10. November 2021 Otto König/Richard Detje: Gewerkschaftlicher Aktionstag – »Rust Belt« in Deutschland verhindern

Weckruf

Foto: www.igmetall.de, Peter Bisping

Keine Entlassungen – sozialer Umbau der Industrie: Dafür gingen Ende Oktober mehr als 50.000 Metaller:innen auf die Straße.[1] An Kundgebungen der IG Bergbau, Chemie, Energie beteiligten sich 20.000 Beschäftigte. Quer durch die Republik demonstrierten die Gewerkschafter:innen für einen sozial-ökologischen Wandel der Industrie.

Mit ihrem »Weckruf an Politik und Arbeitgeber« mischten sie sich auch in die laufenden Koalitionsverhandlungen ein – für eine aktive und zielgerichtete Industriepolitik und einen starken Sozialstaat. An die Adresse der Politiker:innen gerichtet sagte der IG Metall-Vorsitzende Jörg Hofmann in Berlin: »Unser Ziel ist modernes, nachhaltiges Wirtschaften bei gleichzeitig starkem sozialen Zusammenhalt unserer Gesellschaft. [...] Wir verlangen klare Beschäftigungs- und Investitionszusagen«. Angesichts der an den sozial-ökologischen Transformationserfordernisse gemessen höchst unzureichenden Verhandlungsstände der künftigen Koalitionspartner ist Druck aus den Betrieben auf die sich selbst so titulierende »Fortschritts-«, »Erneuerungs-« oder »Modernisierungskoalition« dringlich.

 

Aus Gewerkschaftssicht war es höchste Zeit, Signale zu setzen – auch in die eigenen Reihen hinein, wo sich Ängste und Skepsis mischen, ob das Streben nach Klimaneutralität all die Opfer wert ist. Bei den Beschäftigten wächst die Sorge, dass die Zukunft ohne sie stattfinden könnte. So werden als Folge des Zurückfahrens der Verbrennertechnik zugunsten der E-Mobilität bei vielen Automobilzulieferern hierzulande massenhaft Arbeitsplätze vernichtet und Produktion nach Osteuropa verlagert. So fährt ZF in Friedrichshafen seine zukunftsträchtigen E-Mobilität-Aktivitäten vor allem in Serbien hoch. Ähnlich verfahren Continental, Mahle und Schaeffler.

Der Strukturwandel wird dazu führen, dass in vielen Betrieben kein Stein auf dem anderen bleibt. Aus den jüngst veröffentlichten Berichten der Nationalen Plattform Zukunft der Mobilität zur Umstellung auf die Elektromobilität geht hervor, dass zwar für den Aufbau einer bedarfsdeckenden europäischen Batteriezellfertigung bis 2030 jährlich bis zu 65.000 hochspezialisierte Fachkräfte gebraucht und in der Produktion von Leistungselektronik oder Brennstoffzellenfahrzeugen neue Arbeitsplätze entstehen werden. Doch diese reichen bei weitem nicht aus, um die Arbeitsplatzverluste entlang des klassischen Antriebsstrangs auszugleichen.

Von der Transformation sind auch die Stahlhersteller betroffen: Grüner Stahl auf Wasserstoffbasis ist die große Hoffnung der Branche. Aus Sicht der Beschäftigten und ihrer Gewerkschaft bedarf es staatlicher Anschubhilfen in Milliardenhöhe, um die Umstellung hin zu einer CO2-freien Produktion zu ermöglichen. »Der Markt wird es nicht richten«, sagte IG Metall-Vorstand Jürgen Kerner in Duisburg vor der Thyssen Steel-Zentrale. Wenn die Politik jetzt nicht handle, »dann wird uns der Markt richten«.

Über acht Millionen Beschäftigte arbeiten im verarbeitenden Gewerbe. An den Industriearbeitsplätzen hängen ganze Regionen. Deutschland wolle keinen »Rust Belt« wie in der einst von der Industrie dominierten Region vom Bundesstaat New York bis zum Mittleren Westen der USA, gab Bundeskanzler in spe Olaf Scholz auf dem Bundeskongress der IG BCE zu Protokoll.

Um mehr als leere Versprechungen entgegenzunehmen, fordert die IG Metall eine tragfähige Perspektive für zukunftsfähige Arbeitsplätze an den Standorten, die von der technologischen Transformation besonders betroffen sind. Die Eckpunkte lauten: sozial-ökologische Investitionen statt Entlassungen, Qualifizierung statt Verlagerung ins Ausland, öffentliche Zukunftsinvestitionen in Höhe von 500 Milliarden Euro und deren gerechte Finanzierung.

All dies steht auf wackligen Füßen. Nachdem der Vorsitzende der »Steuersenkungspartei für Wohlhabende«, Christian Lindner, sein Klientel – Ärzte, Rechtsanwälte, Unternehmensberater etc. – erfolgreich verteidigt hat, geriert sich die Partei als großer Wahlgewinner. So wird es keine Vermögensteuer geben und der Spitzensteuersatz für Superreiche wird ebenfalls nicht angehoben.

Gleichzeitig sollen Unternehmen extrem lukrative Abschreibungsmöglichkeiten erhalten, was die öffentlichen Etats in Folge der entsprechenden Steuermindereinnahmen nach Schätzungen des Deutschen Instituts für Wirtschaftsforschung (DIW) um rund 40 Milliarden Euro belasten dürfte. Folglich müsse geklärt werden, »wie deutlich mehr Zukunftsinvestitionen ohne Steuererhöhungen und unter Einhaltung der Schuldenbremse gelingen sollen«, meint DIW-Präsident Marcel Fratzscher.

Das klingt nach der Quadratur des Kreises – oder nach einer Umverteilung anderer Art. Aufhorchen lässt die Ankündigung der FDP, »bisherige öffentliche Ausgaben gründlich auf ihre aktuelle Berechtigung« überprüfen zu wollen. Dabei dürfte die blau-gelbe Klientelpartei vor allem an Sozialausgaben denken.

Am Anfang der Ampel steht ein Deal: Erhöhung des Mindestlohns, dafür keine Reichensteuer. Eine Anhebung des gesetzlichen Mindestlohns in Deutschland auf 12 Euro pro Stunde bringt unmittelbar rund acht Millionen Beschäftigten eine Verbesserung ihres Lohns. Ausstrahlungseffekte über den 12-Euro-Stundensatz hinaus werden weitere Verbesserungen bringen.

Damit können die deutsche Wirtschaftsleistung langfristig um circa 50 Milliarden Euro im Jahr und die Staatseinnahmen um jährlich rund 20 Milliarden Euro steigen, was einen wichtigen Beitrag für die Finanzierung öffentlicher Investitionen darstellt, so eine Studie der Wirtschaftswissenschaftler an der Universität Mannheim, Tom Krebs und Moritz Drechsel-Grau, die das Institut für Makroökonomie und Konjunkturforschung (IMK) der Hans-Böckler-Stiftung gefördert hat. Für BDA-Chef Rainer Dulger wäre ein Mindestlohn von 12 Euro hingegen »brandgefährlich«. Er würde in über 190 Tarifverträge eingreifen und über 570 tariflich ausgehandelte Lohngruppen überflüssig machen. Dulger bringt es auf den Punkt: »Eine derartige Mindestlohngrenze erzeugt eine enorme Lohnspirale nach oben.«

Beim Umgang mit Minijobs und dem Thema »flexiblere Arbeitszeiten« orientiert sich das Sondierungspapier der Ampelkoalition an den Vorstellungen der Wirtschaftsliberalen. Geplant ist, die Verdienstgrenzen bei Mini- und Midijobs auf 520 bzw. 1.600 Euro im Monat anzuheben. Für Arbeitgeber werden damit sozialversicherungsfreie Beschäftigungsverhältnisse noch attraktiver.

Tatsache ist jedoch: In der Corona-Pandemie haben hunderttausende Beschäftigte im Gastgewerbe ihren Minijob verloren und haben keinerlei Absicherung durch Kurzarbeiter- oder Arbeitslosengeld erhalten. »Minijobs sind eine Falle und dienen oft dazu, Schwarzarbeit zu legitimieren«, stellt Guido Zeitler, Vorsitzender der Gewerkschaft Nahrung-Genuss-Gaststätten (NGG), fest. Tatsächlich führen Minijobs nur selten zu einer sozialversicherungspflichtigen Beschäftigung. Die meisten der 7,3 Millionen Minijobber:innen (Stand: Mitte 2021) verbleiben im Niedriglohnsektor und arbeiten weiterhin unterhalb ihres Qualifikationsniveaus. Und sie verdrängen zunehmend sozialversicherungspflichtige Beschäftigung in Kleinbetrieben. Zu diesem Ergebnis kommt eine Studie des Nürnberger Instituts für Arbeitsmarkt- und Berufsforschung (IAB). In Betrieben der Größenordnung von bis zu zehn Beschäftigten seien davon 500.000 Beschäftigungsverhältnisse betroffen.

Dass SPD, Grüne und FDP Abweichungen vom Arbeitszeitgesetz ermöglichen wollen, stößt auf Widerspruch der Gewerkschaften. »Um auf die Veränderungen in der Arbeitswelt zu reagieren und die Wünsche von Arbeitnehmerinnen, Arbeitnehmern und Unternehmen nach einer flexibleren Arbeitszeitgestaltung aufzugreifen, wollen wir Gewerkschaften und Arbeitgeber dabei unterstützen, flexible Arbeitszeitmodelle zu ermöglichen. [...] Außerdem wollen wir eine begrenzte Möglichkeit zur Abweichung von den derzeit bestehenden Regelungen des Arbeitszeitgesetzes hinsichtlich der Tageshöchstarbeitszeit schaffen, wenn Tarifverträge oder Betriebsvereinbarungen dies vorsehen (Experimentierräume)«, lautet der Verhandlungsstand der Neukoalitionäre. Damit hat die FDP, die das Thema »Lockerung des Arbeitszeitgesetzes« seit Jahren vorantreibt, eine weitere Breche für die Arbeitgeber geschlagen.

Demgegenüber deuten sich windelweiche Regelungen in sozialen Existenzfragen an. So soll statt »Hartz IV« ein »Bürgergeld« eingeführt werden, das »die Würde des und der Einzelnen achten, zur gesellschaftlichen Teilhabe befähigen sowie digital und unkompliziert zugänglich sein« soll. Das ist wolkig formuliert, doch offenkundig wenig belastbar. So heißt es laut bisherigem Verhandlungsstand weiterhin, dass lediglich »geprüft« werden soll, welche »Regelungen zu Schonvermögen und zur Überprüfung der Wohnungsgröße«, wie sie in der Corona-Krise eingeführt wurden, fortgesetzt werden sollten. Vom Ziel einer sozialen Grundsicherung, die armutsfest, bedarfsdeckend und repressionsfrei ausgestaltet wird, ist das meilenweit entfernt.

Für die Rentenversicherung sind die Eckpunkte präziser benannt: Einfrieren des Mindestrentenniveau von 48%, keine Anhebung des gesetzlichen Renteneintrittsalters. Damit wird die Forderung von Gewerkschaften und Sozialverbänden nach einer armutsfesten Erhöhung des Rentenniveaus abgeräumt. Die gelbe Pünktchen-Partei setzte den Einstieg in eine teilweise Kapitaldeckung der umlagefinanzierten Gesetzlichen Rentenversicherung (GRV), sprich »Aktienrente«, durch. Die BlackRock & Co-Lobbyisten lassen grüßen. »Mehr Kapitaldeckung in der Alterssicherung ist die falsche Richtung«, sagt das geschäftsführende IG Metall-Vorstandsmitglied Hans-Jürgen Urban. »Das führt nicht nur zu einseitiger Mehrbelastung der Beschäftigten, sondern auch zu mehr Risiko und weniger Sicherheit und Verlässlichkeit in der Altersvorsorge.«

Gewerkschaften und zivilgesellschaftliche Aktivist:innen müssen den politischen Druck erhöhen. Gerade mittelfristig. Kurzfristig mag es gelingen, politische Spannungen beim Anlauf der Ampel zu minimieren, nachdem der Arbeitskreis Steuerschätzung beim Bundesfinanzministerium Steuermehreinnahmen im oberen einstelligen Milliardenbereich beim Bund errechnet hat.

Doch ab 2023 wollen die Koalitionäre der Schuldenbremse wieder Geltung verschaffen. Dann wird es eng für öffentliche Ausgaben – sei es für investive oder Sozialausgaben. Es gilt den Schulterschluss zwischen den um ihre Arbeitsplätze kämpfenden Belegschaften, ihren Gewerkschaften, den Sozialverbänden und Klimaaktivist:innen heute zu festigen, damit er auch übermorgen politisch wirksam werden kann.

Anmerkung

[1] Der IG Metall-Aktionstag war Teil einer zweiwöchigen »Europäischen Aktion für einen gerechten Strukturwandel« des Dachverbandes der europäischen Industriegewerkschaften (IndustryAll Europe). Unter dem Motto »Just Transition« beteiligen sich Mitgliedsorganisationen auf dem ganzen Kontinent.

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