6. Juni 2024 Redaktion Sozialismus.de: Die BJP verliert die absolute Mehrheit in Indien

Wahlgewinner Modi?

Die hindu-nationalistische Partei des bisherigen indischen Ministerpräsidenten Narendra Modi büßt bei der Parlamentswahl entgegen aller Erwartung ihre absolute Mehrheit ein und ist zur Regierungsbildung auf Koalitionspartner angewiesen. Es gilt gleichwohl als sicher, dass Modi für eine dritte Amtszeit von fünf Jahren weiterregieren kann.

Die Bharatiya Janata Party (BJP) gewann laut Hochrechnungen mit ihren Partnern eine Mehrheit der Sitze und kann damit die nächste Regierung bilden. Der 73-Jährige wird Indien also für weitere fünf Jahre regieren können – es ist seine dritte Amtszeit. Allerdings blieb seine Partei deutlich hinter den Erwartungen und ihren eigenen Zielen zurück.

Modi hatte die Messlatte für einen Erfolg im Wahlkampf selbst sehr hoch gehängt: Seine Regierungskoalition werde mehr als 400 der zur Wahl stehenden 543 Sitze im Unterhaus gewinnen und ihre Mehrheit ausbauen. Dieses Ziel hat er offensichtlich verfehlt. 

Über 960 Mio. Inder*innen waren wahlberechtigt. 642 Mio. von ihnen nutzten ihr Stimmrecht. Einen Weltrekord nannte es die Wahlkommission. Dieses Jahr wählten zwar rund 30 Millionen mehr als bei den letzten nationalen Wahlen 2019. Allerdings war die Wahlbeteiligung rund einen Prozentpunkt tiefer als vor fünf Jahren, damals lag sie bei 67,4%.

Die Menschen hätten seiner Regierungskoalition »zum dritten Mal in Folge ihr Vertrauen ausgesprochen«, schrieb Modi. In der Tat dürfte seine Partei nach Hochrechnungen auf Basis eines relevanten Teils der bereits ausgezählten Stimmen mit etwa 240 Mandaten im Lok Sabha, dem indischen Parlament, wieder stärkste Partei werden, jedoch ihre absolute Mehrheit verlieren.

Die BJP hatte im Wahlkampf stark auf den selbst geschaffenen Personenkult um Modi gesetzt, der sich als Indiens starker Mann präsentierte, das Land zu einem Staat nur für die hinduistische 80%ige Bevölkerungsmehrheit machen will. Nach Jawaharlal Nehru, dem ersten Premierminister des Landes, wird er voraussichtlich der zweite Staatschef in der Geschichte Indiens werden, der drei Amtszeiten in Folge regieren kann. Doch statt seine Machtbasis wie erhofft weiter auszubauen, steht er jetzt geschwächt da.

Zum einen hat Modi, der vor zehn Jahren mit dem Versprechen an die Macht kam, die indische Wirtschaft umzugestalten, das Land stark verändert. Er ließ Milliardensummen in neue Infrastruktur stecken, überall in Indien gibt es neue Flughäfen, Autobahnen und Bahnverbindungen. Es sind diese sichtbaren Symbole, die ihn bei den Wähler*innen populär machten.

Zum anderen hat die BJP während seiner Regierungszeit in den vergangenen zehn Jahren ein System geschaffen, das ihre Macht zementieren soll. Kritischer Journalismus ist in Indien seit Jahren unter Druck, die populären TV-Sender sind alle auf Regierungslinie. Mit den sogenannten Wahlanleihen schuf sie ein intransparentes Parteifinanzierungssystem, von dem sie vor allem selbst profitierte. Mehrere Oppositionspolitiker saßen wegen Korruptionsvorwürfen während des Wahlkampfes in Untersuchungshaft, die Konten der oppositionellen Kongress-Partei wurden eingefroren.

Schon jetzt werden Muslime und andere religiöse Minderheiten zunehmend wie Bürger*innen zweiter Klasse behandelt. Modi bezeichnete Muslime gar als »Eindringlinge«. Den Wahlkampf begann er auf den Ruinen einer jahrhundertealten Moschee, die radikale Hindus zerstört hatten. Einem Priester gleich weihte er dort einen großen hinduistischen Tempel ein. Seine Agenda ist das genaue Gegenteil der Vision von Gründervater Mahatma Gandhi, der sich einst für eine strikte Trennung von Religion und Staat ausgesprochen hatte.

Auf der einen Seite hat sich Indiens Wirtschaftsleistung nahezu verdoppelt, inzwischen ist das Land die fünftgrößte Wirtschaftsmacht der Welt, was Investoren anlockt. Überall wird es um sein Wirtschaftswachstum beneidet, die Aktienmärkte boomen. Die Digitalisierung schreitet voran, mobile Netze sind günstig. Im vergangenen Jahr gelang Indien sogar eine erfolgreiche Mondlandung – als erst viertem Land überhaupt. Doch es gibt Risse in der schönen Fassade.

Denn auf der anderen Seite finden viele Menschen keinen Job, Arbeitslosigkeit und Inflation sind hoch. Rund 800 Mio. der 1,4 Milliarden Menschen kommen offiziellen Angaben zufolge nur mit Sozialhilfe über die Runden. Das Wachstum ist extrem ungleich verteilt. Immer wieder wies das Oppositionslager um die Kongresspartei auf diese Zustände hin – und fand nun offenbar Gehör.

Das Oppositionslager warnte immer wieder vor einer Aushöhlung der Demokratie unter Modi. Auch wenn die Wahlkommission die Parlamentswahl mit knapp einer Milliarde zur Abstimmung gerufenen Menschen gerne die »größte demokratische Übung der Welt« nannte, machen sich viele Sorgen. »Wenn man Modis zweite Amtszeit als Maßstab nimmt, wird eine dritte Amtszeit nicht gut für die langfristige Gesundheit der indischen Demokratie sein«, so der Politologe und Südasien-Experte Sumit Ganguly von der Indiana University in den USA.

Demgegenüber schrieb Modi jegliche positive Entwicklung seines Landes seiner eigenen Führung zu und nutzte die bisher immer größer werdende Bedeutung Indiens auf der Weltbühne. Die Regierungen Deutschland, der USA und anderer westlicher Staaten suchen angesichts des Bedeutungszuwachses und des immer selbstbewusster auftretenden Chinas zunehmend engere Beziehungen zum Subkontinent. Dabei sehen sie gern darüber hinweg, dass Indien beim Ukraine-Krieg neutral bleibt, viel günstiges russisches Öl kauft und gute Beziehungen zu Moskau pflegt.

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