18. Januar 2019 Hinrich Kuhls: Das Fiasko des Brexit-Vertrags

Was nun, Frau May? Was tun, Herr Tusk!

Foto: Tiocfaidh ár lá 1916/flickr.com (CC BY-ND 2.0)

Das Unterhaus des Parlaments des Vereinigten Königreichs von Großbritannien und Nordirland hat mit überwältigender Mehrheit den Austrittsvertrag abgelehnt, den die britische Premierministerin Theresa May und der Kommissionsbeauftragte Michel Barnier ausgehandelt hatten, wobei Barnier gemäß den Richtlinien des Europäischen Rats agierte.

Zugleich stützt dasselbe Parlament weiterhin die Regierung, die in der zentralen Frage der britischen Politik offensichtlich gescheitert ist. Im fehlgeschlagenen Misstrauensvotum des Oppositionsführers und Labour-Vorsitzenden Jeremy Corbyn kamen die Stimmengewichte aus der Parlamentswahl vom Juni 2017 zum Tragen. Die konservative Minderheitsregierung überstand den Misstrauensantrag, weil der Unterstützungspakt mit der zehnköpfigen Fraktion der nordirischen unionistisch-nationalistischen DUP hielt. Die geschlossen agierenden Oppositionsparteien mit ihren 306 Stimmen konnten das einträchtig stimmende nationalkonservative Lager mit deren 325 Stimmen nicht erschüttern.


Zuspitzung der politischen Blockade

Die Blockade im politischen System des UK hat damit eine neue Eskalationsstufe erreicht. Obwohl gescheitert, ist dieselbe Regierungskonstellation und dieselbe Premierministerin damit beauftragt, den bisher von ihr als unverhandelbar propagierten Vertrag nachzubessern. Diese Blockade gibt aber die Einstellungen der britischen Wähler*innen wieder: Nur zwanzig Prozent unterstützen den vorliegenden Austrittsvertrag, zugleich hält aber eine Mehrheit allein die derzeitige Premierministerin für fähig, das Brexit-Problem zu lösen.

Daher verwundert es nicht, dass May sich noch am Abend des gescheiterten Misstrauensvotums mit einer Kurzansprache »ans Volk des Königreichs« wandte. Denn seit dem EU-Referendum hat sie sich als Vollstreckerin des mehrheitlichen Volkswillens inszeniert, die in ihren Aktionen zur Durchsetzung und Ausgestaltung des EU-Austritts nicht an Weisungen der parlamentarischen Repräsentation des Elektorats gebunden ist. Ihre Verhandlungspositionen hatte sie in diversen Reden immer zunächst außerhalb des Parlaments dargelegt. Alle Beteiligungsrechte des Parlaments am Austrittsverfahren mussten von den Abgeordneten – teils juristisch – gegen die Regierung erstritten werden.

So geriet dann Mays kurze Ansprache ans Volk als Verteidigungsrede. Denn zuvor hatte sie mit der parlamentarischen Abstimmung über den Austrittsvertrag – trotz der arrogant kurzfristigen Aussetzung um einen Monat im Dezember – erstmals der Konfrontation nicht mehr ausweichen können, dass es neben den 52%, die für den Austritt votiert hatten, auch noch die 48% gibt, die weiterhin Bürger*innen der Europäischen Union bleiben wollen.

Zugleich zwangen die historisch einmalig brüske Ablehnung des Austrittsvertrags – bei der nicht nur die Oppositionsparteien geschlossen, sondern auch 40% der Abgeordneten der Konservativen Partei und der DUP gegen den Regierungsantrag stimmten – und das unmittelbar folgende wiederum geschlossene Agieren der Opposition in der Misstrauensfrage die Premierministerin dazu, erstmals die nächsten Schritte ihrer Agenda zur Lösung der Brexit-Frage im Parlament zu skizzieren.

No-Deal-Perspektive bleibt akut

Beunruhigend ist, dass die Premierministerin weiterhin die No-Deal-Alternative nicht ausschließt und somit Gespräche mit der Labour Party als stärkster Oppositionspartei blockiert. Sie hält aber auch an ihren anderen Brexit-Prinzipien fest, einschließlich ihrer Ablehnung einer Zollunion und eines weiteren Referendums.

Mehr als vier Mrd. Pfund sind schon ausgegeben oder bereitgestellt worden für die direkt anfallenden Schritte zur Beherrschung eines ungeregelten Brexits. Der 29. März ist Stichtag für einen geregelten Brexit. Bei einem Chaos-Brexit müssen die Maßnahmen zur Abmilderung der Auswirkungen weit früher getroffen werden.

Unangemessene Gelassenheit auf EU-Seite

Genauso beunruhigend wie die Entwicklung in Britannien sind die ersten Reaktionen zum Fiasko der Ratifizierung des Austrittsvertrags seitens des Europäischen Parlaments – vor allem aus den Fraktionen der EVP (Weber) und der Liberalen (Verhoftstad) –, des Kommissionspräsidenten Juncker, des Ratspräsidenten Tusk und der diversen Staats- und Regierungschefs. Es wird immer noch nicht erkannt, dass der ungeregelte Brexit nicht verhindert werden kann, wenn selbstgerecht darauf beharrt wird, dass die Verhandlungsmaxime der EU-Seite ohne Fehl und Tadel gewesen sei.

Auch hier wird das ökonomische Desaster eines chaotischen Brexits beschworen, aber die Auswirkungen in den Volkswirtschaften der einzelnen Mitgliedstaaten – vor allem in Irland, Belgien und in den Niederlanden – und in der EU insgesamt werden nicht ernst genommen. Es wird davon ausgegangen, es würde vor allem die britische Wirtschaft treffen, wobei die britischen Bürger*innen als Konsument*innen und Beschäftigte schon ganz aus dem Blick geraten sind und von der Fürsorgepflicht für die drei Millionen EU-Bürger*innen aus anderen Mitgliedsstaaten, die im UK leben, nichts mehr zu hören ist.

Die Notfalllösung zur Vermeidung einer harten Zollgrenze zwischen Nordirland und Irland (»Backstop«) ist der Grund für das Scheitern des Vertragswerks, das Austrittsvertrag und die knappe »Politische Erklärung für die künftigen Beziehungen« umfasst. Der Backstop war allein deswegen notwendig, weil einerseits die EU-Seite die Sukzession von Austrittsvertrag und Folgevertrag zur Vorabkondition erklärt hatte, und andererseits May zur Wahrung der Einheit der Konservativen Partei einen harten Brexit mit Austritt aus Binnenmarkt und Zollunion als Verhandlungsziel postulierte.

Im Art. 50 (EUV) ist ausdrücklich festgelegt, dass bei Verhandlung und Abschluss des Austrittsvertrags »der Rahmen für die künftigen Beziehungen dieses Staates zur Union berücksichtigt wird«. Es war von Anfang politisch unverantwortlich und juristisch abwegig, dass unter »Rahmen« eine politische Absichtswirkung verstanden wird, die zwar in bestimmtem Umfang die Vertragspartner bindet, aber keinen völkerrechtlich verbindlichen Vertrag darstellt.

Die Europäische Union war und ist Garantiemacht des 1998 geschlossenen irisch-britischen Vertrags (Karfreitagsabkommens) zur Befriedung und langfristigen Lösung des im britischen Kolonialismus und Imperialismus wurzelnden Nordirlandkonflikts. Der Vertrag ist seinerzeit zwischen zwei EU-Mitgliedstaaten geschlossen worden. Mit dem Austritt des UK aus der EU, sei es aus allen Bereichen oder auch nur aus der politischen Union, verändert sich der Status der EU als Garantiemacht. Die im Karfreitagsabkommen völkerrechtlich verbindlich für verschiedene Ebenen vereinbarte institutionelle Kooperation auf der irischen Insel kann bei der Neugewichtung der Souveränität der vier beteiligten Körperschaften (EU, Irland, Nordirland, UK), die der Austrittsvertrag erfordert, nur gewahrt werden, wenn aus dem vollständigen Vertragsentwurf für die künftigen EU-UK-Beziehungen hervorgeht, dass die Verpflichtungen des Karfreitagsabkommens von allen Seiten in vollem Umfang gewährleistet werden.

Der Brexit ist also nicht nur der erstmalige – und hoffentlich einmalige – Austritt eines EU-Mitglieds, sondern zugleich ein spezifischer Austrittsfall wegen der zusätzlichen trilateralen Vertragsbeziehungen zwischen der EU, Irland und dem UK. In diesem spezifischen Fall kann »Berücksichtigung des Rahmens der künftigen Beziehungen« politisch nur bedeuten, dass der Austrittsvertrag erst dann ratifiziert werden kann, wenn die künftigen Beziehungen geklärt sind und ihre vertragliche Ausgestaltung von beiden Seiten im Entwurf gebilligt worden ist. Dass dann der formale Prozess zum Abschluss des Neuvertrags erst nach dem Austrittstermin stattfindet, hindert nicht den Verhandlungsablauf. Trotz der fortgeschrittenen Zeit seit dem Austrittsgesuch Ende März 2017 steht dieser Lösungsweg auch jetzt noch offen.

Zwei Abstimmungen: die Labour Party

Ein Vergleich des Stimmverhaltens der Unterhaus-Abgeordneten in der Abstimmung zum Austrittsvertrag und beim Misstrauensvotum macht die Ausgangslage für die weitere Entwicklung deutlich.



Zunächst fällt auf, dass bei beiden Voten der rote Block der Labour-Parlamentsfraktion nahezu geschlossen gestimmt hat. Kurz nach dem EU-Referendum im Juni 2016 hatten drei Viertel der damaligen Labour-Abgeordneten ihren Parteivorsitzenden Corbyn mit einem Misstrauensvotum aus dem Amt jagen wollen. Sie hatten ihn mit dem unbegründeten Vorwurf, er hätte sich nicht ausreichend für einen Verbleib des UK in der EU engagiert, überzogen und hielten ihm außerdem vor, er sei nicht der Lage, jemals die Labour Party in Regierungsverantwortung zu bringen. Welch ein Kontrast nur zweieinhalb Jahre später! An zwei aufeinanderfolgenden Tagen bei zwei Abstimmungen hatte Corbyn die Rückendeckung der gesamten Fraktion.

Bei der Abstimmung zum Austrittsvertrag war die Fraktion einhellig der Auffassung, dass nach dessen Ratifizierung in Verbindung mit der ungeklärten EU-UK-Zukunftsperspektive das Land in eine tiefe ökonomische und soziale Krise abgleiten würde, und dass der von Corbyn geforderte Verbleib in einer Zollunion die Mindestbedingung ist, auf deren Basis nach Abwendung eines ungeregelten Brexits eine Korrektur des gesamten Austrittsverfahrens erreicht werden soll.

Auch jene 76 Labour-Abgeordneten, die auf eine Revision des Brexit-Votums setzen und für ein zweites Referendum werben, streiten nicht ab, dass das politische Agieren der Labour-Spitze in erster Linie auf einen Ausgleich der Brexit-Befürworter und der Brexit-Gegner gerichtet ist. Mit »Bleiben und erneuern« hatte Corbyn seine Position umschrieben, mit der der europaweiten neoliberalen Austeritätspolitik politisch und institutionell eine Prosperitätsalternative entgegengesetzt werden soll – eine Position, die in der mitgliederstarken Labour Party und in vielen der ihr angeschlossenen Gewerkschaften breiten Nachhall gefunden hat. Anders als vor zweieinhalb Jahren ist jetzt auch in der Labour-Fraktion weitgehend unumstritten, dass bei einem von ihnen angestrebten Verbleib in der EU eine Erneuerung von Institutionen und Politik auf Punkt eins der Tagesordnung steht.

Beim Misstrauensvotum gegen die Regierung ist das geschlossene Auftreten der Fraktion ebenfalls bemerkenswert. Mays Niederlage bei der Brexit-Abstimmung war zwar der Anlass für den Antrag, der verfassungsgemäß nur vom Oppositionsführer persönlich gestellt werden kann. Aber zugleich war damit der Kern der Regierungsarbeit, die lang anhaltende harsche Austeritätspolitik, angegriffen. Die Labour-Fraktion war sich insgesamt klar darüber, dass sie mit der Unterstützung des Misstrauensvotums zugleich die in Teilen gegenüber dem Wahlprogramm von 2017 weiter entwickelte Programmatik und die weiteren Anstöße dazu seitens der Parteiführung unterstützt.

Zwei Jahre harter Oppositionsarbeit hat die Differenzen in der Fraktion stark abgeschliffen. Zudem ist das vom Labour-Parteitag im September beschlossene Agieren in der Brexit-Frage (Zollunion als zentrale Forderung; erst Erzwingung von Neuwahlen, auch zur Abwendung einer unzureichenden Austrittsregelung, dann erst Orientierung auf ein zweites Referendum) bisher von der Fraktion überwiegend mitgetragen worden. Corbyn ist heute als designierter Premierminister der nächsten Labour-Regierung in seiner Partei unumstritten. Das erklärt die gehässigen, teils niederträchtigen Schmähungen, mit denen die Tories Corbyn in der Debatte zum Misstrauensantrag bedachten – sowohl von der Regierungsbank aus als auch von Hinterbänklern aller drei Flügel der konservativen Partei gleichermaßen.


Abstimmungsergebnisse: Die Konservative Partei und ihre Vasallen

Das Stimmverhalten des blau-grauen Blocks in den beiden Abstimmungen offenbart die Sackgasse, in die das rechtskonservative und nationalistische Lager der Unionisten aus England und Nordirland die Tory-Partei gedrängt hat. Zum Machterhalt der Tories unterstützten sie beim Misstrauensvotum geschlossen die Regierung, deren Premierministerin eine ihnen verhasste Brexit-Politik verfolgt. Tags zuvor hatten hingegen 118 der 317 Tory-Abgeordneten bei der Brexit-Abstimmung gegen die Regierung gestimmt.

Schon beim parteiinternen Misstrauensvotum gegen die Premierministerin und Tory-Vorsitzende im Dezember, einen Tag nach der abrupten Absetzung des ersten Abstimmungstermins, sah das Resultat mit 117 Gegen- und 200 Unterstützungsstimmen für May identisch aus. Die Flügel der Tories haben sich verfestigt. In anhaltender parteiinterner Opposition zu May stehen die kleine Gruppe von etwa 20 proeuropäischen Abgeordneten und am rechten Rand die 80-köpfige European Reform Group, in der sich die rechtspopulistischen und rechtskonservativ-nationalistischen Abgeordneten aus überwiegend ländlichen Wahlkreisen in England zusammengefunden haben.

Der europafeindliche Flügel der Tories hatte schon 2009 den Austritt der Konservativen Partei aus dem Parteienverbund der Europäischer Volksparteien durchgesetzt. Im Europaparlament hatten die britischen Konservativen mit der polnischen Gerechtigkeitspartei (PiS) und einigen kleineren rechtskonservativen Parteien eine Fraktion gebildet, die sich programmatisch näher an den Rechtspopulisten als an der EVP positionierte. Mit dem Erfolg des Brexit-Votums, für den der rechte Tory-Flügel in gemeinsamen Kampagnen mit der rechtspopulistischen UKIP gekämpft hatte, war ihr Ziel eines klaren Bruchs mit allen Institutionen der EU zum Greifen nahe. Mit dem vorliegenden Austrittsvertrags sehen sie die Rückkehr zur vollen nationalen Souveränität, die Kontrolle und Einschränkung der Zuwanderung und das Erblühen Britanniens als eigenständiger Handelsnation blockiert.

»No Deal« ist für diese Gruppierung, die im Unterhaus mehr als eine Sperrminorität hat, kein Schreckensgespenst, sondern das politische Ziel. Sobald May die Androhung, Britannien werde die EU auch ohne vertragliche Regelung verlassen, aus ihrem Verhandlungsarsenal streichen muss, wird der rechte Flügel sich gegen sie stellen oder die Partei ganz verlassen.

Wie weiter im Vereinigten Königreich?

Schon am 21. Januar muss May einen »Plan B« vorlegen, über den das Parlament am 29. Januar abstimmen wird. Die Premierministerin hat zwar ein paar kurze Sondierungsgespräche mit den kleineren Oppositionsparteien und der DUP geführt, in diesen haben aber alle Seiten nur ihre bisherigen Positionen erläutert. Die Fraktionsspitze der Labour Party lehnt die Sondierungsgespräche weiterhin mit der Begründung ab, dass erst das Szenario eines ungeregelten Brexits vom Tisch muss.

Es bleibt abzuwarten, ob von Regierungsseite ein substanziell neuer Vorschlag vorgelegt wird, sei es zum Austrittsverfahren oder zu den beiden Vertragsteilen selbst. Genau so unklar ist, ob und welche Zusatzanträge Mehrheiten finden, sei es für eine Verschiebung des Austrittstermins, für die Einleitung eines weiteren Referendums oder gar für die Vorgabe eines Verhandlungsziels. Für Entschließungen mit dem Ziel, einen Chaos-Brexit zu verhindern oder das Austrittsgesuch zurückzuziehen, sind keine Mehrheiten gegeben.

Die um mehrere Wochen vorgezogene, also gegenüber dem gesamten Verfahren »zügige« Vorlage, Debatte und Entscheidung über den »Plan B« ist durch eine Kooperation des proeuropäischen Flügels und aller Oppositionsparteien erstritten worden – unterstützt vom Sprecher des Unterhauses, der eine traditionelle Konvention der Geschäftsordnung außer Acht gelassen hatte. Innerhalb dieser Mehrheitskonstellation hat zum jetzigen Zeitpunkt von den diversen Entschließungsvarianten nur die Verschiebung des Austrittstermins Aussicht auf eine erneute Mehrheit.

Die meisten Befürworter*innen eines zweiten Referendums erhoffen sich eine Revision der Austrittsentscheidung. Obwohl sich jetzt in Meinungsumfragen mehr Wähler*innen für einen Verbleib als für einen Austritt festlegen, ist der Exit vom Brexit keineswegs sicher. Allein die Vorbereitung des Referendums würde die Spaltung der Gesellschaft zementieren und alle Schritte zum Ausgleich unterminieren. Für die Durchführung eines zweiten Referendums müsste der Austrittstermin um mindestens sechs Monate verschoben werden.

Mit einer Verschiebung des Austrittstermins um ein Jahr hingegen, dem der Art. 50 des EU-Vertrags nicht entgegensteht, und mit Beibehaltung der mehrjährigen Übergangsperiode im vorliegenden Austrittsvertrag wäre der Boden bereitet, um die Verhandlungen zu den künftigen EU-UK-Beziehungen bis zur Vertragsreife voranzubringen. Es wäre dann auch ausreichend Zeit, eine breite gesellschaftliche Debatte zu organisieren, in deren Anschluss das Parlament die Regierung mit einem Verhandlungsauftrag ausstattet.

Der Ball liegt im Feld der EU

Der Europäische Rat und die anderen EU-Institutionen wiederholen den Fehler, den sie gemacht haben, als sie im Herbst 2015 dem damaligen britischen Premier Cameron vertragswidrig Verhandlungen über eine Neupositionierung des UK in der EU zugestanden hatten und ihn nicht auf das im EU-Vertrag vorgesehene Vertragsänderungsverfahren verwiesen haben, um das von den Rechtspopulisten befeuerte Begehren zur Einschränkung der Personenfreizügigkeit durchzusetzen. Damals wie heute unterschätzen sie die Mobilisierungskraft der rechtspopulistischen Bewegung in Europa und sehen nicht die unterliegenden Gründe, nämlich die durch die Austeritätspolitik beförderte soziale Ungleichheit.

Die politische Blockade in Britannien ist vom Europäischen Rat durch die Festlegung der Verhandlungsstrategie mit verursacht worden. Vor der gesellschaftlichen Sprengkraft des ungeregelten Austritts, nicht nur im Vereinigten Königreich, sondern in ganz Europa, verschließen die Staats- und Regierungschefs der EU27, die Mehrheit im Europäischen Parlament und die Europäische Kommission die Augen. Auch hier ist es grotesk, dass mit viel Aufwand eine Notfalllösung zur Vermeidung einer harten Grenze zwischen Irland und Nordirland für den Fall des Scheiterns der weiteren Verhandlungen konstruiert wird, die aber sofort hinfällig ist, wenn einen Tag nach dem Chaos-Brexit die EU und das UK entsprechend den WTO-Richtlinien eine Zollgrenze errichten müssen.

Der Europäische Rat und die EU-Kommission sollten auf die britische Seite zugehen und eine Verlängerung des Austrittsverfahrens von mindestens einem Jahr anbieten. Hierfür ist die Zustimmung aller 27 Mitgliedstaaten erforderlich, und Ratspräsident Tusk sollte so schnell wie möglich zu einem Sondergipfel einladen. Nur mit diesem Beitrag zur Überwindung der Blockade im UK macht die Attitüde, das Wichtigste bei den Verhandlungen sei die Geschlossenheit der EU27 gewesen, noch einen politischen Sinn.

Auch die SPD-Vorsitzende Nahles stellt sich nicht der rechtskonservativen britischen Premierministerin entgegen, sondern fordert, den Austrittsvertrag in der vorliegenden Fassung durchzusetzen. Wenn sie schon nicht mit Corbyn zusammenarbeiten will, dann hätte sie sich zumindest mit den diversen Vorschlägen aus den Reihen der Labour Party auseinandersetzen und sie gegebenenfalls unterstützen können. So hat die deutsche Sozialdemokratie schon zu Beginn des Europawahlkampfs in dem beherrschenden Thema des Brexits den konservativen und rechtspopulistischen Kräften das Feld überlassen.

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