13. Juni 2021 Joachim Bischoff/Björn Radke: GRÜNEN-Parteitag appelliert an Veränderungswillen der Gesellschaft

Vor einem konfrontativen Wahlkampf

Die GRÜNEN standen bei ihrem Wahlparteitag unter beträchtlichem Druck: Die Nachmeldung einer Gehaltsprämie bei der Bundestagsverwaltung und vor allem Ungereimtheiten im Lebenslauf ihrer Kanzlerkandidatin Annalena Baerbock ist von den politischen Kontrahenten und etlichen Medien zum Skandal aufgeblasen worden.

Damit sollten Fehler dieses Personalangebots der grünen Alternative auf die gleiche Ebene gehoben werden wie die Pandemie-Korruptionen (Masken etc.) von anderen Mitgliedern der politischen Klasse. Die Bundesdelegierten der grünen Partei wählten Annalena Baerbock und Robert Habeck gleichwohl mit einem Votum von 98,5% zu Spitzenkandidat:innen für die Bundestagswahl und beschlossen anschließend ein Wahlprogramm mit 98%.

Die Hoffnungen auf parteiinterne Quittungen der Basis gegenüber dem grünen Führungspersonal erwiesen sich als Illusion, denn auch der Großteil der umfangreichen Änderungsanträge zum Wahlprogramm wurde abgelehnt. Noch wenige Tage vor dem Parteitag lag der Fokus der veröffentlichten Meinung auf einem möglichen »Zitterparteitag«, auf dem vor allem radikale Positionen das Wahlprogramm verändern könnten, damit die Führung geschwächt würde und Spekulationen, der Parteitag könnte Baerbock durch Habeck als Kanzlerkandidaten ersetzen.

Punktgenau zum Parteitag platzierte die »Initiative Neue Soziale Marktwirtschaft (INSM)« in mehreren Zeitungen und auf Webseiten Anzeigen, auf der Annalena Baerbock als Moses mit zwei zwei Gebots-Tafeln darstellt wurde. Eine Variante hatte die Überschrift »Wir brauchen keine Staatsreligion«, ein andere hatte die Headline »Annalena und die 10 Verbote. Grüne Verbote führen uns nicht ins gelobte Land«. In einer Presseerklärung zum Grünen-Parteitag erläuterte die Initiative, die nach eigenen Angaben von den Arbeitgeberverbänden der Metall- und Elektro-Industrie finanziert wird, ihre Absicht: »Große Teile der Grünen wollen den Bürgerinnen und Bürgern vorschreiben, wie sie in Zukunft fahren, reisen, essen, wohnen und ihr Geld ausgeben dürfen.«

Die Bundesvereinigung der Deutschen Arbeitgeberverbände (BDA) distanzierte sich inzwischen von dieser Kampagne: »Persönliche Herabsetzungen und eine misslingende Verwendung christlicher Symbolik sind kein angemessener Umgang im notwendigen Wettstreit um politische Inhalte.« Andere Kritiker:innen der INSM-Aktionen verwiesen auf Stereotype von Antijudaismus und Antisemitismus bzw. auf die Anschlussfähigkeit seitens der extremen Rechten.

Sicherlich gibt es im Unternehmerlager fanatische Gegner einer Klimapolitik und einer Transformation der kapitalistischen Ökonomie in Richtung Nachhaltigkeit. Auf der anderen Seite gibt es auch in den industriellen Kommandozentralen Positionen, die einen solchen Umbau für erforderlich und unaufschiebbar halten. Der einflussreiche Industriemanager Joe Kaeser, bis März 2021 Vorstandsvorsitzender des Siemens-Konzerns, repräsentiert diese andere Sicht im Unternehmerlager.

Er betonte in einem Zeitungsbeitrag, dass er alle drei Kanzlerkandidaten für integer und geeignet halte. Allerdings stehe vor allem Baerbock für eine sozial-ökologische Marktwirtschaft, die Deutschland brauche: »Wichtig ist ihr Pragmatismus, wenn es um Zusammenhänge geht: Sie sieht die ökologischen Aspekte, weiß aber auch, dass wir ein Industrieland sind.« Dass ihr Regierungserfahrung fehle, ist für ihn »kein entscheidender Faktor … Für die Zukunft ist die Vergangenheit auch nicht immer hilfreich.«

Die zentrale politische Absicht der Grünen in der anstehenden Wahlauseinandersetzung wurde auf dem Parteitag noch einmal unterstrichen: Es sollen auch und vor allem Bürger:innen jenseits ihrer Stammwähler:innenschaft für einen Politikwechsel mit der Kernbotschaft einer sozial ausgewogenen Klimapolitik erreicht werden. Baerbock argumentierte in ihrer Rede daher, alles, was es für gute Veränderung brauche, sei in unserem Land vorhanden: Erfindergeist, Solidarität und Vielfalt. Nun gehe es darum, dass eine neue Regierung diese Anstrengungen und Wagnisse nutze: »Mein Ziel ist klimagerechter Wohlstand für alle.« Der Industrie schlug sie in ihrer Rede einen »Pakt« vor: »Es geht um eine verbindliche Verabredung, dass der Staat Unternehmen jene Kosten ausgleicht, die sie zusätzlich bis jetzt noch erbringen müssen, wenn sie klimaneutral werden wollen – made in Germany«.

Das sei eine »Politik, die den richtigen Rahmen setzt«, mit einer Regierung, die in neue Technologien investiere und eine sozial-ökologische Marktwirtschaft auf den Weg bringe. Wer sauber produziert, soll auf dem Markt einen Vorteil haben. Nur wenn Klimaschutz den Alltag mitdenke und alle Menschen im Blick habe, würden Bündnisse für Klimaschutz dauerhaft Bestand haben. »Deshalb beschließen wir Grünen auf diesem Parteitag ein Energiegeld, das vor allem Menschen mit geringen Einkommen und geringen CO2-Ausstoß entlastet. Wer weniger CO2 ausstößt, profitiert. Und zusätzlich senken wir die Strompreise. So machen wir sozialen Klimaschutz.«

Zugleich betonte Baerbock die Bedeutung eines handlungsfähigen Europa: »Wir können Deutschland erneuern – unser Aufbruch muss aber ein europäischer sein« Wenn schon die neue US-Regierung 1,9 Billionen Dollar in die Energiewende und Infrastruktur investiere, »dann sollten wir genau das auf unserer Seite des Atlantiks nutzen und den europäischen Green Deal in eine transatlantische Allianz für Klimaneutralität einbringen.«

Schon zu Beginn des Parteitags hatte Robert Habeck die Delegierten seiner Partei auf den anstehenden konfrontativen Wahlkampf einstimmt: Klimaschutz muss sozial gerecht sein, sonst funktioniert er nicht, Veränderung sei nur möglich mit der Mehrheit der Menschen. Er forderte, ein Jahrzehnt der Investitionen auf den Weg zu bringen, das klimagerechten Wohlstand, sozialen Zusammenhalt, Freiheit und Demokratie zugleich garantiere. »Wenn beides zusammenkommt, die öffentliche Finanzierung, also mehr Investitionen in unsere Gesellschaft, in unseren Zusammenhalt und die Investitionen der Unternehmen und der privaten Haushalte, halten wir nicht nur Deutschland zusammen – dann halten wir Europa zusammen.«

Mit Blick auf den Vorwurf der »Verbotspartei« wies der grüne Co-Vorsitzende darauf hin, dass Freiheit nicht »Regellosigkeit« bedeute, sondern es gehe um die Freiheit, sicher durch die Innenstädte zu fahren, mit dem Nachtzug quer durch Europa zu reisen, und ohne Zensur und staatliche Willkür zu leben. Und Habeck verband in seiner Rede ausdrücklich Klimaschutz mit Sozialpolitik: »Gerechtigkeit und Klimaschutz gehören zusammen – und sie müssen zusammen gedacht und durchgesetzt werden.« Eine gute soziale Sicherung für Arbeitslose ist dafür ebenso erforderlich wie eine Kindergrundsicherung und vor allem gute Löhne sowie starke Tarifbindungen.

Er stimmte die Delegierten auf den »Wahlkampf unseres Lebens« ein, in dem man mit »Gelassenheit und Stärke« gehen werde. Die Partei dürfe weder für Programmradikalismus noch für eine Beliebigkeit zugunsten von Mehrheiten stehen. »Wir sind ambitioniert bis zum Anschlag, aber nicht darüber hinaus. Wir sind pragmatisch und spielen nicht Wünsch-Dir-was. Was wir beschließen, sollte umsetzbar sein. Wenn wir wissen, dass etwas nicht klappen kann, sollten wir es nicht beschließen.« Diese Botschaft ist bei den Delegierten angekommen.

Auch der baden-württembergische Ministerpräsident Wilfried Kretschmann hat sich an die Seite der Parteiführung gestellt und zugleich darauf hingewiesen, dass wenn nun die Grünen erstmals auch im Bund einen politischen Führungsanspruch anstrebten, Union und SPD sie zum Hauptgegner erklären. »Deshalb greifen die auch gerade zu allen Mitteln – egal ob redlich oder nicht … Da werden Ungenauigkeiten im Lebenslauf von Annalena aufgebauscht, Versäumnisse bei der Meldung von Einkünften als Bundesvorsitzende zur Staatsaffäre erklärt und die Zahl der Änderungsanträge bei unserem Parteitag in die Nähe eines Misstrauensvotums gerückt.«

CDU/CSU-Kanzlerkandidat Armin Laschet reagierte wie erwartet auf diese Kampfansage und lehnt zentrale Forderungen der Grünen strikt ab. »Die Energiewende muss sozialverträglich sein. Das fehlt mir bei den Grünen«, sagte er der »Bild am Sonntag«, und setzt nach der Wahl eher auf die Liberalen als möglichen Koalitionspartner: »Die FDP steht uns inhaltlich deutlich näher als die Grünen«, so Laschet, der in Nordrhein-Westfalen seit 2017 mit den Liberalen regiert. »Christian Lindner kenne ich lange und schätze ihn sehr.«

Es bleibt also spannend bis zu den Bundestagswahlen. Schwarz-Grün ist keineswegs eine feste politische Option. Entscheidet sich die Mehrheit der Bürger:innen nach einem kontroversen Wahlkampf zu einem Richtungswechsel hin zu Klimaneutralität und Klimawohlstand oder bleibt es bei bloßen Korrekturen an der bisherigen Entwicklung im Rahmen einer schwarz-liberalen Koalition? Eine knappe Mehrheitsentscheidung für die Grünen mit der Chance auf eine Kanzlerin Annalena Baerbock könnte möglicherweise eine Öffnung der Union bewirken. Bislang hat die große konservative Formation des bürgerlichen Lagers ihre programmatischen Ziele noch nicht auf den Tisch gelegt. Für ein politisches »Weiter so« einer konservativ-liberalen Koalition ist eine genaue und überprüfbare Zielbestimmung auch nicht so wesentlich.

Die grüne Partei fordert mit ihren programmatischen Vorschlägen und einem neuen Politikstil[1] die bundesrepublikanische Gesellschaft und deren politische Kräfte heraus. Die sozialdemokratische Zukunftskonzeption hat bislang keine überzeugende Resonanz gefunden und auch das »politische Ass« dieser einstigen Volkspartei hat in den Umfragen keine umstürzende Zugkraft entfaltet, so dass die SPD weiterhin um ihren Tiefpunkt von ca. 15% pendelt.

Auch die vor Jahren als Alternative zur in den Neoliberalismus verstrickten Sozialdemokratie entstandene Partei DIE LINKE konnte aus diesem chronischen Niedergangsprozess keine Kraft gewinnen, führt innerparteiliche Richtungskämpfe samt persönlicher Fehden weiter und muss noch einige Anstrengungen und ein Mindestmaß an politischer Substanz aufbieten, um nicht gar an der 5%-Hürde zu scheitern.

Wie in anderen europäischen Gesellschaften auch, wird eine entscheidende Richtungsauseindersetzung im 21. Jahrhundert von den Parteien der politischen Linken eher begleitet als entscheidend beeinflusst.

Anmerkung

[1] Siehe hierzu ausführlicher unsere Auseinandersetzung mit dem von Robert Habeck skizzierten grünen Projekt der ökologischen Transformation in der März-Ausgabe von Sozialismus.de.

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