3. Februar 2015 Otto König / Richard Detje: Deeskalation in der Ukraine erscheint kaum noch möglich
»Warlordisierung« des Krieges
Die Kiewer Regierung zahlt ihren Soldaten für den Kampf in der Ostukraine künftig »Einsatz- und Abschussprämien«: 50 Euro pro Kampfeinsatztag zusätzlich zum Grundsold – ein vernichtetes Fahrzeug der Aufständischen wird mit 600 Euro, ein zerstörter Panzer mit 2.400 Euro und ein abgeschossenes Kampfflugzeug mit 6.000 Euro »entlohnt«. Da trifft es sich gut, dass kurz zuvor US-Präsident Barack Obama und Bundeskanzlerin Angela Merkel (CDU) ein weiteres finanzielles Hilfspaket für die Ukraine in Aussicht gestellt haben.
Das ist auch dringend notwendig: Die Ukraine balanciert am Rande eines Staatsbankrotts – und die offene Frage lautet, wie viel sich »der Westen« das weiter kosten lässt. Ungeachtet dessen erhöhte die Regierung in Kiew den Militärhaushalt auf 5,2% (rund 4,8 Mrd. Euro) des Bruttoinlandsprodukts (BIP).[1] Der Krieg in der Ostukraine, in dem seit Mitte April 2014 laut der Menschenrechtsorganisation der Vereinten Nationen OHCHR mehr als 5.000 Menschen getötet und über 10.000 verletzt wurden, wird u.a. mit westlichen Krediten finanziert.
Die gebetsmühlenartige Wiederholung der Forderung nach Erfüllung des »Minsker Friedensabkommens« und das Signal der deutsche Bundeskanzlerin aus dem schweizerischen Davos an Russland, eine gemeinsame Freihandelszone »von Wladiwostok bis Lissabon« als »Anreiz« in Aussicht zu stellen, wenn es zu einer umfassenden Friedenslösung in der Ostukraine komme, hielten die politisch Verantwortlichen in Kiew nicht davon ab, die Mobilmachung von rund 100.000 Reservisten zu beschließen (SPON, 30.1.2015).[2] »So nutzen wir den so genannten Waffenstillstand«, ließ sich der ukrainische Präsident Petro Poroschenko zitieren, als er im Dezember 2014 den ukrainischen Streitkräften neues Kriegsgerät übergab.
Für die neu aufflammenden Gefechte in der Ostukraine und trotz vieler Ungereimtheiten[3] auch für den Angriff auf Mariupol wurden sofort die »Aufständischen« aus Donezk und Lugansk sowie deren Hintermänner – die »Kriegstreiber« in Moskau – verantwortlich gemacht. Die Tatsache, dass der Eskalation umfassende Mobilmachungs- und Aufrüstungsschritte der Kiewer Regierung voraus gingen, wird dagegen negiert. Dass sich Russlands in diesem Konflikt auch mit Waffen- und Munitionslieferungen engagiert und »nicht zusieht, wenn im Donbass Großstädte und deren vorwiegend russische Bevölkerung mit schwerer Artillerie zusammengeschossen werden«, ist offensichtlich – aber »genauso offensichtlich wie die westliche Unterstützung für Kiew« (Lutz Herden).
Wird in einigen bundesdeutschen Leitmedien der Beitrag des Westens zur Eskalation der Ukraine-Krise mitunter noch problematisiert, stellen die Ausrichter der 51. Münchner Sicherheitskonferenz 2015 in ihrem »Munich Security Report« ausschließlich Russland an den Pranger. Desweiteren beschwört der Report an mehreren Stellen die Gefahr eines »hybriden« Angriffs Moskaus auf NATO-Staaten, insbesondere auf die Ländern des Baltikums.[4]
Die Einschätzung von Außenminister Frank-Walter Steinmeier, dass es »unter den Konfliktparteien starke und skrupellose Gruppen (gibt), die kein Interesse an einem Ende der Gewalt haben und deshalb sogleich alle laufenden Bemühungen hintertreiben« (FAZ, 24.01.2015), ist begründet. Aber geht es um beide Konfliktparteien. Sowohl das Handeln der Verantwortlichen der »Volksrepubliken« nach dem Motto »Angriff ist die beste Verteidigung«, als auch die Mobilmachung durch die Kiewer Regierung und die provokativen Aktivitäten der Freiwilligenbataillone verhindern eine friedliche Lösung.
Für die ukrainische Regierung ist der Krieg im Osten eine Lebensversicherung. Solange dieser tobt, »kann sie sich zum Opfer einer russischen Intervention« bzw. einer »sowjetischen Aggression«, wie es Premier Arsenij Jazenjuk kürzlich entfuhr, machen (Der Freitag, 23.1.2015). Die ukrainische Armee könnte nicht länger durchhalten, wäre sie allein vom ukrainischen Staat abhängig, der bankrott und ökonomisch ausgelaugt ist. Im Vorjahr stürzte das BIP um 15% ab, sodass die Devisenreserven auf knapp zehn Milliarden Dollar schrumpften, im Gegenzug die Staatsschulden auf 70% des BIP anstiegen. Ein solch ökonomisches und soziales Desaster lässt sich nur mit dem Verweis auf eine Kriegswirtschaft rechtfertigen.
Mitte Januar forderte Poroschenko die Europäer in einem »Aufruf an Europa« (FAZ, 19.1.2015) auf, sich mit dem Slogan »Ich bin ein Ukrainer« mit der Ukraine »zur Verteidigung der europäischen Werte gegen den Terror« zusammenzuschließen. Dieser Appell geht ins Leere. Dieser Krieg fördert keine friedliche Konfliktlösungen. Er vertieft die Gräben zwischen Russland und dem Westen. Er hat nicht demokratische Verhältnisse befördert, sondern die Ukraine gespalten.[5]
Nationalistische rechte Kräfte entziehen sich zunehmend der Kontrolle, wie Adrian Karatnycky, »Senior Fellow« des US-Think-Tanks »Atlantic Council«, in der Washington Post formulierte. In der Ukraine würden »Warlords« zunehmend an Macht gewinnen und Freiwilligenverbände wie das faschistische »Bataillon Asow« sich den Befehlen der ukrainischen Regierung entziehen. Einige dieser Bataillone würden immer wieder drohen, auf Kiew zu marschieren, sollte es Präsident Poroschenko nicht gelingen, die Ostukraine zu erobern.[6]
Auf der anderen Seite in der Ostukraine haben sich Akteure ebenso verselbständigt. Gegenüber der OSZE-Kontaktgruppe, der auch der russische Botschafter in der Ukraine angehört, weigerten sich die Vertreter der »Volksrepubliken« Donezk und Luhansk Ende Januar, über einen neuen Waffenstillstand in der Ostukraine und den Abzug schwerer Waffen zu verhandeln.
Es ist falsch, wenn in der westlichen Öffentlichkeit immer wieder der Eindruck geweckt wird, die russische Führung hätte absolute Kontrolle über die Ereignisse in der Ostukraine und müsse daher mit Sanktionen auf die Knie gezwungen werden. So begibt man sich in verbale und reale Aufrüstungsspiralen. Sollten US-Militärs ihre Ankündigung wahr machen, Waffen im Wert von rd. 3 Mrd. US-Dollar an die ukrainische Armee zu liefern, wäre eine neue Aufrüstungsrunde eingeleitet.
In den selbsternannten »Volksrepubliken« hat sich die Lage nicht nur durch die militärische Eskalation, sondern auch durch die im vergangenen Jahr verhängte Wirtschaftsblockade verschärft. Die Regierung in Kiew stellte zum 28. November 2014 die Zahlung von Renten und Sozialleistungen in den ostukrainischen Republiken ein, stoppte den Eisenbahnverkehr über die Frontlinie und die Tätigkeit der ukrainischen Post. Diese Maßnahmen zielten nicht zuletzt auf die rund vier Millionen ukrainischen Staatsbürgern, die noch in diesen Gebieten leben.
Das Kalkül der Kiewer Regierung war, einen Ausbruch von Hungeraufständen gegen die »Aufständischen« loszutreten. Viele sind auf soziale Hilfen angewiesen, da der Großteil der Fabriken still steht. Doch die Rechnung ging nicht auf. Bei aller Kritik an der Politik in Moskau: Für viele Menschen in den selbsternannten Republiken sind die Hilfkonvois aus Russland zurzeit die einzige humanitäre Hilfe. Seit August 2014 schickte die russische Regierung zwölf Konvois mit Hunderten Lastwagen mit Lebensmitteln und Baumaterialien in die Regionen Luhansk und Donezk.
Wie die Bevölkerung die Blockade tatsächlich aufnimmt, umschrieb der deutsche Korrespondent Moritz Gathmann im Schweizer Rundfunk mit den Worten: »Momentan überwiegt die Wut auf Kiew.« Sie wollen das Ende eines Kriegs, der von Kiew immer noch als »Antiterroroperation«(ATO) und von Separatisten als »Bestrafungsaktion durch die ukrainischen Streitkräfte bezeichnet« wird.
Die Bundesregierung bemüht sich, die »Minsker Gespräche« über eine politische Beilegung des Konflikts weiterzuführen. Doch nur die Verknüpfung weiterer finanzieller Unterstützung an die Ukraine mit der Forderung nach strikter Erfüllung des Minsker Abkommens und damit einer dauerhaften Waffenruhe verhindert eine weitere »Warlordisierung«. Unter Punkt 10 des Abkommens heißt es: »Abzug der ungesetzlichen bewaffneten Einheiten – von Kriegsgeräten, Kämpfern und Söldnern aus dem Gebiet der Ukraine«.
Es kann nicht akzeptiert werden, dass die ukrainische Führung den Donbass-Konflikt weiterhin instrumentalisiert und die EU dafür in Haftung nimmt. Die Vertreter einer offenen Konfrontation, die die Attacken gegen Russland anheizen und weiter an der Sanktionsschraube drehen, müssen in die Schranken verwiesen werden. Es ist ein positives Signal, dass sich der Kreis der Länder wie Italien, Österreich und Slowakei, die Bedenken gegenüber dem bisherigen Sanktionskurs der EU gegenüber Russland haben, nach dem Wahlerfolg von Syriza um Griechenland erweitert wurde.
[1] Klaus Joachim Herrmann: Rückzug der Aufständischen angeboten. Neues Deutschland v 22.1.2015.
[2] Seit der Mobilmachung fliehen zahlreiche Einberufene in benachbarte EU-Staaten oder nach Russland. Präsident Poroschenko wies deshalb die Regierung an, die Ausreisebedingungen für einberufene Männer zu verschärfen (SPON 30.1.2015).
[3] Auch in der Vergangenheit hat es viele Ungereimtheiten bei ähnlichen Tragödien gegeben. Die ukrainischen Behörden haben bis heute immer noch keinen Untersuchungsbericht zu dem Brand im Gewerkschaftshaus in Odessa (über 40 Tote und 200 Verletzte, 2. Mai 2014) und den Scharfschützen-Morden auf dem Maidan (80 Tote, 20./21. Februar 2014) vorgelegt, so Iwan Schimonowitsch, Sprecher der UN-Organisation für Menschenrechte.
[4] Munich Security Report: Collapsing Order, Reluctant Guardians?, www.eventanizer.com/MSC2015/MunichSecurityReport2015.pdf
[5] Es sind die nationalistischen Kräfte, die insbesondere im Umkreis Jazenjuks zu finden sind, die der Welt eine neue Ost-West-Konfrontation bescherten. Dazu gehören Julia Timoschenko, die die relative Waffenruhe nach dem Abschluss des »Minsker Abkommens« im Osten des Landes »als Kniefall vor Moskau« geißelte und militante Vertreter der Maidan-Bewegung wie Dmytro Jarosch, Führer des »Rechten Sektors«, der Präsident Poroschenko schon mal warnte, es könne »ihm ähnlich ergehen wie seinem Vorgänger Janukowitsch« (Le Monde diplomatique, 10.10.2014).
[6] Wie lange die »Solidarität« mit der Ukraine noch anhält, ist fraglich. Dringend benötigt werden weitere 15 Mrd. US-Dollar, um nicht in eine Staatspleite zu geraten. EU-Kommissionspräsident Jean-Claude Juncker forderte die Mitgliedsländer dazu auf, mehr Geld für die Ukraine zu gewähren, um den Staatsbankrott zu vermeiden, da die EU-Kommission aus ihrem Haushalt die Mittel nicht mehr aufbringen könne (telepolis v. 24.12.2014).