch das ganze Land verändern. Am Anfang stehe, nur noch Wahlversprechen zu machen, die gehalten werden können, weil sie nichts kosten. Diese Aussicht auf eine neue Runde der Austeritätspolitik fasste die Co-Vorsitzende der Grünen, Carla Denyer, in einer Fernsehdebatte mit den Worten zusammen, Starmer habe die Labour Party in eine konservative Partei verwandelt.

Das Institute for Fiscal Studies (IFS) ist in seiner Bewertung der Wahlprogramme[5] der beiden großen Parteien härter und präziser und wiederholt eine Kritik, die es schon anlässlich der Budgetdebatte im März geäußert hatte: Sowohl Premierminister Sunak als auch Labour-Chef Starmer übten sich in einer »Verschwörung des Schweigens« über die wahre Natur der Finanzen des Landes.

Die Konservative Partei hat Steuersenkungen in Höhe von 17 Mrd. Pfund in den Mittelpunkt ihres Wahlprogramms gestellt und versprochen, die Sozialversicherungsbeiträge zu senken, ohne die Einkommens-, Mehrwert- oder Kapitalertragssteuer zu erhöhen. Für Selbständige versprechen die Tories, die Sozialversicherung der Klasse 4, die derzeit mit einem Satz von 6% auf Gewinne zwischen 12.570 Pfund und 50.270 Pfund erhoben wird, bis 2029-30 abzuschaffen. Diese Maßnahme würde 2,6 Mrd. Pfund kosten und bedeuten, dass vier Millionen Menschen – etwa 93% der Selbständigen – keine Sozialversicherungsbeiträge mehr zahlen müssten.

Für abhängig Beschäftigte verspricht die Partei, nachdem sie die Sozialversicherungsbeiträge im vergangenen Jahr bereits zweimal gesenkt hat, eine weitere Senkung um 2%, was 10 Mrd. Pfund kosten würde. Im Falle eines Wahlsieges würde dies eine Halbierung des Beitragssatzes von 12% zu Beginn dieses Jahres auf 6% bis April 2027 bedeuten – was nach Angaben der Tories für Beschäftigte mit einem Medianlohn eine Ersparnis von 1.350 Pfund pro Jahr ausmachen würde.

Das IFS hat berechnet, dass die Kürzungen zusammen mit anderen Änderungen, die seit 2019 eingeführt wurden – einschließlich der Beibehaltung der eingefrorenen Steuerbemessungsgrenzen – in der Praxis bedeuten würden, dass die meisten Beschäftigten weniger Steuern zahlen würden, wenn die Tory-Regierung bis 2029, dem Ende der nächsten Legislaturperiode, im Amt bliebe, als sie ohne diese Änderungen zahlen würden.

Das Manifest der Labour Party enthält das Versprechen, »die Steuern für die arbeitende Bevölkerung nicht zu erhöhen«, und schließt Erhöhungen der Sozialversicherungsbeiträge, der Mehrwertsteuer (außer auf private Schulgebühren) sowie der Grund-, Höchst- und Zusatzsteuersätze aus. Trotz einiger Spekulationen, dass Labour eine Änderung der Kapitalertragssteuer plane, wurde diese nicht in das Parteiprogramm aufgenommen.

So konkret diese und weitere Vorschläge zur Finanzierung des Regierungshandelns auch sein mögen, die Parteien würden – so die zusammenfassende Kritik des IFS – den Finanzbedarf für die anstehenden Aufgaben im Vereinigten Königreich völlig unterschätzen. Die Kritik am Wahlprogramm der Labour Party fasst das IFS wie folgt zusammen: »Die Konzentration auf Wirtschaftswachstum und Stabilität ist zu begrüßen. Eine Planungsreform, eine effektive Industriepolitik, Versprechen einer Regulierungsreform, eine gewisse Bildungsreform – all das ist notwendig. Die Details bleiben dünn, aber im Großen und Ganzen scheint der Fokus richtig zu sein. Bessere Politik kann zu besserem Wachstum führen, und es gibt viel Raum für eine bessere Politik. Aber das Wachstum wird Zeit brauchen, und sein Ausmaß ist ungewiss.«

Aber schon eines der zentralen Wahlversprechen Labours, die Wartezeiten in den Arztpraxen und Krankenhäusern des NHS drastisch zu verkürzen, zeige das Grundproblem einer Politik des Wandels, die diesen Namen nicht verdient: »Ein Bereich des öffentlichen Dienstes, für den große Versprechungen gemacht werden, ist der NHS. Die Labour Party hat sich erneut zu einem Personalplan, zur Abschaffung aller Wartezeiten von mehr als 18 Wochen und zu mehr Krankenhäusern bekannt. Große Versprechungen, die aber auch große Ausgaben erfordern werden.

All dies wird Labour vor ein Problem stellen. Angesichts der aktuellen Prognosen und insbesondere der zusätzlichen Kreditaufnahme von 17,5 Mrd. Pfund über einen Zeitraum von fünf Jahren zur Finanzierung des Plans für einen grünen Aufschwung bleibt – innerhalb der fiskalischen Beschränkungen, auf die sich Labour verpflichtet hat – buchstäblich kein Spielraum für mehr Ausgaben als von der derzeitigen Regierung geplant. Und diese Pläne sehen Kürzungen sowohl bei den Investitionsausgaben als auch bei den Ausgaben für ungeschützte öffentliche Dienstleistungen vor. Doch Sir Keir Starmer hat solche Kürzungen effektiv ausgeschlossen. Wir wissen nicht, wie eine Labour-Regierung die Quadratur des Kreises schaffen will.

Ja, das Wachstum könnte positiv überraschen, und dann wäre die Haushaltsarithmetik einfacher. Aber wenn nicht – wie in den letzten Jahren – dann werden wir entweder diese Kürzungen bekommen, oder die Haushaltsziele werden verzerrt, oder die Steuern werden erhöht. Die im Wahlprogramm angekündigte Erhöhung der laufenden Ausgaben um rund 5 Mrd. Pfund dient vor allem der Finanzierung zusätzlicher Versprechen für den NHS und die Schulen, anstatt das Ausmaß der angedeuteten Ausgabenkürzungen bei ungeschützten öffentlichen Dienstleistungen deutlich zu verringern. Wie die Konservativen und die Liberaldemokraten hüllt sich auch Labour weiterhin in Schweigen über die Schwierigkeiten, die auf sie zukommen würden. Diese Herausforderungen sind bereits völlig klar. Die Bücher sind offen. Eine Schock- und Horrorroutine nach den Wahlen über den Zustand der öffentlichen Finanzen wird es nicht richten.«[6]

Die Parlamentswahlen finden am 4. Juli statt, das Unterhaus tritt am 9. Juli erstmals zusammen, und das State Opening, die Eröffnung der Parlamentssession mit der Verlesung der Regierungserklärung des neuen Kabinetts durch König Charles III., ist für den 17. Juli vorgesehen. Wes Streeting, designierter Gesundheitsminister und potenzieller Nachfolger von Sir Keir Starmer, will noch forscher agieren: Er kündigte an, dass er am Tag, an dem er seine Ernennungsurkunde erhält, mit der Gewerkschaft der Assistenzärzte telefonieren werde, um deren laufenden Streik zu beenden.

Anmerkungen:

[1] Tories and Labour on course for lowest share of the vote since 1945, The Observer, 19.6.2024. Auswahl weiterer Quellen für diesen Beitrag: Will the election leave you better off? FT, 15.6.2024; Charts reveal legacy of 14 years under the Conservatives, FT 15.6.2024.
[2] Vgl. Hinrich Kuhls: Unwägbarkeiten nach den Mandatsverlusten der Konservativen. Kommunalwahlen in London und Teilen Englands, Sozialismus.de Aktuell, 9.5.2024.
[3] MRP-Wahlanalysen: YouGov (1.6.2024): https://yougov.co.uk/elections/uk/2024; More in Common (2.6.2024): https://www.moreincommon.org.uk/general-election-2024/mrp/;  Electoral Calculus (14.6.2024): https://www.electoralcalculus.co.uk/prediction_main.html; Survation (13.6.2024): https://www.survation.com/mrp-update-first-mrp-since-farages-return/.
[4] Die Wahlprogramme:
The Conservative and Unionist Party Manifesto 2024: Clear Plan, Bold Action, Secure Future: https://manifesto.conservatives.com/
Change. Labour Party Manifesto 2024: https://labour.org.uk/change/
Liberal Democrats: For a Fair Deal. Manifesto 2024: https://www.libdems.org.uk/manifesto
Green Party: Real Hope – Real Change: https://greenparty.org.uk/about/our-manifesto/
Reform UK: Our Contract with You: https://www.reformparty.uk/policies
Jeremy Corbyn: An Independent Voice – Islington North’s Manifesto for the Many not the Few: https://www.votecorbyn.com/manifesto.
[5] Institute for Fiscal Studies (IFS): Manifesto Analysis: https://ifs.org.uk/microsite/election-2024.
[6] Institute for Fiscal Studies (IFS): Labour Party manifesto: an initial response, 13.6.2024; https://ifs.org.uk/articles/labour-party-manifesto-initial-response.

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