21. November 2022 Joachim Bischoff
Vor einer Ära der Inflation?
Der Chef der Chef der Bank für Internationalen Zahlungsausgleich (BIZ), Agustín Carstens, befürchtet den Übergang in eine Ära der Inflation: Die Welt steht »an der Schwelle zu einer neuen inflationären Ära«.
Viele Faktoren, die in den vergangenen Jahrzehnten für Preisdruck sorgten, werden an Gewicht verlieren oder in die umgekehrte Richtung wirken. Man sollte sich daher nicht der Illusion hingeben, das angenehme Leben mit niedrigen Schuldzinsen und tiefer Inflation kehre bald zurück. In der Tat: Erstmals seit 80 Jahren ist die Inflation ein globales Phänomen. Die Anzahl der betroffenen Länder ist sehr groß.
Die Inflationsrate in Deutschland − gemessen als Veränderung des Verbraucherpreisindex (VPI) zum Vorjahresmonat – lag im Oktober 2022 bei +10,4%. Sie hat sich damit gegenüber September 2022 erneut erhöht. »Die Inflationsrate erreichte mit +10,4% einen neuen Höchststand im vereinigten Deutschland«, sagt Dr. Georg Thiel, Präsident des Statistischen Bundesamtes, und erklärt: »Hauptursachen für die hohe Inflation sind nach wie vor enorme Preiserhöhungen bei den Energieprodukten. Aber wir beobachten zunehmend auch Preisanstiege bei vielen anderen Waren und Dienstleistungen.«
Auch in der Eurozone hat die Inflation im Oktober einen neuen Höchstwert erreicht. Angetrieben von den Energiepreisen betrug die Teuerung laut Eurostat 10,7%. Das setzt die Notenbank EZB weiter unter Druck, durch weitere Erhöhung der Leitzinsen die Kredite und damit die gesellschaftliche Wertschöpfung weiter zu dämpfen. In der Eurozone wird die Inflation vor allem durch angebotsseitige Preisschocks bei fossilen Brennstoffen befeuert.
Erstmals seit der Einführung des Euro ist die Inflation im Euroraum über die Marke von 10% geklettert. Wie bereits in den vergangenen Monaten legten besonders die Energiepreise zu. Im Oktober betrug die Steigerung 41,9%. In Europa sowie in Deutschland entsteht die Preisdynamik über die Energiepreise, d.h. die Länder müssen für importierte fossile Brennstoffe viel höhere Preise bezahlen. Das schlägt sich dann auch auf Kosten etwa der Elektrizitätsherstellung im Inland nieder.
Es ist in erster Linie eine Inflation, die aus der Angebotsseite kommt. Durch die Beseitigung der klimatisch bedingten Engpässe bei der Kühlung, Transport etc. sowie die Behebung der Stillstände in den französischen Atomkraftwerken und der Diversifizierung beim Import von LNG-Gas sind die enormen Preisspitzen an den Börsen bereits zurückgegangen. Durch diverse Maßnahmen zur Preisdeckelung bei Strom und Gas sowie rückläufigem Verbrauch sind weitere Effekte bei der Absenkung der Energiepreise zu erwarten.
Die Entwicklung in den USA hat einen anderen Hintergrund: Hier sind vorwiegend Nachfragefaktoren aufgrund der heiß gelaufenen Wirtschaft für die Preissteigerungen verantwortlich. Die massiven Konjunkturpakete haben eine Belastung des Wirtschaftspotenzials ausgelöst.
Allerdings ist die US-Teuerungsrate im Oktober auf 7,7% gefallen – stärker als von Ökonom*innen prognostiziert. Im September hatte die Inflation bei 8,2% gelegen. Diese Abschwächung der Teuerung – schon den vierten Monat in Folge – nährt Hoffnungen, dass der Höhepunkt der Inflationsentwicklung in den USA überwunden sein könnte. Dennoch liegt die Teuerungsrate immer noch fast viermal so hoch wie von der US-Notenbank Federal Reserve (Fed) angestrebt.
Die US-Währungshüter streben eine Inflationsrate von 2,0% an. Sie sind sich bewusst, dass ihre Zinserhöhungen nur mit zeitlicher Verzögerung Wirkung zeigen. Die Federal Reserve treibt den Leitzins seit Monaten in ungewöhnlich großen Schritten nach oben, um die Inflation in Schach zu halten. Zuletzt erhöhte sie ihn erneut um einen Dreiviertel-Prozentpunkt. Er liegt damit aktuell in einer Spanne von 3,75 bis 4,00%. Die Fed will nachlegen, signalisierte aber, dass sie bald etwas Tempo bei den Straffungsschritten herausnehmen möchte.
Nach der zügigen Anhebung der Leitzinsen werden jetzt die Auswirkungen der monetären Straffung immer deutlicher und parallel hierzu der sogenannte Basiseffekt immer relevanter. Denn die Inflation wird im Jahresvergleich gemessen und die Vergleichsraten stiegen eben vor einem Jahr gewaltig an, wie die Grafik aufzeigt.
»Es wird einige Zeit dauern, bis die Inflation wieder ein normales Niveau erreicht hat – und auf dem Weg dorthin könnte es zu Rückschlägen kommen«, sagte US-Präsident Joe Biden. Die Wirtschaft sei aber auf dem richtigen Kurs.
Der Think-Tank Flossbach von Storch Research Institute weist auf die Geldschwemme der Notenbanken in der Pandemie hin, die einen Geldüberhang geschaffen habe. Dieser könne die Inflation auf Jahre hinaus nähren. Simulationen zeigten, dass die Inflation in den USA bis Mitte des Jahrzehnts bei einer Höhe von jährlich 6% und in der Euro-Zone von 4,75% bleiben könne.
Die US-Notenbank Fed glaubt, sie könne die Inflation senken, ohne dem US-Arbeitsmarkt größeren Schaden zuzufügen. So argumentiert eine Fed-Vertreterin: »Durch Leitzinserhöhungen wollen wir die Wirtschaft abbremsen und die Arbeitsnachfrage besser mit dem Angebot in Einklang bringen.« Sie sei weiterhin »optimistisch, dass es einen Weg zur Wiederherstellung des Gleichgewichts auf dem Arbeitsmarkt mit einem nur mäßigen Anstieg der Arbeitslosenquote gibt.« Zugleich räumte sie aber auch Risiken bei diesem Vorhaben ein. Mit 3,7% liegt die Arbeitslosenquote in den USA in der Nähe des Rekordtiefs von 3,5%.
Zuletzt hatten sich ungewöhnlich viele Fed-Vertreter*innen dahingehend geäußert, dass sich an ihrer Einschätzung zur Inflation nichts geändert habe und das, obwohl immer mehr Daten auf einen nachlassenden Preisdruck hindeuten. Das zeigt sich besonders deutlich am nachlassenden Druck auf die Lieferketten – einem der Hauptgründe für die im zurückliegenden Jahr sprunghaft angestiegenen Inflationsraten.
Der Fed zufolge befindet sich der Zustand der Beschaffungsketten bereits fast wieder auf dem Niveau von vor dem Corona-Ausbruch, der zu gewaltigen Störungen führte. Doch gleichzeitig bleiben z.B. die Erstanträge auf Arbeitslosenunterstützung in den USA trotz der bereits massiven Zinserhöhungen in diesem Jahr auf einem extrem niedrigen Niveau. Das ist sicher nicht das, was die Notenbankvertreter gerne sehen, deutet es doch darauf hin, dass die Nachfrage am Arbeitsmarkt noch immer anhält.
Oliver Blanchard, ehemaliger Chefvolkswirt des Internationalen Währungsfonds (IWF), ist optimistisch, dass die Preissteigerung zurückgehen wird, wenn die Europäische Zentralbank (EZB) und die Fed weiterhin ihren Plan befolgen. Das langfristige Ziel der EZB, eine Preisstabilität mit einer Inflationsrate von 2% zu erreichen, könne erreicht werden, indem der Leitzins bis Ende Dezember auf 0,75 Prozentpunkte erhöht wird, so Blanchard. Das sei notwendig, da die Realzinsen, das heißt der Zinssatz abzüglich der Inflationsrate, in Europa noch negativ ausfallen. Danach sei für die EZB Abwarten höchste Priorität, um zu überprüfen, wie sich der Kurs entwickelt. Das sei besonders im Winter wichtig, da noch eine Ungewissheit herrscht, die sich auf die Wirtschaft auswirken könne.
Allerdings gilt es zu beachten: Aufgrund der eher nachfragegetriebenen Preisdynamik in den USA sind Zinserhöhungen hier ein wesentlich effektiveres Instrument. Die letzten Monate zeigen, dass der »Teuerungs-Peak« in den USA bereits überschritten sein könnte, sofern keine neuen exogenen Schocks auftreten. In der Eurozone kann die Geldpolitik dagegen nur indirekt reagieren, da sie auf die zentralen Treiber der Inflation, die Angebotsschocks auslösenden fossilen Brennstoffe, keinen unmittelbaren Einfluss hat.
Wie weiter mit der Inflationsdynamik?
In den USA können wir von einem weiteren abgeschwächten Ansteigen der Zinsen auf 4,75% bis 5% für Mitte nächsten Jahres ausgehen. Danach könnten bei einer abgeflachten Inflationsdynamik auch sukzessive wieder Zinssenkungen erfolgen. Für Europa müssen wir uns bis Mitte nächsten Jahres auf einen Anstieg der Leitzinsen auf über 3% einstellen. Sollten die Projektionen der EZB-Volkswirte zur Inflation im Euroraum jedoch angehoben werden, dürfte die Leitzinserhöhung sogar noch stärker ausfallen.
Der Anstieg der Zinsen wird bei der Konjunktur deutliche Bremsspuren auslösen. Schon jetzt wird einem Teil der Länder der Euro-Zone ein Ableiten in eine rezessive Entwicklung für 2023 prognostiziert. Aber die Zentralbanker*innen der EZB schätzen die volkswirtschaftlichen Gefahren und Kosten eines verlangsamten Wachstums oder gar einer Schrumpfung geringer ein als die einer aus dem Ruder laufenden Inflation.
Wenn die privaten Haushalte aufgrund der höheren Zinsen weniger Geld ausgeben, sinken in der Folge die Preise für diverse Waren. Weil gleichzeitig die Energiepreise wegen des Umbaus des Energiemixes höher bleiben, wird die Inflation zwar nicht so schnell wieder auf 2% sinken, wie es die Notenbanken gerne sähen. Gleichzeitig werden die Preissteigerungen aber schon bald nicht mehr zweistellig sein.
Wenn es nach Corona-Krise und Ukraine-Krieg zu keinen weiteren externen Schocks kommt, dürften die Teuerungsraten im kommenden Jahr merklich fallen. Die politische Aufmerksamkeit dürfte sich wiederum auf das Wirtschaftswachstum richten, wobei die Rückwirkungen der Leitzinsen auf die Konjunktur in der EU kritischer ausfällt.
Angesichts der großen Unsicherheit, des hohen Energiepreisdrucks, der Kaufkrafterosion bei den privaten Haushalten, des schwächeren außenwirtschaftlichen Umfelds und der restriktiveren Finanzierungsbedingungen wird erwartet, dass die EU, der Euroraum und die meisten Mitgliedstaaten im letzten Quartal des Jahres 2022 in eine Rezession abgleiten werden. Dennoch dürften die starke Dynamik von 2021 und das kräftige Wachstum in der ersten Jahreshälfte das reale BIP-Wachstum im Jahr 2022 insgesamt auf 3,3% in der EU (3,2% im Euroraum) ansteigen lassen – und damit deutlich über die in der Sommerprognose prognostizierten 2,7%.
Da die Inflation das verfügbare Einkommen der Haushalte weiter schmälert, dürfte sich der Rückgang der Wirtschaftstätigkeit im ersten Quartal 2023 fortsetzen. Es wird erwartet, dass das Wachstum im Frühjahr nach Europa zurückkehrt, da die Inflation allmählich ihren Griff auf die Wirtschaft lockert. Angesichts des starken Gegenwinds, der die Nachfrage nach wie vor bremst, dürfte die Wirtschaftstätigkeit jedoch gedämpft sein und das BIP-Wachstum im Jahr 2023 sowohl in der EU als auch in der Eurozone insgesamt 0,3% erreichen.
Erst 2024 wird das Wirtschaftswachstum voraussichtlich allmählich wieder an Fahrt gewinnen und im Durchschnitt 1,6% in der EU und 1,5% im Euroraum betragen. Wir stehen also nicht an der Schwelle zu einer hohen Preisdynamik, sondern vor allem die Mitgliedsstaaten der EU werden durch die Abschwächung des Wirtschaftswachstums herausgefordert. Neben der Abschwächung der Globalisierung und der weiteren Verschiebung in der demografischen Zusammensetzung der gesellschaftlichen Arbeitskörper wird die Dekarbonisierung das Wirtschaftspotenzial herausfordern.
Der Umbau in Richtung einer klimaneutralen Wirtschaft (Dekarbonisierung) ist eine gewaltige Transformation. Es braucht Investitionen in Technologien, Produktionskapazitäten und Energiequellen. Diese Investitionen eröffnen Wachstumschancen. Zugleich muss der CO2-Preis in allen gesellschaftlichen Bereichen angehoben werden. Diese Verteuerung ist zwar politisch erwünscht, weil sie dazu führt, dass fossile Energieträger weniger attraktiv werden. Wenn so die Grundlagen für ein neues Wachstum gelegt werden sollen, muss der begleitende Mix von Zinssteuerung durch die Notenbanken und Konjunkturimpulsen stimmen.