24. Juni 2020 Holger Politt: Polen im Wahlkampffieber

Vor der ersten Runde der Staatspräsidenten-Wahlen am 28. Juni

Wahlplakat (Foto: Politt)

Polens Wahlvolk wird am 28. Juni zur Stimmabgabe gerufen, gesucht wird der Staatspräsident für die kommenden fünf Jahre. Der Einsatz ist entsprechend hoch, es geht auf den beiden Hauptseiten um sehr viel.

Das nationalkonservative Regierungslager will die Wahlergebnisse aus dem vergangenen Jahr absichern, also vor allem die knappe absolute Mehrheit der Sitze im Sejm, in der unteren Parlamentskammer. Amtsinhaber Andrzej Duda, der im Frühjahr vor fünf Jahren mit seinem überraschenden Erfolg den nationalkonservativen Siegeszug in Polen eingeleitet hatte, tritt dementsprechend wieder in erster Linie als Kandidat der Nationalkonservativen auf – die aktuelle Präsidentenrolle ist vor allem Mittel zum Zweck. Ein Satz, wonach er sich als ein Staatsoberhaupt aller Polen fühle, kommt ihm in diesem Wahlkampf nicht mehr über die Lippen. Zu tief sind die Gräben, niemand könnte sich noch täuschen. In letzten Umfragen werden Duda 40 bis 42% vorhergesagt.

Gegen Duda treten fünf Kandidaten an, die mit nennenswerten Wählerstimmen rechnen können. Auf der Seite desjenigen Teils in der Öffentlichkeit, der in den zurückliegenden Jahren oft genug und in vielfacher Weise die geltende Verfassungsordnung gegen das Vorgehen des Regierungslagers zur faktischen Aufhebung der Gewaltenteilung verteidigt hatten, hat Rafał Trzaskowski ganz klar die größten Chancen – er wird nach Lage der Dinge Duda in die Stichwahl zwingen. Dem Kandidaten der im Kern liberal ausgerichteten Bürgerlichen Koalition werden mittlerweile 30% prognostiziert.

Ihm folgt im Oppositionslager der parteiunabhängige Szymon Hołownia, ein bekannter jüngerer Fernsehmann, der vielleicht 9% holen könnte. Dahinter kommen auf dieser Seite Władysław Kosiniak-Kamysz, der die moderaten Agrarier der PSL führt und es auf 7 bis 8% der abgegebenen Stimmen bringen könnte. Für die Linkskräfte tritt Robert Biedroń an, der in den Umfragen zuletzt deutlich nachließ und meistens nur noch auf Werte von unter 5% kommt. Einige Beobachter rechnen ihn bereits zu den großen Verlierern dieser langen Wahlschlacht. Zusammengerechnet käme dieser Teil im Oppositionslager somit auf knapp 50%.

Auf der rechten Flanke wird Duda von Krzysztof Bosak attackiert, der ein nationalistisches Programm vertritt und den Austritt Polens aus der Europäischen Union für dringend geraten hält. Zuletzt wurden Bosak 5% der Wählerstimmen vorhergesagt, in manchen Umfragen lag der Wert auch noch darüber. Diese Stimmen werden für den Fall der Stichwahl in den Berechnungen schnell dem Amtsinhaber zugeschoben, doch gibt es auch Stimmen, die nicht davon ausgehen.

Einig sind sich zuletzt nahezu alle Beobachter, dass es am 12. Juli zur Stichwahl kommen wird, weil keiner der Kandidaten im ersten Wahlgang die nötigen 50% der abgegebenen Stimmen überschreiten wird. Einig sind sich alle, dass es dann zum Duell zwischen Duda und Trzaskowski kommen wird. Und einig sind sich alle, dass schließlich der Mobilisierungsfaktor in den beiden Lagern – dem nationalkonservativen Regierungslager und dem Verfassungslager – entscheiden wird. Alle Register müssten eingangs des Sommers also gezogen werden.

Entsprechend zugespitzt ist die politische Situation, zudem unter den Bedingungen der anhaltenden Corona-Krise, die den Wahlkämpfer*innen ohnehin tüchtig zugesetzt hat.[1] Die Nationalkonservativen reizten die Karten frühzeitig aus, attackieren unerbittlich vor allem den gefährlichsten Kontrahenten. In den dazugehörigen Medien darf er sogar als »Kulturterrorist« bezeichnet werden, weil er die auf den christlichen Fundamenten beruhende sittliche Ordnung im Lande gefährde. Als amtierender Stadtpräsident von Warschau setzt er sich für Sexualunterricht in den höheren Klassenstufen ein, also wird er als jemand verschrien, der die armen Kinder pädophil erziehen wolle.

Manche in dem von Jarosław Kaczyński geführten Lager gehen soweit, öffentlich zu behaupten, dass Trzaskowski als Präsident gar das Weiterbestehen des polnischen Volkes insgesamt aufs Spiel setze. Schnell wurde eine Waffe herausgeholt, die so etwas wie den Matchball erzwingen sollte: Das Gespenst der LGBT-Ideologie. Mit »LGBT-Ideologie« meinen die Nationalkonservativen das Auftreten von Menschen mit anderer als heterosexueller Orientierung im öffentlichen Raum, dann vor allem, wenn demonstrativ Gleichstellung und Gleichberechtigung gefordert werden. Zuletzt verstiegen sie sich zu der Behauptung, mit ihrem Kampf gegen die »LGBT-Ideologie« seien gar nicht Menschen gemeint, sondern eben nur die schädliche Ideologie.

Ob Duda in der Stichwahl diesen Matchball bringen wird, ist fraglich, denn scharfe Reaktionen in der polnischen Öffentlichkeit und deutliche Stellungnahmen im EU-Ausland haben den Nationalkonservativen die Grenzen aufgezeigt, worauf führende Leute beflissen erklärten, sie wollten ja gar nicht unter die Bettdecke schauen. Also spielen andere Themen wieder eine größere Rolle – so die soziale Karte, so der Kampf gegen das, was sie die Überbleibsel des Kommunismus im öffentlichen Raum nennen, so die Gefährdungen für das Vaterland, wenn die anderen ans Ruder kämen.

Vielleicht illustriert das abgebildete Wahlplakat ganz gut, wie die Nationalkonservativen den Wahlkampf ausgerichtet haben: Abgebildet sind die vier Kandidaten aus dem Verfassungsbogen – Trzaskowski, Hołownia, Biedroń und Kosiniak-Kamysz. Gefragt werden die Kandidaten, ob sie als Präsidenten folgende Gesetz unterschreiben würden: die Einführung des Euro, die Abschaffung des gesetzlichen Kindergelds, die Erhöhung des gesetzlichen Renteneinstiegsalters auf 67 Jahre, die Einführung der gleichgeschlechtlichen Ehe mit Adaptionsrecht, schließlich die von der EU per Verteilungsschlüssel aufgedrückte Aufnahme von Flüchtlingen.


[1] Siehe dazu auch Holger Politt, Die Corona-Krise in Polen. »Neue Normalität« statt Ausnahmezustand, auf Sozialismus.de vom 8.4.2020.

Holger Politt ist Leiter des Büros der Rosa-Luxemburg-Stiftung in Warschau sowie Übersetzer und Herausgeber des polnischen Werks von Rosa Luxemburg. 2016 erschien von ihm und Krzysztof Pilawski im VSA: Verlag Polens Rolle rückwärts. Der Aufstieg der Nationalkonservativen und die Perspektiven der Linken. 2020 gaben beide ebenfalls im VSA: Verlag Rosa Luxemburg: Spurensuche. Dokumente und Zeugnisse einer jüdischen Familie heraus.

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