15. Mai 2022 Gerd Siebecke: Impressionen vom 22. DGB-Bundeskongress

Wandel ist weiblich

Die Fotos entnahmen wir der Website der EVG

Vom 8. bis zum 12. Mai 2022 tagte in Berlin das 22. »Parlament der Arbeit«. Das Motto des ordentlichen DGB-Bundeskongresses – »Zukunft gestalten wir« – machte bereits deutlich, dass sich die bundesdeutschen Gewerkschaften aktiv in die demokratische und wirtschaftliche Gestaltung der Zukunft des Landes einmischen wollen.

Die 400 Delegierten aus den acht Mitgliedsgewerkschaften IG Metall, ver.di – Vereinte Dienstleistungsgewerkschaft, IG Bergbau, Chemie, Energie, IG Bauen-Agrar-Umwelt, Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten, EVG – Eisenbahn- und Verkehrsgewerkschaft, Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft und Gewerkschaft der Polizei diskutierten mehr als 70 Anträge und beschlossen die zukünftigen Grundlinien, Schwerpunkte und die strategische Ausrichtung des vor allem politischen Handelns des gewerkschaftlichen Dachverbands.

Und sie wählten eine deutlich weiblicher geprägte Führungsspitze. Zum ersten Mal ist mit Yasmin Fahimi eine Frau zur Vorsitzenden des Dachverbands von aktuell 5,7 Millionen Gewerkschaftsmitgliedern gewählt worden. Die Delegierten des Kongresses gaben ihr mit über 93% Stimmenanteil einen deutlichen Vertrauensvorschuss. Ebenfalls mit Wahlergebnissen von über 95% wiedergewählt wurden Elke Hannack zur stellvertretenden Vorsitzenden sowie Anja Piel und Stefan Körzell als Mitglieder des Geschäftsführenden DGB-Bundesvorstands. Der bisherige DGB-Vorsitzende Reiner Hoffmann und das bereits 2020 ausgeschiedene Bundesvorstandsmitglied Annelie Buntenbach wurden mit großem Beifall verabschiedet.

Traditionell steht am Beginn des Kongresses neben Grußworten (diesmal von Bundespräsident Frank-Walter Steinmeier und der Regierenden Bürgermeisterin von Berlin, Franziska Giffey; Bundeskanzler Olaf Scholz und Arbeitsminister Hubertus Heil sprachen an folgenden Tagen) eine kulturelle Einstimmung vor den Wahlen und Antragsberatungen und -abstimmungen an den nächsten Tagen. Der Eröffnungstag war der 8. Mai – der Tag der Befreiung vom Nationalsozialismus. Darauf und auf den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine gingen nicht nur die Gastredner*innen ein, sondern er prägte auch die kulturellen Beiträge von Vortragenden und Musiker*innen.

Sie zogen Linien von der Geschichte der Gewerkschaftsbewegung zu aktuellen Herausforderungen. Auf der Leinwand wurden historische Bilder eingeblendet, die in heutige übergingen, traditionelle Arbeiterlieder wurden neu interpretiert und mit aktuellen Gesängen wie »You never walk alone« ergänzt. Studierende der Hochschule für Schauspielkunst Ernst Busch zitierten u.a. Friedrich Engels, Hans Böckler, Gewerkschaftsfrauen und Ester Bejarano. Mit ihrem Zitat »Plötzlich gab es keine Nazis mehr. Uns aber hat Ausschwitz nicht verlassen« wurde angemahnt, die Verbrechen der Nazis nicht zu vergessen. Am Schluss des von den Delegierten bejubelten kulturellen Intros wurde das aus der US-Bürgerrechts- und Gewerkschaftsbewegung stammende »We Shall Overcome« angestimmt – mit der Botschaft: für Frieden, soziale Gerechtigkeit und Gleichberechtigung, damals wie heute. Anschließend gingen die Delegierten auf den Hof und formten mit Schildern »Gewerkschaften für den Frieden« das Peace-Zeichen.


#Nie wieder Krieg. Gewerkschaften für den Frieden

Ein Transparent mit dieser Forderung war im Kongresssaal angebracht. Der Ukraine-Krieg war in nahezu allen Diskussionsbeiträgen Thema. Die Delegierten beschlossen nach längerer Debatte den vom Bundesvorstand eingebrachten Initiativantrag »Krieg gegen die Ukraine sofort beenden. Transformationskurs halten, wirtschaftliche und soziale Kriegsfolgen abfedern. Rahmenbedingungen für Frieden und Sicherheit in Europa neu bewerten« in geänderter Fassung. Darin heißt es u.a.: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften fordern die russische Regierung auf, alle Kampfhandlungen unverzüglich einzustellen, ihre Truppen zurückzuziehen und die territoriale Integrität und Souveränität der Ukraine wiederherzustellen.« Die internationale Staatengemeinschaft solle neben der Unterstützung der Ukraine »auch nach diplomatischen Lösungen [...] suchen, um einen sofortigen Waffenstillstand und ein Ende des Krieges zu ermöglichen«.

Weiter heißt es in dem Beschluss: »Wir treten für eine Bundeswehr ein, die ihrem grundgesetzlichen Auftrag als Verteidigungsarmee gerecht werden kann. Allerdings fordern der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften die Bundesregierung zugleich auf, nicht an der von ihr angekündigten Absicht festzuhalten, den deutschen Rüstungshaushalt dauerhaft auf das Zwei-Prozent-Ziel der NATO oder darüber hinaus aufzustocken. Diese Festlegung sowie eine Verankerung des Zwei-Prozent-Ziels im Grundgesetz lehnt der DGB ab.«

Zwar hätten die Gewerkschaften Respekt vor den Entscheidungen, die die Bundesregierung zu treffen habe, »aber wir teilen nicht alles, was derzeit auf den Weg gebracht wird«, machte die neue DGB-Vorsitzende mit Blick auf die Rüstungsausgaben deutlich: »In unserem leistungsstarken Land für alle kommenden Generationen ein Zwei-Prozent-Ziel für Verteidigung festzulegen, halte ich für willkürlich und grundfalsch.« Außerdem dürfe die Notwendigkeit einer angemessenen Ausstattung der Bundeswehr »nicht zum Freifahrtsschein für Militärausgaben werden«.

Und auch das geplante Sondervermögen für die Bundeswehr in Höhe von 100 Mrd. Euro wird in dem Beschluss als nicht »nicht sinnvoll« erachtet und »vom DGB und seinen Mitgliedsgewerkschaften kritisch beurteilt.« Stattdessen sollten die Mittel für die »Entwicklungszusammenarbeit und für die Konfliktprävention künftig mindestens der Dynamik der Ausgaben für Verteidigung folgen«. Es gehe darum, »zu dem Ziel einer allgemeinen und weltweit kontrollierten Abrüstung zurückzukehren. Es muss alles getan werden, um die neue Politik militärischer Konfrontation zurück zu drängen und einen neuen weltweiten Rüstungswettlauf zu verhindern. Wir treten für eine weltweite Ächtung von Atomwaffen ein. Wir lehnen die nukleare Teilhabe Deutschlands ab. Wir treten dafür ein, dass die Lagerung von Atomwaffen in Deutschland endlich beendet wird.«


Aufbruch für eine gerechte Transformation und sozialen Frieden

Im Mittelpunkt des Kongresses standen gleichwohl die Herausforderungen der Transformation in all ihren Facetten. In der Grundsatzrede nach ihrer Wahl als DGB-Vorsitzende hat Yasmin Fahimi die Aufgabe der Gewerkschaften als Schutzmacht voller Gestaltungskraft herausgestellt. Gerade in Zeiten fundamentaler Veränderung, Krisen und Fehlentwicklungen in der Politik dürften Gewerkschaften nicht missverstanden werden.

»Wir sind eben keine staatliche Institution, die einfach selbstverständlich da ist. Wir sind auch keine Versicherung, die nur im Bedarfsfall Leistungen erbringt. Wir sind gelebte Solidarität.« Dafür müssen die Mitgliedergewerkschaften mit Unterstützung des DGB »dringend noch mehr Menschen für uns begeistern. Denn ohne unsere Mitglieder sind wir nichts. Unsere gewerkschaftliche Kraft gewinnen wir nur dadurch, dass wir die Solidarität der Vielen organisieren.« Nur mit einer starken Gewerkschaftsbewegung könne dafür gesorgt werden, »dass es auch in der Transformation gerecht zugeht und der soziale Frieden gesichert bleibt«.

Allein eine demokratisch gestaltete Transformation könne zur Erfolgsgeschichte werden: »Wer sich Tarifverträgen verweigert, wer das Recht auf Mitbestimmung im Betrieb, im Unternehmen und der Dienststelle glaubt ignorieren zu können, der verurteilt die sozial-ökologische Transformation unserer Wirtschaft und Gesellschaft zum Scheitern. Sie wird nur mit den Beschäftigten und ihrer Kompetenz gelingen – und nicht gegen sie.«

Deswegen müsse das Betriebsverfassungsgesetz grundlegend reformiert werden und eine echte Mitbestimmung in den Unternehmen abgesichert sein. »Außerdem brauchen wir mehr Gemeinwohlorientierung und eine funktionierende Daseinsvorsorge. Transformation braucht auch eine funktionierende öffentliche Verwaltung.«

Und sollten die SPD-Vertreter*innen der »Ampel«-Regierung (die auf dem Kongress deutlich Präsenz zeigten) die Hoffnung gehegt haben, die vormalige Leiterin der Grundsatzabteilung der IG BCE, ehemalige Bundesgeschäftsführerin der SPD und Bundestagsabgeordnete (ihr Mandat hat sie nach ihrer Wahl zur DGB-Vorsitzenden niedergelegt) würde mit der von ihrer Partei geführten Regierung rücksichtsvoll umgehen, wurden sie eines Besseren belehrt. Mit Blick auf die aktuellen Herausforderungen forderte sie: »Leistungsfreie Erlöse aus Vermögen, Immobilien und Spekulationen müssen stärker herangezogen werden für das Gemeinwohl! Die Wiedereinführung der Vermögenssteuer ist überfällig! Und vor dem Hintergrund der historischen Herausforderungen wäre auch zusätzlich eine Sondervermögensabgabe, im Zweifel in Form eines mehrjährigen Lastenausgleichs angemessen. Wann, wenn nicht jetzt, ist es Zeit für mehr Verteilungsgerechtigkeit?!«

Denn um den Investitionsstau zu beheben, brauchten die öffentlichen Haushalte dringend zusätzliche Einnahmen. Stattdessen werde aber das alte Dogma der Schwarzen Null gepredigt: »Die sogenannte Schuldenbremse ist längst aus der Zeit gefallen. Sie ist nichts anderes als eine ideologische Bremse gegen einen aktiven Staat und gegen eine soziale Politik [...] Die Schuldenbremse bremst, ja richtig. Und zurzeit nur unsere Zukunftsperspektiven! Also weg damit!«

Die Delegierten beschlossen die Leitanträge »Arbeit der Zukunft gestalten« (»Der Transformationsdruck ist groß. Die Förderung und Sicherung von Beschäftigung im Sinne Guter Arbeit hat Priorität«.) und »Zeit für einen demokratischen und wirtschaftlichen Aufbruch«. Letztrer enthält die klare Botschaft: »Unser Anspruch: Gewerkschaft gestalten Zukunft – mit der solidarischen Kraft der Vielen«.

Dazu gehört ein nachhaltiges, umweltgerechtes Wirtschaftsmodell, das auf Guter Arbeit in tarifgebundenen und demokratischen Unternehmen beruht. Unverzichtbar ist der Vorrang für die Beschäftigungs- und Standortsicherung in Deutschland und Europa. Dafür müsse die Mitbestimmung ausgebaut, Tarifverträge geschützt und auch ein entschlossenes staatliches Handeln für eine gerechte Verteilung der Transformationsgewinne und –lasten erreicht werden. Zudem wird die Forderung erhoben, dass Bund und Länder eine aktive Strukturpolitik in den Regionen finanziell unterstützen, »etwa durch die Bereitstellung erforderlicher Mittel aus bundesweiten oder regionalen Transformationsfonds«.

Beschlossen wurde zudem ein vom Kölner DGB-Vorsitzenden Witich Roßmann eingebrachter Initiativantrag »Für eine neue globale Friedens- und Sicherheitsarchitektur zur Realisierung der Pariser Klimaziele«, in dem es u.a. heißt: »Der DGB und seine Mitgliedsgewerkschaften setzen sich [...] für eine erneuerte globale Friedens- und Sicherheitsarchitektur ein – geleitet von einem umfassenden Sicherheitsbegriff, der klimapolitische Sicherheitsrisiken, die Risiken wachsender sozialer Ungerechtigkeit, globaler Pandemien und die politischen Risiken autokratischer und autoritärer Regime einbezieht. Wir unterstützen Initiativen für die Stärkung des Vertrauens zwischen Staaten und Völkern, damit Länder mit unterschiedlichen Systemen, Kulturen, Religionen und Ideologien gemeinsam an den globalen Herausforderungen unter Achtung des Völkerrechts, der Menschenrechte und der 17 Nachhaltigkeitsziele der Vereinten Nationen arbeiten können.«

Schließlich waren auch die aktuellen Preissteigerungen ein immer wiederkehrendes Thema in Reden und Wortbeiträgen. In einem von der Eisenbahner- und Verkehrsgewerkschaft EVG eingebrachten und beschlossenen Initiativantrag wird die Bundesregierung aufgefordert, im »Entlastungspakt neben Erwerbstätigen und Selbstständigen auch die Renten-, Pensionsbeziehenden sowie Studierende von den hohen Energiekosten zu entlasten, insbesondere indem die Energiepreispauschale auch an diese Gruppen gezahlt wird.« Yasmin Fahimi hatte zuvor unterstrichen, dass der Ruf nach Lohnzurückhaltung nichts anderes sei, als »die Krisenbewältigung den Beschäftigten aufzuladen. Das machen wir nicht mit.«

Ob es den Einzelgewerkschaften gelingt, die durch hohe Energie- und Lebensmittelpreise bedingten Kaufkraftverluste (siehe hierzu auch den Beitrag Joachim Bischoff und Bernhard Müller: Kampf gegen Kaufkraftverluste auf Sozialismus.deAktuell vom 7.5.2022) in den anstehenden Tarifrunden deutlich zu mildern oder gar nachträgliche Korrekturen zu erreichen, muss abgewartet werden. Die IG Metall hat mit ihrer Forderung nach 8,2% Lohnerhöhung für die Beschäftigen in der Eisen- und Stahlindustrie zumindest schon mal ein deutliches Zeichen gesetzt.

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